Entscheidungsstichwort (Thema)
Entgeltfortzahlung bei Unfall nach Alkoholmißbrauch
Leitsatz (amtlich)
Beruht ein zur Arbeitsunfähigkeit führender Unfall des Arbeitnehmers allein auf Alkoholmißbrauch (Zustand der Trunkenheit), so liegt ein den Lohnfortzahlungsanspruch ausschließendes Verschulden des Arbeitnehmers vor.
Verfahrensgang
LAG Berlin (Entscheidung vom 01.10.1985; Aktenzeichen 11 Sa 57/85) |
ArbG Berlin (Entscheidung vom 18.04.1985; Aktenzeichen 38 Ca 10/85) |
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin aus übergegangenem Recht (§ 115 SGB X) Lohnfortzahlung schuldet.
Die bei der Klägerin gegen Krankheit pflichtversicherte Frau E Sch ist bei der Beklagten seit dem 13. Mai 1977 als Wäschereiarbeiterin beschäftigt. Am Sonnabend, dem 30. Juli 1984, hielt sich die Versicherte zusammen mit ihrem Lebensgefährten in einer Gaststätte auf. Dort stürzte sie, nachdem sie mehrere Gläser Bier und Schnaps getrunken hatte, gegen 19.15 Uhr bei dem Versuch aufzustehen über einen Stuhl und verletzte sich dadurch. Zuvor war sie von ihrem Lebensgefährten erfolglos aufgefordert worden, mit dem Trinken aufzuhören und mit ihm nach Hause zu gehen. Wegen der Verletzungen war die Versicherte vom 3. August bis zum 13. September 1984 arbeitsunfähig krank. Da die Beklagte für diese Zeit die Lohnfortzahlung verweigerte, gewährte die Klägerin ihr Krankengeld in Höhe von insgesamt 1.577,68 DM. Wegen dieses Betrages nimmt die Klägerin die Beklagte in Anspruch.
Die Klägerin hat geltend gemacht, die Beklagte sei für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit der Versicherten zur Lohnfortzahlung verpflichtet. Die Versicherte habe zum Zeitpunkt des Unfalls zwar unter Alkoholeinfluß gestanden, sie habe sich aber nicht grob fahrlässig verhalten. Es stehe weiter nicht fest, daß der Sturz allein auf den Alkoholgenuß zurückzuführen sei. Auch in nüchternem Zustand könne man beim Stoßen an ein übersehenes Hindernis stolpern und fallen.
Die Klägerin hat daher beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.577,68 DM nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, zur Lohnfortzahlung nicht verpflichtet zu sein, und vorgetragen: Die Versicherte sei zum Unfallzeitpunkt in starkem Maße betrunken gewesen. Schon um 18.00 Uhr hätten Zeugen sie für betrunken gehalten. Sie habe ein stark gerötetes Gesicht gehabt und kaum mehr reden können, sondern nur noch gelallt. In der Zeit zwischen 18.00 Uhr und 19.15 Uhr habe sie mehr als zehn Gläser Weinbrand und fünf Gläser Bier getrunken. Nach ihrem Sturz sei sie am Boden liegen geblieben und habe wegen ihrer Trunkenheit nicht mehr allein aufstehen können. Sie habe von Dritten aufgehoben und auf den Stuhl gesetzt werden müssen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen. Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin, die die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils erstrebt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Der Versicherten stand für die Zeit vom 3. August bis zum 13. September 1984 ein Anspruch auf Lohnfortzahlung gegen die Beklagte nicht zu, so daß ein solcher Anspruch auch nicht in Höhe der Krankengeldzahlung nach § 115 SGB X auf die Klägerin übergehen konnte.
I.
1. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 LohnFG behält der Arbeiter den Anspruch auf Arbeitsentgelt bis zur jeweiligen Dauer von sechs Wochen, wenn er seine Arbeitsleistung infolge unverschuldeter Krankheit nicht erbringen kann. Entsprechendes gilt für Angestellte, die Anspruch auf Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall nach § 616 Abs. 1 Satz 1 BGB, § 63 Abs. 1 Satz 1 HGB oder § 133 c Satz 1 GewO haben. „Schuldhaft” im Sinne dieser Entgeltfortzahlungsbestimmungen handelt der Arbeitnehmer, der gröblich gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhalten verstößt. Das Gesetz schließt den Anspruch bei eigenem Verschulden des Arbeitnehmers aus, weil es unbillig wäre, den Arbeitgeber mit der Verpflichtung zur Entgeltfortzahlung zu belasten, wenn der Arbeitnehmer zumutbare Sorgfalt sich selbst gegenüber außer acht gelassen und dadurch seine Arbeitsunfähigkeit verursacht hat (st. Rspr. des BAG, vgl. statt vieler BAGE 36, 376, 378 = AP Nr. 46 zu § 1 LohnFG, zu 1 der Gründe, m. w. N.; vgl. weiter Zöllner, Arbeitsrecht, 3. Aufl., § 18 II 2 e).
Beruht die Arbeitsunfähigkeit auf einem Unfall, der durch Alkoholmißbrauch herbeigeführt worden ist, ohne daß eine andere Ursache dabei mitgewirkt hat, so ist ein den Lohnfortzahlungsanspruch beseitigendes Verschulden des Arbeitnehmers zu bejahen (allgemeine Ansicht; vgl. Kaiser/Dunkl, Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle, 2. Aufl., I. Teil, § 1 Rz 136; Kehrmann/Pelikan, Lohnfortzahlungsgesetz, 2. Aufl., § 1 Rz 52; Feichtinger, Krankheit im Arbeitsverhältnis, S. 51; Schmatz/Fischwasser, Vergütung der Arbeitnehmer bei Krankheit und Mutterschaft, 6. Aufl., C 130; Brecht, Lohnfortzahlung für Arbeiter, 3. Aufl., § 1 Rz 37; Hessel/Marienhagen, Krankheit im Arbeitsrecht, 4. Aufl., S. 35; Marburger, RdA 1977, 295, 297 sowie DB 1980, 399, 400; alle mit weiteren Nachweisen, auch aus der Rechtsprechung der Instanzgerichte).
Der Verschuldensvorwurf besteht in derartigen Fällen darin, nicht rechtzeitig mit dem Trinken aufgehört, sondern durch weiteren Alkoholkonsum sich in einen Zustand versetzt zu haben, in dem ein kontrolliertes und sicheres Verhalten nicht mehr gewährleistet ist. Die Gefahren des Alkohols sind heute jedem Erwachsenen bekannt. So weiß auch jeder Arbeitnehmer, daß übermäßiger Alkoholgenuß die Fähigkeit, richtig zu reagieren, stark herabsetzt und daß dadurch die Gefahr von Unfällen erheblich vergrößert wird. Wann bei Alkoholgenuß die Grenze zum Mißbrauch überschritten ist, ergibt sich aus den Umständen des Einzelfalles und unterliegt der tatrichterlichen Würdigung. Ebenso ist es Aufgabe der Tatsacheninstanz festzustellen, ob Alkoholmißbrauch die entscheidende Ursache des zur Arbeitsunfähigkeit führenden Unfalls gewesen ist. Das alles hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt und bei der Rechtsanwendung beachtet.
2. Das Landesarbeitsgericht hat aufgrund eigener Beweisaufnahme festgestellt, die Versicherte habe am 30. Juli 1984 im Zeitpunkt ihres Unfalls einen so hochgradigen Trunkenheitszustand erreicht, daß ihre körperliche und geistige Reaktionsfähigkeit erheblich herabgesetzt und dadurch die Unfallgefahr wesentlich erhöht gewesen sei. Die Versicherte hat nach näherer Feststellung des Landesarbeitsgerichts so viel und so schnell getrunken, daß sie zuletzt nicht mehr richtig stehen und gehen konnte und sogar vor dem schließlich zur Arbeitsunfähigkeit führenden Sturz über den Stuhl bereits zweimal gefallen war. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Versicherte habe sich in einem Zustand der Volltrunkenheit befunden. Seine Schlußfolgerung, der Sturz der Versicherten sei eine unmittelbare Folge ihrer Trunkenheit gewesen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Ein anderer Grund für den Unfall ist nicht ersichtlich und von der Klägerin auch nicht dargelegt worden. Danach war Alkoholmißbrauch die Ursache des Unfalls und der Arbeitsunfähigkeit.
II.
Das Landesarbeitsgericht ist dem Beweisangebot der Klägerin in der Berufungsverhandlung vom 1. Oktober 1985 zu Recht nicht nachgegangen. Nach Abschluß der Beweisaufnahme hat die Klägerin sich für die Behauptung, die Darstellung der Beklagten und die Aussagen der Zeugen über die Menge des Alkoholverzehrs und über den Zustand der Versicherten am 30. Juli 1984 seien unzutreffend, auf das Zeugnis der Versicherten selbst und des Herrn Z berufen. Dieser Beweisantrag war verspätet. Die Beklagte hat bereits in der ersten Instanz und zuletzt in der Berufungsbegründung, im einzelnen und unter Beweisantritt vorgetragen, wie es zu dem Unfall der Versicherten gekommen ist. Wenn die Klägerin Gegenzeugen benennen wollte, mußte dies gemäß § 67 Abs. 2 Satz 1 ArbGG spätestens in der Berufungserwiderung geschehen. Denn die Klägerin konnte sich nicht darauf verlassen, daß das Berufungsgericht die Rechtslage in gleicher Weise wie das Arbeitsgericht beurteilen und von einer Beweisaufnahme absehen würde. Vielmehr mußte sie mit einer Beweisaufnahme rechnen und sich auch ihrerseits – durch rechtzeitigen Beweisantritt – darauf einstellen. Wäre das Landesarbeitsgericht dem Beweisangebot der Klägerin nachgegangen, hätte dies zu einem neuen Termin geführt und die Erledigung des Rechtsstreits verzögert, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat.
III.
Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht die Grundsätze des Senats im Urteil vom 1. Juni 1983 - 5 AZR 536/80 - (BAGE 43, 54 = AP Nr. 52 zu § 1 LohnFG) nicht auf den Streitfall angewandt. Es ist nicht festgestellt worden, daß die Versicherte alkoholsüchtig im Sinne einer körperlichen oder psychischen Abhängigkeit ist. Daher bestand kein Anlaß, die Überlegungen des Senats aus dem erwähnten Urteil auf den Streitfall anzuwenden.
Unterschriften
Dr. Gehring, Dr. Olderog, Schneider, Werner, Dr. Hirt
Fundstellen
Haufe-Index 60104 |
BB 1987, 1389 |
DB 1987, 1495-1495 (LT) |
NJW 1987, 2253 |
NJW 1987, 2253-2253 (LT) |
ARST 1987, 167-167 (LT) |
JR 1987, 440 |
NZA 1987, 452-453 (LT) |
RdA 1987, 255 |
AP, Nr 71 zu § 1 LohnFG (LT) |
EzA, § 1 LohnFG Nr 86 (LT) |
EzBAT, Verschulden Nr 12 (LT) |
VR 1988, 115-115 |