Entscheidungsstichwort (Thema)
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80 % oder 100 %
Leitsatz (amtlich)
1. Nach § 4 Nr. 2 des Rahmentarifvertrages für die technischen und kaufmännischen Angestellten sowie nach § 5 Nr. 2.1 Abs. 1 des Rahmentarifvertrages für die Poliere des Baugewerbes i.d.F. vom 19. Mai 1992 hat der Angestellte sowie der Polier bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit einen Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts in Höhe von 100 %.
2. Eine Tarifregelung über Zuschüsse zum Krankengeld ab der siebten Krankheitswoche spricht bei wort- oder inhaltsgleicher Übernahme der einschlägigen gesetzlichen Regelungen für eine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung.
Normenkette
EFZG § 4 Abs. 1 S. 1 n.F.; Rahmentarifvertrag für die technischen und kaufmännischen Angestellten Baugewerbes vom 12. Juni 1978 i.d.F. vom 19. Mai 1992 § 4 Nr. 2.1 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 2. September 1997 - 8 Sa 881/97 - aufgehoben.
2. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Oberhausen vom 23. April 1997 - 4 Ca 158/97 - abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 573,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag seit dem 23. Dezember 1996 zu zahlen.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Höhe der Entgeltfortzahlung für die Dauer eines Kuraufenthalts des Klägers.
Der Kläger ist bei der Beklagten als Angestellter beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fand bis 1997 kraft beiderseitiger Tarifbindung der Rahmentarifvertrag für die technischen und kaufmännischen Angestellten des Baugewerbes vom 12. Juni 1978 i. d. F. vom 19. Mai 1992 (RTV) Anwendung. In diesem Tarifvertrag heißt es unter anderem:
"§ 4 Arbeitsversäumnis und Arbeitsausfall
...
2. Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfalle
2.1. Ist ein Angestellter infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert (Arbeitsunfähigkeit), ohne daß ihn ein Verschulden trifft, so hat er gegen seinen Arbeitgeber einen Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts bis zur Dauer von sechs Wochen.
Nach dreijähriger ununterbrochener Betriebszugehörigkeit erhalten Angestellte, wenn sie infolge Krankheit an der Arbeitsleistung verhindert sind (Arbeitsunfähigkeit), von der 7. Woche an einen Zuschuß vom Arbeitgeber bis zur Dauer von sechs Wochen. Der Zuschuß wird in Höhe des Betrages gewährt, der sich als Unterschied zwischen dem Nettogehalt und den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung oder Unfallversicherung ergibt. Ist der Angestellte nicht in einer gesetzlichen Krankenkasse versichert, so ist das Krankengeld oder Hausgeld der Berechnung zu Grunde zu legen, das er als Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung in der höchsten Stufe erhalten würde.
Nach siebenjähriger ununterbrochener Betriebszugehörigkeit wird der Zuschuß nach Abs. 2 bis zur Dauer von acht Wochen und nach zehnjähriger ununterbrochener Betriebszugehörigkeit bis zur Dauer von zwölf Wochen gewährt.
...
3. Gehaltsfortzahlung bei Kur- und Heilverfahren
Bei Arbeitsverhinderung infolge eines Kur- oder Heilverfahrens hat auch der arbeitsfähige Angestellte Anspruch auf Gehaltsfortzahlung nach Nr. 2.1 Abs. 1, der arbeitsunfähige Angestellte auch Anspruch auf den Zuschuß nach Nr. 2.1 Abs. 2 und 3.
..."
Vom 15. Oktober bis zum 12. November 1996 befand sich der Kläger in Kur. Die Beklagte zahlte unter Berufung auf die seit 1. Oktober 1996 geltende Neufassung des Entgeltfortzahlungsgesetzes nur 80 % des Gehaltes fort. Der Kläger verlangt den Differenzbetrag zu 100 % in rechnerisch unstreitiger Höhe.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, § 4 Nr. 2.1 Abs. 1 i.V.m. § 4 Nr. 3 RTV begründe einen Anspruch auf 100 %ige Fortzahlung des Gehalts für die Dauer seiner Kur. Es handele sich um eine eigenständige Regelung. Dies ergebe sich aus den Absätzen 2 und 3 Nr. 2.1 RTV, wonach der Angestellte ab der siebten Woche der Arbeitsunfähigkeit einen Anspruch auf Zuschuß zum Krankengeld habe. Es sei ein widersinniges Ergebnis, wenn die Angestellten für die ersten sechs Wochen 80 % Entgeltfortzahlung erhielten und ab der siebten Woche Leistungen in Höhe von insgesamt 100 % des Arbeitsentgelts. Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 573,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag seit dem 23. Dezember 1996 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der RTV enthalte keine eigenständige Bestimmung über die Höhe des fortzuzahlenden Gehalts mit der Folge, daß der Kläger gemäß § 3 Abs. 1 i. V. m. § 4 Abs. 1 EFZG n. F. lediglich einen Anspruch auf Fortzahlung von 80 % seines Gehalts habe. § 4 Ziff. 2.1 Abs. 1 RTV sei allein der Übersichtlichkeit und Vollständigkeit halber in den Tarifvertrag aufgenommen worden. Für eine rein deklaratorische Regelung spreche ferner, daß ein Regelungsbedürfnis hinsichtlich der Entgeltfortzahlung nicht bestanden habe.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Der Kläger hat für die Dauer seines Kuraufenthalts Anspruch auf Zahlung weiterer 573,00 DM brutto nach § 4 Nr. 3 Satz 1 RTV i.V.m. § 4 Nr. 2.1 Abs. 1 RTV. Diese Bestimmung enthält entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts eine eigenständige (konstitutive) Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung.
I. Vor dem Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes (1. Juni 1994 - Art. 68 Abs. 4 PflegeVG vom 26. Mai 1994 - BGBl. I 1014, 1070) gab es für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle für Arbeiter und Angestellte unterschiedliche Rechtsgrundlagen. Für Arbeiter galt das "Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz)" vom 27. Juli 1969, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 1988. Die hier interessierenden Vorschriften lauteten wie folgt:
§ 1 Grundsatz der Entgeltfortzahlung
Wird ein Arbeiter nach Beginn der Beschäftigung durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, ohne daß ihn ein Verschulden trifft, so verliert er dadurch nicht den Anspruch auf Arbeitsentgelt für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen. ...
§ 2 Höhe des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts
(1) Für den in § 1 Abs. 1 bezeichneten Zeitraum ist dem Arbeiter das ihm bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehende Arbeitsentgelt fortzuzahlen. ...
(3) Von den Absätzen (1) ... kann durch Tarifvertrag abgewichen werden. ...
Angestellte hatten nach § 616 Abs. 2 BGB, § 63 HGB und § 133 c GewO Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Die für Angestellte geltenden Bestimmungen enthielten keine Tariföffnungsklausel, die es erlaubten, die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts abweichend von den gesetzlichen Vorschriften zu regeln (vgl. BAGE 54, 308, 310 ff. = AP Nr. 1 zu § 20 a AVR Diakonisches Werk).
Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994, in Kraft getreten am 1. Juni 1994, wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I 1996, 1476, 1477) wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabgesetzt. Sie beträgt nunmehr nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG n. F. nur noch "80 vom Hundert des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts". Nach § 4 Abs. 4 EFZG kann durch Tarifvertrag eine vom Gesetz "abweichende Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts festgelegt werden". Nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer können die Anwendung der tariflichen Regeln vereinbaren.
Bestehende tarifliche Regelungen sind durch die gesetzliche Neuregelung nicht aufgehoben worden. Der Gesetzgeber wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (BT-Drucks. 13/4612, B 1; Buchner, NZA 1996, 1177, 1179 f.).
II. Nach § 4 Nr. 2.1 Abs. 1 RTV hat der infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhinderte Angestellte gegen seinen Arbeitgeber "einen Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts bis zur Dauer von sechs Wochen". Damit haben die Tarifvertragsparteien keine von den damaligen gesetzlichen Bestimmungen (§ 133 c GewO, § 63 HGB, § 616 Abs. 2 BGB) abweichende Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung getroffen. Gesetzesgleiche Tarifbestimmungen sind zulässig (vgl. BAG Urteil vom 23. April 1957 - 1 AZR 477/56 - AP Nr. 1 zu § 1 TVG; Buchner, NZA 1996, 1177, 1182; Rieble, RdA 1997, 134, 135 f., 140).
III. Die Auslegung des Tarifvertrages ergibt, daß die Tarifvertragsparteien eine selbständige, das heißt in ihrer normativen Wirkung von der gesetzlichen Norm unabhängige Regelung getroffen haben.
1. Im vorliegenden Zusammenhang finden die Grundsätze für die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen Anwendung.
a) Hier geht es darum, ob eine Tarifbestimmung normativ ist, das heißt eine eigenständige - konstitutive - Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall enthält, oder aber nur einen Hinweis auf die geltenden Vorschriften. Damit geht es nicht um die Auslegung des schuldrechtlichen Teils von Tarifverträgen, sondern ebenso wie bei der Auslegung von unstrittig normativen Tarifvertragsbestimmungen darum, wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer den Tarifvertrag zu verstehen haben. Daher sind hier die Grundsätze für die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen heranzuziehen.
b) Diese folgen den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lassen sich auch so zuverlässige Auslegungsergebnisse nicht gewinnen, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge auf weitere Kriterien wie die Tarifgeschichte, die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages und die praktische Tarifübung zurückgreifen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG Urteil vom 25. Oktober 1995 - 4 AZR 478/94 - AP Nr. 57 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; BAGE 42, 86; 46, 308, 313, 316 = AP Nr. 128, 135 zu § 1 TVG Auslegung).
2. Das Bundesarbeitsgericht ist bei der Auslegung von Tarifbestimmungen, die gesetzliche Regelungen wortgleich oder inhaltsgleich übernehmen oder auf sie verweisen, zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangt.
a) In zwei Urteilen aus dem Jahre 1957 (Urteil vom 5. März 1957 - 1 AZR 420/56 - AP Nr. 1 zu § 1 TVG Rückwirkung; Urteil vom 23. April 1957 - 1 AZR 477/56 - AP Nr. 1 zu § 1 TVG) hat es im Hinblick auf Urlaubstarifverträge, die mit Landesurlaubsgesetzen übereinstimmen, das Vorliegen einer eigenständigen tariflichen Regelung bejaht, und zwar mit der Begründung, die Tarifvertragsparteien hätten mit der wörtlichen Übernahme wesentlicher Teile aus dem Landesurlaubsgesetz in ihre Urlaubsregelung mehr getan, als ihre Mitglieder auf das Gesetz zu verweisen. Sie hätten vielmehr das, was das Landesurlaubsgesetz vorgeschrieben habe, für ihre Tarifunterworfenen vereinbart. Dagegen hat der Senat in einem Urteil aus dem Jahre 1964 (Urteil vom 12. November 1964 - 5 AZR 507/63 - AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG 1961) eine Bestimmung eines Urlaubstarifvertrages, wonach "Schwerbeschädigte i.S. der §§ 1, 2 SchwBeschG ... einen zusätzlichen Urlaub von sechs Werktagen gemäß § 33 des Gesetzes" erhalten, als bloße Klarstellung angesehen und dazu ausgeführt, einer Übernahme oder Verweisung auf eine gesetzliche Regelung in einem Tarifvertrag komme üblicherweise nur der Charakter einer sogenannten neutralen Regelung zu, die keine eigenständige tarifliche Bedeutung habe. Es könne nicht angenommen werden, die frühere - den Arbeitnehmern günstigere - gesetzliche Regelung habe damit gleichsam zementiert werden sollen; dies widerspreche auch der vielfachen Tarifpraxis.
b) In ihrer Rechtsprechung zur tariflichen Übernahme gesetzlicher Kündigungsfristen haben der Zweite und der Siebte Senat des Bundesarbeitsgerichts durchgehend das Vorliegen einer nur deklaratorischen Regelung angenommen und dazu den folgenden Auslegungsgrundsatz entwickelt: "Werden einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert in einen umfangreichen Tarifvertrag aufgenommen, so handelt es sich um deklaratorische Klauseln, wenn der Wille der Tarifvertragsparteien zu einer gesetzesunabhängigen eigenständigen Tarifregelung im Tarifvertrag keinen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat" (BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 74, 167; 81, 76 = AP Nr. 42, 48 zu § 622 BGB; Urteil vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 201/95 - AP Nr. 50 zu § 622 BGB; Urteil vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; Urteil vom 29. Januar 1997 - 2 AZR 370/96 - NZA 1997, 726; zuletzt Urteil vom 6. November 1997 - 2 AZR 707/96 - juris).
Zur Begründung heißt es: Der Wille zur Schaffung einer eigenständigen Regelung habe regelmäßig dann einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden, "wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde". Für einen rein deklaratorischen Charakter der Übernahme spreche hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert übernommen würden. In einem derartigen Fall sei bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien bei der Übernahme des Gesetzestextes darum gegangen sei, im Tarifvertrag eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden. Sie hätten dann die unveränderte gesetzliche Regelung im Interesse der Klarheit und Übersichtlichkeit deklaratorisch in den Tarifverträge aufgenommen, um die Tarifgebundenen möglichst umfassend über die zu beachtenden Rechtsvorschriften zu unterrichten.
Nach dieser Rechtsprechung können die tariflichen Regelungen zu den Kündigungsfristen teils konstitutiv, teils deklaratorisch sein (BAG Urteil vom 14. Februar 1996, aaO).
3. Die in der Literatur vorherrschende Auffassung geht demgegenüber dahin, daß im Zweifel eine eigenständige Regelung gewollt ist, die von Bestand und Inhalt der gesetzlichen Arbeitsbedingungen unabhängig ist (vgl. Wiedemann, Anm. zu BAG AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; Bengelsdorf, Anm. zu BAG AP Nr. 48 zu § 622 BGB; K. Gamillscheg, SAE 1996, 274, 277 ff.; Creutzfeldt, AuA 1995, 87 ff.; Löwisch/ Rieble, TVG, § 1 Rz 419; Däubler, Tarifvertragsrecht, 3. Auflage 1993, Seite 214, Rz 386; Rieble, RdA 1997, 134; Giesen, RdA 1997, 193, 203 f.; Wedde, AuR 1996, 421; Boerner, ZTR 1996, 435; Ahrens, NZA 1997, 301; dem Zweiten und Siebten Senat zustimmend dagegen Hromadka, BB 1993, 2372, 2375; Hergenröder, Anm. zu AP Nr. 40 zu § 622 BGB; Jansen, Anm. zu AP Nr. 42 zu § 622 BGB; Bauer/ Lingemann, BB 1996, Beilage 17, Seite 8, 16).
Für beurkundete Rechtsgeschäfte gelte die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit. Daraus sei nicht nur zu folgern, daß Abreden außerhalb der Urkunde nicht gelten sollten. Die Vermutung der Vollständigkeit bedeute auch positiv, daß alle beurkundeten Abreden vom Vertragswillen der Parteien umfaßt seien, also "gelten sollen". Gesetz und Tarifvertrag unterschieden sich auch in ihrer Wirkung (vgl. § 4 Abs. 4 TVG). Schließlich werde die Rechtsprechung des Zweiten Senats dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit nicht gerecht. Ein für sich genommen eindeutiger Tarifwortlaut werde erst durch den Wort- und Inhaltsvergleich mit den gesetzlichen Regelungen mehrdeutig.
4. Hinsichtlich tariflicher Verweisungen auf gesetzliche Vorschriften gilt nach der Rechtsprechung des Zweiten und Siebten Senats des Bundesarbeitsgerichts dieselbe Auslegungsregel wie bei der wörtlichen oder inhaltlichen unveränderten Aufnahme einschlägiger gesetzlicher Vorschriften in ein Tarifwerk. Danach sind auch Verweisungen im Zweifel deklaratorisch, wenn nicht der Wille zur Schaffung einer eigenständigen Norm im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat (BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; Urteile vom 28. Januar 1988 - 2 AZR 296/87 - und vom 4. März 1993 - 2 AZR 355/92 - AP Nr. 24, 40 zu § 622 BGB; vgl. auch BAG Urteil vom 12. November 1964 - 5 AZR 507/63 - AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG 1961).
Die Literatur stimmt dem - anders als für den Fall der wörtlichen oder inhaltsgleichen Übernahme gesetzlicher Bestimmungen in Tarifverträgen - überwiegend zu (Rieble, RdA 1997, 134; Buchner, NZA 1996, 1177, 1182). Allerdings wird teilweise darauf hingewiesen, daß bei Verweisungen kaum jemals ein Regelungswille der Tarifvertragsparteien vorhanden sei (Kamanabrou, RdA 1997, 22, 27; Giesen, RdA 1997, 193, 201, Fußnote 93; ähnlich K. Gamillscheg, Anm. zu BAG SAE 1996, 274, 278; Bengelsdorf, Anm. zu BAG AP Nr. 48 zu § 622 BGB; Wiedemann, Anm. zu BAG AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung). Eine Mindermeinung hält dagegen (auch) tarifliche Verweisungen auf gesetzliche Bestimmungen im Zweifel für konstitutiv und statisch (Stein, AuR 1998, 1, 11; Däubler, Tarifvertragsrecht, 3. Auflage 1993, Rz 386; Wedde, AuR 1996, 421; Boerner, ZTR 1996, 435, 438).
5. Der Rechtsprechung des Zweiten und Siebten Senats zur Übernahme einschlägiger gesetzlicher Vorschriften in Tarifverträge ist insoweit zu folgen, als sie nicht zwischen wortgleicher und inhaltsgleicher Übernahme gesetzlicher Bestimmungen unterscheidet. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, kann es nicht entscheidend darauf ankommen, daß nach den damaligen gesetzlichen Bestimmungen der bestehende Entgeltanspruch des Angestellten trotz Arbeitsverhinderung aufrecht erhalten blieb, das heißt, die Anwendbarkeit des § 323 BGB ausgeschlossen wurde, die tariflichen Bestimmungen dagegen (positiv) einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung begründeten. Wesentlich ist, daß sowohl nach dem Gesetz wie nach dem Tarifvertrag das Gehalt fortzuzahlen war. Die dogmatischen Unterschiede zwischen einer anspruchsbegründeten Norm einerseits und dem gesetzlichen Ausschluß von Einwendungen andererseits hatten für die Tarifvertragsparteien keine Bedeutung.
6. Ob an der Rechtsprechung des Zweiten und Siebten Senats auch im übrigen festzuhalten ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn auch bei Anwendung der dargestellten Auslegungsgrundsätze erweist sich § 4 Nr. 2.1 Abs. 1 RTV als eigenständige Regelung.
a) Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts verlangt, daß der Wille zur Schaffung einer von der gesetzlichen Norm unabhängigen eigenständigen Regelung im Tarifvertrag "einen hinreichend erkennbaren Ausdruck" gefunden hat. Das sei z. B. bei Formulierungen, wonach die Tarifbestimmung "unabhängig von der gesetzlichen Regelung" oder "auch bei Änderung der gesetzlichen Regelung" gelte, der Fall. Der Wille zur Schaffung einer eigenständigen Regelung kann sich aber gerade bei wort- oder inhaltsgleicher Übernahme gesetzlicher Bestimmungen nicht nur aus derartigen Formulierungen, sondern auch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang ergeben.
Zumindest für den Bereich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist zu unterscheiden zwischen der wortgleichen oder inhaltsgleichen Übernahme einschlägiger gesetzlicher Vorschriften einerseits und Tarifbestimmungen, die nur auf die gesetzlichen Vorschriften oder das Lohnfortzahlungsgesetz bzw. das Entgeltfortzahlungsgesetz verweisen, andererseits. Da die Tarifvertragsparteien mit allgemeinen oder umfassenden Verweisungen auf ohnehin anwendbare gesetzliche Vorschriften typischerweise ihren fehlenden Regelungswillen zum Ausdruck bringen, bedarf es in solchen Fällen besonders deutlicher Anhaltspunkte dafür, daß gleichwohl ein solcher Wille bestand. Anders verhält es sich bei wortgleicher oder inhaltsgleicher Übernahme einschlägiger gesetzlicher Vorschriften eines Tarifvertrages ohne Nennung des Gesetzes. Zwar bedarf es nach Auffassung des Zweiten und Siebten Senats auch hier zusätzlicher Anhaltspunkte, um auf den Willen der Tarifvertragsparteien zur Schaffung einer gesetzesunabhängigen Regelung schließen zu können. Da aber in derartigen Fällen nicht schon der Wortlaut des Tarifvertrages gegen das Bestehen eines Regelungswillens spricht, sind insoweit weniger strenge Anforderungen an dessen Vorliegen zu stellen.
Diese Unterschiede zeigen sich insbesondere bei der Frage, welche Bedeutung das Vorhandensein einer eigenständigen Tarifregelung über die Zahlung von Zuschüssen zum Krankengeld ab der siebten Woche für die Auslegung hat. Der Senat sieht in einer solchen Regelung bei der wortgleichen oder inhaltsgleichen Übernahme gesetzlicher Bestimmungen in den Tarifvertrag - anders als bei bloßen Verweisungen - ein deutliches Anzeichen dafür, daß der Tarifvertrag die Höhe der Entgeltfortzahlung eigenständig regelt.
b) Für den hier einschlägigen Rahmentarifvertrag für die technischen und kaufmännischen Angestellten des Baugewerbes ergibt sich das aus folgenden Erwägungen:
Absatz 1 des § 4 Nr. 2.1 RTV steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Absätzen 2 und 3. Zusammen regeln sie die "Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall". Nach den Absätzen 2 und 3 erhalten längerbeschäftigte Angestellte ab der siebten Krankheitswoche einen Zuschuß vom Arbeitgeber in der Höhe des Differenzbetrages zwischen dem Nettogehalt und den Leistungen der gesetzlichen Kranken- oder Unfallversicherung. Diese Zuschußregelung ist auch nach den Grundsätzen des Zweiten Senats eigenständig, da sie einen über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehenden Anspruch begründet. Allein aus dem konstitutiven Charakter der Absätze 2 und 3 folgt jedoch nach Auffassung des Zweiten Senats noch nicht, daß auch Absatz 1 des § 4 Nr. 2.1 RTV als konstitutiv anzusehen wäre. Der konstitutive Charakter eines Teils eines zusammenhängenden Regelungsbereiches läßt noch keinen Schluß auf den Charakter des übrigen Teils der auszulegenden Bestimmung zu. Den Tarifvertragsparteien steht es frei, von ihrer Regelungsbefugnis nur in Teilbereichen Gebrauch zu machen und im übrigen auf die gesetzlichen Bestimmungen zu verweisen (vgl. BAG Urteil vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie, zu II 4 b der Gründe).
Es ist aber auch hier davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien eine sinnvolle, das heißt vernünftige und sachgerechte Regelung schaffen wollten. Aus dem Zusammenhang der Absätze 1 bis 3 des § 4 Nr. 2.1 RTV ergibt sich entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts der eigenständige Charakter des Absatzes 1. Denn die Zuschußregelungen der Absätze 2 und 3 erfüllen nur dann den ihnen von den Tarifvertragsparteien zugedachten Zweck, wenn der Arbeitnehmer auch während der ersten sechs Wochen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in voller Höhe hat.
Die Zuschußregelung der Absätze 2 und 3 bezweckt, den längerbeschäftigten Angestellten auch nach Ablauf der Sechswochenfrist für einen bestimmten Zeitraum finanziell (etwa) so zu stellen wie innerhalb der Sechswochenfrist. Die Annahme, die Tarifvertragsparteien hätten den längerbeschäftigten Angestellten einen Anspruch auf einen Krankengeldzuschuß in Höhe des Differenzbetrages zum Nettoentgelt ab der siebten Woche unabhängig von der Höhe der Entgeltfortzahlung in den ersten sechs Wochen zuerkannt, liegt hier fern. Eine Auslegung dahin, daß nach der gesetzlichen Absenkung der Entgeltfortzahlung auf 80 % auch der Anspruch auf einen Zuschuß zum Krankengeld nur noch in Höhe der (etwaigen) Differenz zu 80 % des Nettoentgelts besteht, scheidet aus. Der von den Tarifvertragsparteien mit der Zuschußregelung verfolgte Zweck wird daher nur erreicht, wenn dem Arbeitnehmer für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit ein Anspruch auf Fortzahlung des vollen Arbeitsentgelts zusteht.
Zwar kann es nicht als von vornherein als widersinniges Ergebnis angesehen werden, wenn der Arbeitnehmer in den ersten sechs Wochen seiner Arbeitsunfähigkeit nur 80 % des Arbeitsentgelts erhält und in den Wochen danach insgesamt Leistungen etwa in Höhe des vollen Nettogehalts. Es sind auch Regelungen vorstellbar, wonach dem Arbeitnehmer erst ab einer bestimmten Dauer der Arbeitsunfähigkeit Leistungen etwa in Höhe des vollen Arbeitsentgelts zustehen. Das zeigt sich an der Diskussion um die Einführung sogenannter Karenztage. Dabei geht es allerdings stets nur um die Absenkung der Leistungen für einige wenige Tage, nicht für mehrere Wochen. Entscheidend ist jedoch nicht, ob derartige Regelungen vorstellbar sind, sondern ob die Tarifvertragsparteien sie vereinbart haben. Das ist nicht der Fall. Nichts spricht für den Willen der Tarifvertragsparteien, den Angestellten erst für die Zeit ab der siebten Woche den vollen Lebensstandard zu sichern. Eine eigenständige Regelung von § 4 Nr. 2.1 Abs. 1 RTV kann nicht mit der Begründung verneint werden, Entgeltfortzahlung und Zuschuß zum Krankengeld seien verschiedene Leistungen. Denn beide Leistungen sollen den Lebensstandard des Arbeitnehmers sichern.
Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien mit Absatz 1 von § 4 Nr. 2.1 RTV gleichwohl keine eigenständige Regelung haben schaffen wollen, sind nicht ersichtlich. Bei dieser Auslegung des § 4 Nr. 2.1 Abs. 1 RTV besteht kein Anlaß für die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die gesetzlich bewirkte Absenkung der Fortzahlung auf 80 % habe zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage hinsichtlich der Höhe des Krankengeldzuschusses geführt.
Unterschriften
Griebeling Reinecke Kreft Ackert Mandrossa
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 16.06.1998 durch Clobes, Amtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 436442 |
BAGE, 108 |
BB 1998, 2004 |
DB 1998, 1334 |
DB 1998, 2018 |
ARST 1998, 261 |
FA 1998, 361 |
NZA 1998, 1062 |
RdA 1998, 382 |
SAE 1999, 239 |
ZAP 1998, 900 |
ZTR 1998, 514 |
AP, 0 |
MDR 1998, 1485 |