Entscheidungsstichwort (Thema)
Nahauslösung bei Betriebsratstätigkeit
Orientierungssatz
1. Zum Arbeitsentgelt im Sinn des § 37 Abs 2 BetrVG gehört der steuerpflichtige Teil der gemäß § 7 7.3.1 BMTV (Bundes-Tarifvertrag vom 30.04.1980 für die besonderen Arbeitsbedingungen der Montagearbeiter in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie einschließlich des Fahrleitungs-, Freileitungs-, Ortsnetz- und Kabelbaues mit Anmerkungen) pauschal, das heißt, unabhängig von der Höhe der im Einzelfall tatsächlich entstehenden Aufwendungen, zu zahlenden Nahauslösung.
2.Die Frage, welche Bezüge des Arbeitnehmers für Zeiten seiner Betriebsratstätigkeit fortzuzahlen sind, beantwortet sich allein nach § 37 Abs Abs 2 BetrVG, nicht durch Auslegung tariflicher Vorschriften.
3. Die Nahauslösung (§ 7 BMTV) ist in ihrem steuerpflichtigen Teil kein Ersatz von Mehraufwendungen. Sie steht dem Arbeitnehmer zur beliebigen Verwendung zur Verfügung und ist dem Wesen nach zusätzliches Arbeitsentgelt, das nicht wegen einer Betriebsratstätigkeit gemindert werden darf.
4. Vergleiche Senatsurteil vom 10.2.1988 - 7 AZR 36/87 - (zur Veröffentlichung bestimmt).
Normenkette
BetrVG § 37 Abs. 2, § 78 S. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger ist bei der Beklagten als Aufzugsmonteur beschäftigt. Er ist Vorsitzender des Betriebsrats in der Niederlassung der Beklagten in F und Mitglied des Gesamtbetriebsrats. Für das Arbeitsverhältnis gilt kraft Tarifbindung u.a. der Bundes-Tarifvertrag vom 30. April 1980 für die besonderen Arbeitsbedingungen der Montagearbeiter in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie einschließlich des Fahrleitungs-, Freileitungs-, Ortsnetz- und Kabelbaues mit Anmerkungen (BMTV). Die hier wesentlichen Tarifvorschriften lauten:
§ 7 BMTV:
"Nahmontage
7.1.1 Begriff
Nahmontage ist eine Montage, bei der dem Montage-
stammarbeiter die tägliche Rückkehr zum Ausgangs-
punkt zumutbar ist...
7.3. Nahauslösung
7.3.1 Die Nahauslösung ist eine Pauschalerstattung, die
den Mehraufwand bei auswärtigen Arbeiten abdecken
soll...
Dazu bestimmt Anmerkung 6:
Die Regelung über Nahauslösung trägt dem Umstand Rechnung,
daß die Beschäftigung auf einer außerbetrieblichen Ar-
beitsstelle eine längere Abwesenheit des Montagestammar-
beiters von zu Hause erfordert. Die längere Abwesenheit
bedingt Mehraufwendungen während des Erreichens der Mon-
tagestelle und auf der Montagestelle, die pauschal er-
stattet werden. Eine Vergütung für den Zeitaufwand erfolgt
nicht.
7.3.11 Soweit und solange Auslösungen zu versteuern
sind, werden sie nach Maßgabe der gesetzlichen
und tariflichen Bestimmungen wie Arbeitsentgelt
behandelt."
Bis September 1985 zahlte die Beklagte an den Kläger den steuerpflichtigen Teil der Nahauslösung in Höhe von 6,18 DM brutto sowie den steuerfreien Teil der Nahauslösung in Höhe von 5,-- DM netto auch dann, wenn er statt einer Montagetätigkeit Betriebsratstätigkeiten ausübte. Ab Oktober 1985 gewährte die Beklagte dem Kläger keine Nahauslösung mehr. In der Zeit vom 1. Oktober 1985 bis 12. Dezember 1985 war der Kläger an 38 Tagen mit Betriebsratsaufgaben beschäftigt.
Mit der Klage hat der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Nahauslösung in Höhe von 234,84 DM brutto und 180,-- DM netto begehrt. Hierzu hat er vorgetragen, die Beklagte verweigere zu Unrecht die Zahlung des steuerpflichtigen Teils der Nahauslösung in Höhe von 6,18 DM brutto je Arbeitstag, da es sich insoweit nicht um Ersatz für Aufwendungen handele, sondern dieser Teil der Nahauslösung als Arbeitsentgelt anzusehen sei. Dies ergebe sich aus § 7.3.11 BMTV, in dem für die zu versteuernden Auslösungen ausdrücklich bestimmt sei, daß sie nach Maßgabe der gesetzlichen und tariflichen Bestimmungen wie Arbeitsentgelt zu behandeln seien. Demgemäß stehe ihm für 38 Tage ein Anspruch auf Arbeitsentgelt in Höhe von 234,84 DM brutto zu. Darüber hinaus sei die Beklagte dazu verpflichtet, an ihn weitere 5,-- DM netto an steuerfreier Auslösung je Arbeitstag zu zahlen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger
234,84 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit Klage-
zustellung zu zahlen sowie die Beklagte ferner
zu verurteilen, weitere 180,-- DM netto an den
Kläger zu bezahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat im wesentlichen erwidert, dem Kläger stehe kein Anspruch auf Nahauslösung zu, da diese kein nach § 37 Abs. 2 BetrVG fortzuzahlendes Arbeitsentgelt, sondern Aufwendungsersatz sei. Dies ergebe sich aus § 7.3.1 BMTV, der ausdrücklich bestimme, daß die Nahauslösung als Pauschalerstattung den Mehraufwand bei auswärtigen Arbeiten abdecken solle. Dem stehe die Regelung des § 7.3.11 BMTV nicht entgegen, sondern damit habe seitens der Tarifvertragsparteien nur sichergestellt werden sollen, daß die zusätzlich gezahlte Auslösung steuerlich wie Arbeitsentgelt behandelt werde. Zwar könne nach dieser Regelung schnell und unproblematisch festgestellt werden, welcher Teil der Nahauslösung als Arbeitsentgelt bzw. Aufwendungsersatz anzusehen sei, doch komme es darauf nicht an. Denn der steuerliche Arbeitsentgeltbegriff sei nicht mit dem tarifrechtlichen Arbeitsentgeltbegriff identisch.
Das Arbeitsgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 234,84 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit 23. Januar 1986 verurteilt, die Klage im übrigen abgewiesen und die Berufung zugelassen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen.
Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter. Der Kläger beantragt, die Revision mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß Zinsen nur aus dem sich ergebenden Nettobetrag verlangt werden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Denn dem Kläger steht der steuerpflichtige Teil der Nahauslösung auch für die Zeiträume zu, in denen er, statt auf Nahmontage zu sein, erforderliche Betriebsratstätigkeit ausübte. Dieser Anspruch folgt, wie das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerfrei angenommen hat, aus dem Verbot des § 37 Abs. 2 BetrVG, das Arbeitsentgelt infolge der Arbeitsbefreiung des Betriebsratsmitglieds zu mindern. Zum Arbeitsentgelt im Sinne dieser Vorschrift gehört der steuerpflichtige Teil der gemäß § 7.3.1 BMTV pauschal, d.h. unabhängig von der Höhe der im Einzelfall tatsächlich entstehenden Aufwendungen, zu zahlenden Nahauslösung.
Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß sich die Frage, welche Bezüge des Arbeitnehmers für Zeiten seiner Betriebsratstätigkeit fortzuzahlen sind, nicht durch Auslegung tariflicher Vorschriften, sondern allein nach § 37 Abs. 2 BetrVG beantwortet. Denn wegen des Fehlens einer Tariföffnungsklausel in § 37 Abs. 2 BetrVG und wegen des Benachteiligungs- und Begünstigungsverbots des § 78 Satz 2 BetrVG können die Tarifvertragsparteien nicht regeln, ob bestimmte, im Tarifvertrag für den Fall der Arbeitsleistung vorgesehene Zahlungen des Arbeitgebers Arbeitsentgelt im Sinne des § 37 Abs. 2 BetrVG sind und deshalb auch während der Arbeitsfreistellung eines Betriebsratsmitglieds zu erbringen sind. Maßgeblich ist mithin, ob die hier umstrittene tarifliche Nahauslösung sich der Sache nach als echter Aufwendungsersatz darstellt. Dagegen ist es unerheblich, wie die Tarifvertragsparteien die Nahauslösung deklarieren, so daß dem Umstand, daß die Tarifvertragsparteien die Nahauslösung als Pauschalerstattung eines Mehraufwands betrachten (§ 7.3.1 BMTV mit Anm. 6) und den steuerpflichtigen Teil lediglich wie Arbeitsentgelt behandelt wissen wollen (§ 7.3.11 BMTV), im vorliegenden Falle keine unmittelbare rechtliche Bedeutung zukommt.
Ist die tarifliche Nahauslösung echter Aufwendungsersatz, dann ist sie keine Gegenleistung für arbeitsvertraglich zu erbringende Dienste und gehört damit auch nicht zum fortzuzahlenden Arbeitsentgelt im Sinne von § 37 Abs. 2 BetrVG. Die Nahauslösung ist jedoch jedenfalls in ihrem steuerpflichtigen Teil kein Ersatz von Mehraufwendungen, die dem Arbeitnehmer bei Nahmontagearbeiten zwangsläufig oder doch wenigstens gewöhnlich entstehen.
Der tarifliche Anspruch auf die Nahauslösung hängt nicht davon ab, ob und in welchem Umfange dem Montagestammarbeiter Aufwendungen, die durch die Nahauslösung abgegolten werden sollen, tatsächlich entstanden sind. Es handelt sich um eine Pauschalleistung (§ 7.3.1 BMTV). Anspruchsvoraussetzung ist allein, daß der Montagestammarbeiter auswärtige Montagearbeiten verrichtet, bei denen ihm die tägliche Rückkehr zum Ausgangspunkt zumutbar ist (§ 7.1.1 BMTV). Die Höhe der Nahauslösung richtet sich nach tariflich festgelegten Zeitzonen (§ 7.3.2 BMTV) oder Entfernungszonen (§ 7.3.5 BMTV) und nicht nach der Höhe tatsächlicher Aufwendungen.
Es kann auch nicht gesagt werden, daß Nahmontagearbeiten für den Montagestammarbeiter bei normaler Lebensführung in aller Regel Aufwendungen in Höhe der tariflichen Nahauslösung mit sich bringen. Zwar wollten die Tarifvertragsparteien - wie es in der Anmerkung 6 zu § 7.3.1 BMTV heißt - mit der Regelung über Nahauslösung dem Umstand Rechnung tragen, daß die Beschäftigung auf einer außerbetrieblichen Arbeitsstelle eine längere Abwesenheit des Montagestammarbeiters von zu Hause erfordert, die Mehraufwendungen während des Erreichens der Montagestelle und auf der Montagestelle bedinge; diese Mehraufwendungen sollen durch die Nahauslösung pauschal erstattet werden. Damit stellen die Tarifvertragsparteien jedoch auf Aufwendungen ab, die zwar entstehen können, die aber nicht tatsächlich entstehen müssen. Es kann Fälle geben, in denen die Nahauslösung zum Ersatz echter Aufwendungen dient, aber auch Fälle, in denen die Möglichkeit naheliegt, daß sie nicht für Mehraufwendungen ausgegeben, sondern zur Verbesserung des Lebensstandards verwendet wird und damit als Arbeitsentgelt zu behandeln ist (BAG Urteil vom 24. September 1986 - 4 AZR 543/85 - AP Nr. 50 zu § 1 FeiertagslohnzahlungsG; BAG Urteil vom 8. November 1962 - 1 AZR 109/62 - AP Nr. 15 zu § 2 ArbKrankhG). Das zeigt schon ein Blick auf die für die Höhe der Nahauslösung maßgeblichen tariflichen Zeitzonen (§ 7.3.2 BMTV) und Entfernungszonen (§ 7.3.5 BMTV). Danach wird Nahauslösung in der ersten Zeitzone bereits bei einem Zeitaufwand mit öffentlichen Verkehrsmitteln für Hin- und Rückweg von bis zu einer Stunde und in der ersten Entfernungszone bereits bei einer Entfernung von 0 bis 5 km zwischen dem betrieblich festgelegten Ausgangspunkt und der Montagestelle gezahlt. In diesen Fällen geht die Wegezeit nicht über das auch sonst im Arbeitsleben übliche Maß hinaus, so daß dadurch Mehraufwendungen gar nicht entstehen können (vgl. BAG Urteil vom 24. September 1986 - 4 AZR 523/85 - aaO). Aber auch bei den Zeit- und Entfernungszonen 2 bis 6 müssen durch die längere Abwesenheit von zu Hause keine Mehraufwendungen entstehen. In Frage käme hier nur Mehraufwendungen für Verpflegung. Da der Montagestammarbeiter bei der Nahmontage täglich nach Hause zurückkehrt, kann er Frühstück und Abendessen zu Hause einnehmen. Ob er seine übrige Verpflegung von zu Hause mitbringt oder ob er sie unterwegs kauft und dadurch Mehrausgaben verursacht, liegt in seinem Belieben. Er kann, ohne sich in seiner Lebensführung besonderen Einschränkungen zu unterwerfen, Mehraufwendungen wegen der längeren Abwesenheit von zu Hause vermeiden und die Nahauslösung zur Erhöhung seines Lebensstandards verwenden. Das gilt jedenfalls für den zu versteuernden Teil der Nahauslösung, über den hier allein zu befinden ist. Nahauslösungen sind als dienstlich veranlaßte Mehraufwendungen für Verpflegung bis zu arbeitstäglich 3,-- DM steuerfrei, sofern die tägliche Abwesenheit des Arbeitnehmers von seiner Wohnung über 12 Stunden hinausgeht; bei ständig wechselnden Einsatzstellen und mehr als 10stündiger Abwesenheit von der Wohnung sind arbeitstäglich 5,-- DM steuerfrei (Lohnsteuerrichtlinien Abschnitt 8 in Verbindung mit Abschnitt 22). Mit dieser Regelung wird der Erfahrungstatsache Rechnung getragen, daß ein Arbeitnehmer, der ungewöhnlich lange von seiner Wohnung abwesend ist, typischerweise auf den Bezug von Stärkungs- und Erfrischungsmitteln oder auf die Einnahme einer zusätzlichen Mahlzeit angewiesen ist und ihm dadurch Ausgaben entstehen, die er nicht haben würde, wenn er wie die Mehrzahl der Arbeitnehmer täglich früher nach Hause kommen könnte. Bei ständig wechselnden Einsatzstellen können die Arbeitnehmer sich nicht so gut wie andere Arbeitnehmer auf preisgünstigere Möglichkeiten der Essenseinnahme einstellen und haben deshalb typischerweise einen beruflich veranlaßten Mehraufwand (vgl. BFH Urteil vom 30. März 1979 - VI R 123/76 - BStBl. II 1979, 498 ff.).
Soweit die Nahauslösung über diesen steuerlich anerkannten Verpflegungsmehraufwand hinausgeht, steht die Verwendung dieser Arbeitgeberleistung im freien Belieben des Arbeitnehmers; er ist nicht wegen seiner Nahmontagetätigkeit darauf angewiesen, entsprechende Mehraufwendungen zu machen. Steht dem Arbeitnehmer aber der steuerpflichtige Teil der Nahauslösung in der genannten Weise zur beliebigen Verwendung zur Verfügung, dann ist er seinem Wesen nach zusätzliches Arbeitsentgelt, das nicht wegen einer Betriebsratstätigkeit gemindert werden darf.
Diese Beurteilung entspricht der gesetzlichen Wertung in § 2 Abs. 1 des Lohnfortzahlungsgesetzes, das ebenfalls auf dem Lohnausfallprinzip beruht. Nach dieser Vorschrift sind vom fortzuzahlenden Arbeitsentgelt Auslösungen nur ausgenommen, soweit der Anspruch auf sie im Falle der Arbeitsfähigkeit davon abhängig ist, ob und in welchem Umfange dem Arbeiter Aufwendungen, die durch diese Leistungen abgegolten werden sollen, tatsächlich entstanden sind. Alle anderen Auslösungen werden dem Arbeitsentgelt zugerechnet.
Die Klarstellung, daß sich der Zinsanspruch nur auf die sich ergebenden Nettobeträge bezieht, beruht auf § 308 ZPO. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Herr Dr. Seidensticker ist Schliemann Dr. Steckhan
durch Urlaub verhindert.
Dr. Steckhan
Nehring Bea
Fundstellen