Entscheidungsstichwort (Thema)

Urteil ohne Tatbestand - Kündigung wegen häufiger Erkrankungen

 

Orientierungssatz

1. Gemäß § 313 Abs 1 Nr 5 ZPO, der vorbehaltlich der Sonderregelung des § 543 ZPO auch für ein Berufungsurteil gilt, muß das Urteil einen den Anforderungen des § 313 Abs 2 ZPO entsprechenden Tatbestand enthalten. Nur dann, wenn gegen das Berufungsurteil die Revision nicht stattfindet, kann gemäß § 543 Abs 1 ZPO von der Darstellung des Tatbestandes abgesehen werden.

2. Maßgebend für die Prüfung der sozialen Rechtfertigung einer wegen Kurzerkrankungen ausgesprochenen Kündigung sind grundsätzlich die Verhältnisse im Zeitpunkt ihres Zugangs. Zu diesem Zeitpunkt müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen rechtfertigen.

 

Verfahrensgang

LAG Köln (Entscheidung vom 25.10.1989; Aktenzeichen 7 Sa 672/89)

ArbG Bonn (Entscheidung vom 03.05.1989; Aktenzeichen 3 Ca 1950/88)

 

Tatbestand

Das angefochtene Urteil enthält keinen formellen Tatbestand und auch keine Bezugnahme auf das erstinstanzliche Urteil, Schriftsätze und Protokolle. In der in den Entscheidungsgründen vorgenommenen rechtlichen Würdigung finden sich vereinzelte Tatsachenfeststellungen.

Mit welchen Anträgen, mit welchem unstreitigen Sachverhalt und mit welchem streitigen Vorbringen in der Berufungsinstanz verhandelt worden ist, kann dem angefochtenen Urteil nicht entnommen werden.

Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts geändert und festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 19. September 1988 nicht aufgelöst ist.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte die Wiederherstellung des Urteils des Arbeitsgerichts zum Feststellungsantrag. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Hierbei hat der Senat von der Möglichkeit des § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.

I. Das Berufungsurteil ist schon deshalb aufzuheben, weil es entgegen § 313 Abs. 1 Nr. 5, § 543 Abs. 2 ZPO keinen Tatbestand enthält und dieser Mangel, der von Amts wegen zu berücksichtigen ist (ständige Rechtsprechung, vgl. BAG Urteil vom 30. Oktober 1987 - 7 AZR 92/87 - AP Nr. 7 zu § 543 ZPO 1977), die revisionsrechtliche Überprüfung unmöglich macht.

1. Gemäß § 313 Abs. 1 Nr. 5 ZPO, der vorbehaltlich der Sonderregelung des § 543 ZPO auch für ein Berufungsurteil gilt, muß das Urteil einen den Anforderungen des § 313 Abs. 2 ZPO entsprechenden Tatbestand enthalten. Nur dann, wenn gegen das Berufungsurteil die Revision nicht stattfindet, kann gemäß § 543 Abs. 1 ZPO von der Darstellung des Tatbestandes abgesehen werden. Ist hingegen die Revision statthaft, muß das Berufungsurteil einen Tatbestand enthalten, für den allerdings die Erleichterungen des § 543 Abs. 2 ZPO gelten. Diese Grundsätze sind auch dann anzuwenden, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Revision erst durch das Bundesarbeitsgericht aufgrund einer Nichtzulassungsbeschwerde zugelassen worden ist; denn auch dann findet gegen das Urteil die Revision statt,so daß dem Revisionsgericht nach dem Zweck dieser Vorschrift eine Nachprüfung des Berufungsurteils auf der Grundlage des vom Berufungsgericht festgestellten Sach- und Streitstandes ermöglicht werden muß (BAG Urteil vom 22. November 1984 - 6 AZR 103/82 - AP Nr. 5 zu § 543 ZPO 1977).

2. Das angefochtene Urteil enthält keinen Tatbestand. Zwar finden sich in den im wesentlichen eine rechtliche Würdigung enthaltenden Ausführungen einzelne Tatbestandselemente. Diese genügen jedoch nicht, um erkennen zu können, daß das Urteil hinsichtlich der Anforderungen an seinen Tatbestand der Vorschrift des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO genügt (vgl. dazu BAG Urteil vom 30. Oktober 1987, aaO, zu I 2 a der Gründe).

a) Dem Tenor des angefochtenen Urteils ist zu entnehmen, daß Gegenstand des Revisionsverfahrens eine Kündigung der Beklagten vom 19. September 1988 war, und aus den Entscheidungsgründen ergibt sich, daß es sich um eine ordentliche Kündigung handelt, da ihre soziale Rechtfertigung nach § 1 Abs. 2 KSchG geprüft wird. Der Kündigungstermin wird nicht mitgeteilt. Wie in den Entscheidungsgründen weiter dargelegt wird, wird diese Kündigung auf krankheitsbedingte Ausfälle der Klägerin gestützt. Hierzu wird zunächst mitgeteilt, die Klägerin sei seit Beginn ihrer Tätigkeit - das Einstellungsjahr wird nicht angegeben - in jedem Jahr, jedoch in sehr unterschiedlichem Umfang arbeitsunfähig krank gewesen, zuletzt in den Jahren 1983 bis zur Kündigung im Jahre 1988 an 12, 44, 12, 91, 139 und 38 Arbeitstagen. Es werden weiter Atteste von zwei Ärzten vom 14. September 1988 sowie eine sachverständige Auskunft des Betriebsarztes erwähnt und es wird ausgeführt, diese befaßten sich nicht mit der Frage, in welchem Umfang Arbeitsunfähigkeit bei einem weiteren Einsatz der Klägerin auf ihrem bisherigen Arbeitsplatz eintreten würde. Nach der Kündigung sei die Klägerin überhaupt nicht mehr wegen ihrer bisherigen Leiden, deren Art nicht mitgeteilt wird, arbeitsunfähig gewesen. Die Beklagte habe nicht konkret vorgetragen, mit welchen krankheitsbedingten Ausfallzeiten der Klägerin im Zeitpunkt der Kündigung habe gerechnet werden müssen, und habe einen solchen konkreten Vortrag auch nicht unter Beweis gestellt.

b) Diese punktuellen Feststellungen stellen auch in ihrer Gesamtheit keinen Tatbestand im Sinne des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO dar.

Das Berufungsgericht läßt die Kündigung bereits an der fehlenden negativen Gesundheitsprognose scheitern. Es gibt an tatsächlichen Grundlagen für diese Entscheidung nur die jeweilige Gesamtdauer der jährlichen Fehlzeiten an und auch diese nicht von Beginn des Arbeitsverhältnisses an. Es werden ärztliche Stellungnahmen erwähnt, jedoch nicht, auch nicht durch Bezugnahme auf diese Urkunden, ihr Inhalt, ebensowenig die Art der Leiden der Klägerin, die zu den Ausfallzeiten bis zur Kündigung geführt hatten, alles wesentliche Umstände für die Beurteilung der zukünftigen gesundheitlichen Entwicklung. Die Dauer der einzelnen Ausfallzeiten und ihre zeitliche Abfolge in dem jeweiligen Kalenderjahr, ebenfalls wesentliche Faktoren für die Prognose, werden nicht mitgeteilt. Die Darstellung des Vortrags der Beklagten hierzu enthält nur die Wertung, er sei nicht konkret. Somit fehlen ausreichende Grundlagen für eine revisionsrechtliche Überprüfung der Wertung des Berufungsgerichts, es fehle an einer ausreichend sicheren negativen Gesundheitsprognose.

c) Dieser Mangel des angefochtenen Urteils ist auch nicht mit Hilfe von § 543 Abs. 2 ZPO zu beheben. Danach ist eine Bezugnahme auf das angefochtene Urteil sowie auf Schriftsätze, Protokolle und andere Unterlagen zulässig, soweit hierdurch die Beurteilung des Parteivorbringens durch das Revisionsgericht nicht erschwert wird. Das angefochtene Urteil enthält jedoch keine solche Bezugnahme.

II. Für das erneute Berufungsverfahren erscheinen folgende Hinweise angebracht:

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. zuletzt Senatsurteile BAGE 61, 131, 137 ff. = AP Nr. 20 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu B I der Gründe sowie vom 6. September 1989 - 2 AZR 19/89 - AP Nr. 21 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu B I der Gründe) ist die Sozialwidrigkeit einer wegen häufiger Kurzerkrankungen ausgesprochenen Kündigung des Arbeitgebers in drei Stufen zu prüfen. Zunächst ist eine negative Prognose hinsichtlich des voraussichtlichen Gesundheitszustandes erforderlich. Die entstandenen und prognostizierten Fehlzeiten müssen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. In der dritten Stufe, bei der Interessenabwägung, ist dann zu prüfen, ob die erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen zu einer unzumutbaren Belastung des Arbeitgebers führt.

Das Berufungsgericht hat die Kündigung bereits an der fehlenden negativen Gesundheitsprognose scheitern lassen. Legt man das bisherige schriftsätzliche Parteivorbringen zugrunde, so hätte das Berufungsgericht mit der von ihm gegebenen Begründung die Klage nicht abweisen dürfen.

2. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:

Aufgrund der Krankheitszeiten der Klägerin bis zur Kündigung sei eine ausreichend sichere Prognose nicht möglich. Nach der Aufstellung der Beklagten sei die Klägerin zwar seit Beginn ihrer Arbeit in jedem Jahr arbeitsunfähig gewesen, jedoch in sehr unterschiedlichem - für die Jahre 1983 bis 1988 aus den mitgeteilten Fehlzeiten sich ergebendem - Umfang. Dieser Verlauf lasse als solcher keine ausreichend sichere Prognose zu. Im Kündigungsjahr sei der Umfang der Krankheitszeit zurückgegangen. Die ärztlichen Atteste und die sachverständige Auskunft des Betriebsarztes befaßten sich nicht mit der Frage, in welchem Umfang die Klägerin im Falle der Weiterbeschäftigung an ihrem bisherigen Arbeitsplatz in Zukunft arbeitsunfähig erkranken würde. Nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 10. November 1983 sei sogar die Zeit nach der Kündigung zu berücksichtigen. In diesem Zeitraum sei die Klägerin aber aufgrund ihrer bisherigen Leiden nicht mehr arbeitsunfähig gewesen. Jedenfalls habe die Beklagte nicht konkret vorgetragen, mit welchen krankheitsbedingten Ausfällen der Klägerin im Zeitpunkt der Kündigung habe gerechnet werden müssen, und auch nicht einen solchen konkreten Vortrag unter Beweis gestellt. Unter diesen Umständen sei eine ausreichend sichere Prognose über die Störungen des Betriebsablaufs und die Belastung mit Lohnfortzahlungskosten nicht möglich.

Gegen diese Würdigung wendet sich die Revision zu Recht. Das Berufungsurteil hätte auch bei Vorliegen eines den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Tatbestandes aufgehoben werden müssen.

3. Die negative Gesundheitsprognose erfordert, daß zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang rechtfertigen. Insoweit gelten folgende Grundsätze (Senatsurteil vom 6. September 1989 - 2 AZR 19/89 -, aaO):

a) Häufige Kurzerkrankungen in der Vergangenheit können für ein entsprechendes Erscheinungsbild in der Zukunft sprechen. Dann darf der Arbeitgeber sich zunächst darauf beschränken, die Indizwirkung entfaltenden Fehlzeiten in der Vergangenheit darzulegen.

b) Daraufhin muß der Arbeitnehmer gemäß § 138 Abs. 2 ZPO dartun, weshalb mit einer baldigen Genesung zu rechnen sei. Dieser prozessualen Mitwirkungspflicht genügt er bei unzureichender ärztlicher Aufklärung oder Kenntnis von seinem Gesundheitszustand schon dann, wenn er die Behauptung des Arbeitgebers bestreitet und die ihn behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbindet, soweit darin die durch Auslegung seines Vortrags unter Berücksichtigung von § 139 ZPO zu ermittelnde Darlegung liegt, die Ärzte hätten die künftige gesundheitliche Entwicklung ihm gegenüber positiv beurteilt. Unsubstantiiert ist die Einlassung des Arbeitnehmers nur dann, wenn die "Berufung auf die behandelnden Ärzte" erkennen läßt, daß auch er sich erst noch durch deren Zeugnis die noch fehlende Kenntnis über den weiteren Verlauf seiner Erkrankungen verschaffen will. In der Regel ist davon auszugehen, daß ein Arbeitnehmer, der sich auf die Auskunft seines Arztes beruft, damit hinreichend das Fehlen einer eigenen Kenntnis zum Ausdruck bringt.

c) Zur Klärung, ob durch diese Art des Bestreitens durch den Arbeitnehmer die sich möglicherweise aus dem schlüssigen Vortrag des Arbeitgebers zur negativen Prognose ergebende Indizwirkung erschüttert werden kann, wird es regelmäßig erforderlich sein, den behandelnden Arzt als sachverständigen Zeugen (§ 414 ZPO) zu vernehmen, oder von ihm nach § 377 Abs. 3 und 4 ZPO eine schriftliche Zeugenaussage einzuholen. Nur so wird zu klären sein, ob ernsthaft die Möglichkeit eines von der bisherigen Entwicklung abweichenden anderen Geschehensablaufes (geringere Krankheitsanfälligkeit) zu erwägen ist.

d) Trägt der Arbeitnehmer selbst konkrete Umstände für seine Beschwerden und deren Ausheilung oder Abklingen vor, so müssen diese geeignet sein, die Indizwirkung der bisherigen Fehlzeiten zu erschüttern; er muß jedoch nicht den Gegenbeweis führen, daß nicht mit weiteren häufigen Erkrankungen zu rechnen sei.

4. Bei Anwendung dieser Grundsätze hätte das Berufungsgericht mit der von ihm gegebenen Begründung nicht bereits die negative Gesundheitsprognose abschließend zu Ungunsten der Beklagten beurteilen dürfen.

a) Im vorliegenden Fall sind die krankheitsbedingten Fehlzeiten der Klägerin, ihre jeweilige Dauer und ihre zeitliche Abfolge im Kalenderjahr unstreitig. Unstreitig ist weiter, daß ein Teil dieser Fehlzeiten auf Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule (nach Darstellung der Klägerin auf "orthopädischem Gebiet"), ein Teil nach ihrer Darstellung auf "internistischem Gebiet" beruht.

Gegenstand des Sachvortrags der Beklagten ist weiter der Inhalt der beiden ärztlichen Atteste von 14. September 1988, den sich die Beklagte zu eigen gemacht hat. Danach leidet die Klägerin unter chronischen Magenbeschwerden und insbesondere an degenerativen Verschleißerscheinungen der gesamten Wirbelsäule (Dr. H ) bzw. an einer Erkrankung der Hals- und Lendenwirbelsäule (Dr. Spall).

b) Auf der Basis dieser Faktoren vermißt das Berufungsgericht zu Unrecht einen weiteren konkreten Vortrag der Beklagten, mit welchen krankheitsbedingten Ausfällen der Klägerin in Zukunft zu rechnen sei. Ein solcher Vortrag war der Beklagten nicht möglich. Ohne Kenntnis der ärztlichen Diagnosen im einzelnen konnte sie den jeweiligen Diagnosen keine konkreten Ausfallzeiten zuordnen. Hierzu war sie im Rahmen ihrer Darlegungslast jedoch auch gar nicht verpflichtet. Zu ihrer Erfüllung reichte es aus, die Fehlzeiten in der Vergangenheit nach Zahl, Dauer und zeitlicher Abfolge vorzutragen (Senatsurteil vom 6. September 1989 - 2 AZR 19/89 -, aaO). Vielmehr war die Klägerin im Rahmen ihrer prozessualen Mitwirkungspflicht nach § 138 Abs. 2 ZPO gehalten darzutun, weshalb mit einer baldigen Genesung zu rechnen sei, wobei es genügte, die Behauptung des Arbeitgebers, es sei mit entsprechenden Ausfallzeiten auch in der Zukunft zu rechnen, zu bestreiten, und ihre Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden. Die Klägerin hat sich jedoch nicht auf das Zeugnis ihrer behandelnden Ärzte für ihre Behauptung, ihre Leiden seien ausgeheilt, berufen. Ihrem Vortrag zum Zustandekommen der beiden Atteste vom 14. September 1988 ist eher zu entnehmen, daß sie der Verwertung dieser Atteste widerspreche, weil sie auf Veranlassung des Betriebsrats ausgestellt worden seien, um eine leichtere Arbeit zugewiesen zu erhalten. Jedenfalls hat sie ihre behandelnden Ärzte für die von ihr behauptete günstige gesundheitliche Entwicklung in der Zukunft nicht als Zeugen benannt und von der Schweigepflicht entbunden. Sofern deshalb die Diagnosen für die prognostische Beurteilung erheblich sein sollten, ist nicht die Beklagte, sondern die Klägerin ihrer Darlegungslast nicht nachgekommen.

c) Das Berufungsgericht hat im Ergebnis bereits eine Indizwirkung der unstreitigen und von der Beklagten vorgetragenen Umstände für eine negative Gesundheitsprognose verneint. Bei der Bewertung, ob diese Umstände ausreichen, die Annahme künftiger erheblicher Fehlzeiten zu rechtfertigen, steht dem Tatrichter im Rahmen der §§ 144, 286 ZPO ein Ermessensspielraum zu (Senatsurteil vom 6. September 1989 - 2 AZR 19/89 - aaO, zu B II 1 der Gründe). Dieses Ermessen hat das Berufungsgericht jedoch fehlerhaft ausgeübt. Wenn die von ihm gewürdigten Umstände nach seiner Ansicht nicht ausreichen, eine für eine negative Gesundheitsprognose sprechende Indizwirkung zu entfalten, so durfte es nicht bereits deshalb davon ausgehen, die Beklagte habe ihrer Darlegungs- und Beweislast für die negative Gesundheitsprognose als erste Voraussetzung für die soziale Rechtfertigung der Kündigung nicht genügt.

aa) Die Beklagte hat vorgetragen (vgl. zuletzt Schriftsatz vom 11. September 1989), die Klägerin habe 1987 und 1988 unter Schmerzen im Wirbelsäulenbereich gelitten, die auf degenerativen Verschleißerscheinungen der gesamten Wirbelsäule und einer Erkrankung der Halswirbel und Lendenwirbelsäule beruhten, und sie hat sich für diese Diagnose auf das Zeugnis der beiden Ärzte berufen, die die Atteste vom 14. September 1989 ausgestellt haben. Sie hat weiter vorgetragen, aufgrund dieser Befunde könne keine Ausheilung dieser Leiden, sondern allenfalls eine vorübergehende Linderung der Schmerzen, nicht aber eine Senkung der Fehlzeiten herbeigeführt werden; hierfür hat sie sich auf ein arbeitsmedizinisches Sachverständigengutachten berufen.

Wie ausgeführt, war die Beklagte zu einem konkreteren Vortrag der die von ihr behauptete negative Gesundheitsprognose begründenden Tatsachen weder in der Lage noch verpflichtet. War das Bestreiten der Klägerin ausreichend substantiiert, so hätte über die Behauptung der Beklagten, bei einem Einsatz der Klägerin mit den bisher ausgeführten Arbeiten im Verarbeitungsbereich sei auch in Zukunft mit Fehlzeiten im bisherigen Umfang zu rechnen, Beweis durch Vernehmung der behandelnden Ärzte und Einholung eines Sachverständigengutachtens erhoben werden müssen, weil dem Berufungsgericht die eigene Sachkunde für die medizinische Beurteilung fehlte.

Wegen dieses Verfahrensfehlers hätte das angefochtene Urteil in jedem Falle auch bei Vorliegen eines ausreichenden Tatbestandes aufgehoben werden müssen, weil die Revision insoweit die Verletzung des § 286 ZPO ordnungsgemäß gerügt hat.

bb) Dies gilt auch dann, wenn die weitere Entwicklung der Fehlzeiten der Klägerin nach Ausspruch der Kündigung bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz zu berücksichtigen wäre, was hier unterstellt werden soll. Wie der Senat bereits in dem Zulassungsbeschluß vom 22. Februar 1990 - 2 AZN 662/89 - ausgeführt hat, kann dem angefochtenen Urteil nicht entnommen werden, daß das Berufungsgericht der Klage schon auf der Grundlage der bis zum Ausspruch der Kündigung angefallenen Fehlzeiten stattgeben wollte. Auch die weitere Entwicklung der Fehlzeiten bis zum Abschluß der Tatsacheninstanz könnte nur ein Indiz für oder gegen eine negative Prognose sein. Im vorliegenden Fall gilt dies um so mehr, als auch in der Vergangenheit Jahre mit geringeren Ausfallzeiten mit Jahren extrem hoher Ausfallzeiten - wie 1986 und 1987 - abwechselten. Die Beklagte erachtet den geringen Anfall von Fehlzeiten nach der Kündigung für nur vorübergehend, die Klägerin sieht darin einen Beweis für die Ausheilung ihrer Leiden. Eine schlüssige Antwort könnte selbst bei Einbeziehung der Zeit nach Ausspruch der Kündigung nur ein medizinischer Sachverständiger geben.

5. Im zurückverwiesenen Verfahren wird das Berufungsgericht folgendes zu beachten haben:

a) Anders als in den meisten bisher vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fällen steht vorliegend nicht fest, auf welchen Krankheiten die jeweiligen Fehlzeiten der Klägerin im einzelnen beruhen. Unstreitig ist nur, daß für einen Teil der Ausfallzeiten Erkrankungen der Wirbelsäule in Frage kommen. Da der Art der jeweiligen Erkrankungen aber eine für die Prognose wesentliche Bedeutung zukommt, müssen die einzelnen Diagnosen für die jeweiligen Ausfallzeiten ermittelt werden. Hierfür muß die Klägerin im Rahmen ihrer prozessualen Mitwirkungspflicht ihre behandelnden Ärzte benennen und von der Schweigepflicht entbinden. Um eine umständliche Beweisaufnahme durch die Vernehmung der Ärzte schon zu diesem Punkt zu vermeiden, könnte - mit Zustimmung der Klägerin - die Aufklärung insoweit durch Einholung einer Auskunft des zuständigen Sozialversicherungsträgers (AOK) herbeigeführt werden, in der die jeweiligen Diagnosen für die einzelnen Ausfallzeiten und der jeweils behandelnde Arzt mitgeteilt werden. Da in der Vergangenheit Jahre mit kürzeren und längeren Ausfallzeiten wechselten, dürfte es zweckmäßig erscheinen, die Ausfälle zumindest vom Jahre 1980 an einzubeziehen.

b) Kommt die Klägerin ihrer prozessualen Mitwirkungspflicht in dem vorstehend dargelegten Umfang nach und stehen dann die Ursachen für die jeweiligen Fehlzeiten fest, so muß das Berufungsgericht prüfen, ob diese Erkrankungen für eine negative Gesundheitsprognose ausreichen. Ist dies nach seiner Ansicht nicht der Fall, so muß es die von der Beklagten angebotenen Beweise auf Vernehmung der beiden Ärzte, die die Atteste vom 14. September 1989 ausgestellt haben, erheben und je nach dem Ergebnis dieser Beweisaufnahme u.U. noch einen medizinischen Sachverständigen zuziehen.

c) Auf die gesundheitliche Entwicklung der Klägerin nach Ausspruch der Kündigung (10. September 1988) könnte es nur unter besonderen, noch aufzuklärenden Umständen ankommen.

aa) Maßgebend auch für die Prüfung der sozialen Rechtfertigung einer wegen Kurzerkrankungen ausgesprochenen Kündigung sind grundsätzlich die Verhältnisse im Zeitpunkt ihres Zugangs. Zu diesem Zeitpunkt müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen rechtfertigen.

bb) Daraus folgt, daß nach Ausspruch der Kündigung eingetretene Umstände nicht zur Begründung, sondern allenfalls zur Bestätigung oder Korrektur einer Prognose herangezogen werden können, wie der Senat in dem Urteil vom 10. November 1983 (- 2 AZR 291/82 - AP Nr. 11 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu B II 3 c der Gründe) angenommen hat.

Bereits in diesem Urteil hat der Senat darauf hingewiesen, daß das Ende der Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers in der Regel nur dann etwas über seinen Gesundheitszustand aussage, wenn er nach dem Ende der Kündigungsfrist weitergearbeitet habe. Zumindest Krankheiten, die auf den besonderen Bedingungen des Arbeitsplatzes beruhen, könnten nicht als ausgeheilt angesehen werden, wenn der Arbeitnehmer den Belastungen dieses Arbeitsplatzes nicht mehr ausgesetzt sei.

Der Senat hat ferner in den Urteilen vom 9. April 1987 (- 2 AZR 210/86 - AP Nr. 18 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu B III 3 der Gründe) und vom 6. September 1989 (- 2 AZR 118/89 - AP Nr. 22 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu B II 2 der Gründe) klargestellt, daß die tatsächliche Entwicklung nach Kündigungsausspruch jedenfalls dann nicht berücksichtigt werden könne, wenn ein neuer Kausalverlauf nach dem Kündigungszeitpunkt in Gang gesetzt werde, wie z.B. die Durchführung einer bisher vom Arbeitnehmer verweigerten Heilmaßnahme (Operation, Entziehungskur) oder die Änderung der Lebensführung, zu der sich der Arbeitnehmer bisher nicht bereit gefunden habe.

cc) Die tatsächliche gesundheitliche Entwicklung der Klägerin nach Ausspruch der Kündigung könnte somit im vorliegenden Fall einmal dann erheblich werden, wenn die Klägerin nach Ausspruch der Kündigung mit Arbeiten in der Verarbeitung eingesetzt wurde, durch die die Wirbelsäule belastet wird. Zum anderen könnte sie bedeutsam werden, wenn kein neuer Kausalverlauf in Gang gesetzt wurde.

d) Es hängt somit von dem Ergebnis weiterer Sachaufklärung in der Tatsacheninstanz ab, ob die gesundheitliche Entwicklung der Klägerin nach Ausspruch der Kündigung erheblich werden könnte. Deshalb besteht keine Veranlassung, auf die gegen das Senatsurteil vom 10. November 1983 (aaO) von dem Siebten Senat des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 15. August 1984 - 7 AZR 536/82 - AP Nr. 16 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit) und im Schrifttum (Ascheid, Beweislastfragen im Kündigungsschutzprozeß, 1989, S. 88 bis 93; KR-Becker , 3. Aufl., § 1 KSchG Rz 212; Herschel, AR-Blattei -D-, Kündigungsschutz, Anm. zu Entscheidungen 248/250; U. Preis, DB 1988, 1444; a.M. Denck, SAE 1984, 209) erhobenen Bedenken einzugehen.

6. Sollte sich im erneuten Berufungsverfahren eine negative Gesundheitsprognose ergeben, so wird das Berufungsgericht dem Vortrag der Beklagten zu den auf die Ausfallzeiten der Klägerin zurückzuführenden, in der Vergangenheit eingetretenen und künftig zu erwartenden Betriebsablaufstörungen und wirtschaftlichen Belastungen durch Lohnfortzahlungskosten sowie zur Frage einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit mit leichteren Arbeiten nachzugehen haben.

Hillebrecht Triebfürst Bitter

Thieß Nipperdey

 

Fundstellen

Haufe-Index 437570

EEK, II/197 (ST1-5)

RzK, I 5g 41 (ST1-2)

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