Krankheitsbedingte Kündigung - Sonderzahlungen als relevante wirtschaftliche Belastungen?
Die Wirksamkeit einer auf krankheitsbedingte Fehlzeiten gestützten ordentlichen Kündigung setzt nach der Rechtsprechung des BAG
- neben einer negativen Gesundheitsprognose (erste Stufe) regelmäßig voraus,
- dass die für die Zukunft zu befürchtenden Fehlzeiten auch zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen (zweite Stufe).
- Ist dies der Fall, ist im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen (dritte Stufe).
Das BAG hatte unlängst darüber zu entscheiden, inwieweit Sonderzahlungen wie tarifliche Einmalzahlung und Boni entsprechende kündigungsrelevante Belastungen darstellen können.
Arbeitgeberin berief sich auf wirtschaftliche Belastungen
Die einem schwerbehinderten gleichgestellte Klägerin wies im Zeitraum 2012 bis 2018 erhebliche krankheitsbedingte Fehlzeiten auf. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 17. Juli 2018 ordentlich mit Wirkung zum Ablauf des 28. Februar 2019. Zur Begründung berief sie sich auf die wirtschaftlichen Belastungen im Zusammenhang mit der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin.
Arbeitnehmerin erhielt auch Sonderzahlungen
Die Beklagte leistete für verschiedene Zeiträume Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Zuschüsse zum Krankengeld, eine tarifliche Einmalzahlung sowie sog. Jubiläumsaktien. Zudem erhielt die Klägerin für mehrere Jahre ein Urlaubsgeld, ein Weihnachtsgeld und ein Tankdeputat sowie einen Bonus. Die Zahlung der Krankengeldzuschüsse sowie des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes beruhten auf einer mit dem Betriebsrat vereinbarten Betriebsordnung, die Gewährung des Tankdeputats, der Jubiläumsaktien und des Bonus jeweils auf Vereinbarungen mit dem Gesamtbetriebsrat.
BAG sah keine erhebliche Beeinträchtigung wirtschaftlicher Interessen
Das BAG bejahte auf der ersten Stufe zwar das Bestehen einer negativen Gesundheitsprognose, nahm jedoch auf der zweiten Stufe, wie auch die Vorinstanz, keine erhebliche Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Interessen durch die künftig zu erwartenden krankheitsbedingten Fehlzeiten der Klägerin an. Auch wenn Sonderzahlungen in Jahren gewährt würden, in denen ein Arbeitnehmer durchgehend krank gewesen sei, stelle dies nicht automatisch eine kündigungsrelevante finanzielle Belastung dar.
Referenzzeitraum von drei Jahren maßgeblich
Für die Erstellung einer entsprechenden Prognose, mit welchen wirtschaftlichen Belastungen der Arbeitgeber auf Grund künftiger krankheitsbedingter Ausfallzeiten des Arbeitnehmers zu rechnen habe, sei vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls ein vergangenheitsbezogener Referenzzeitraum von drei Jahren maßgeblich.
Erhebliche Beeinträchtigung des Austauschverhältnisses erforderlich
Die Prognose müsse eine erhebliche künftige Beeinträchtigung des Austauschverhältnisses ergeben. Die berechtigte Gleichwertigkeitserwartung des Arbeitgebers müsse in einem Maß unterschritten sein, dass es ihm unzumutbar sei, über die Dauer der Kündigungsfrist hinaus an dem (unveränderten) Arbeitsverhältnis festzuhalten. Für die Beurteilung der zu erwartenden wirtschaftlichen Belastungen, so das BAG, seien vor allem Entgeltfortzahlungskosten gemäß §§ 3, 4 EFZG maßgeblich. Darunter fielen, so das BAG, auch arbeitsleistungsbezogene Sondervergütungen mit reinem Entgeltcharakter.
Zuschüsse zum Krankengeld und Leistungen für Betriebstreue sind unbeachtlich
Zuschüsse zum Krankengeld seien hingegen grundsätzlich nicht zu Lasten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. Ihre Zahlung beruhe, anders als die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach §§ 3, 4 EFZG, nicht auf einer zwingenden gesetzlichen Verpflichtung, sondern würde vom Arbeitgeber letztlich „freiwillig“ gezahlt. Auch Leistungen, mit denen ausschließlich Betriebstreue und nicht auch eine bestimmte Arbeitsleistung honoriert werden soll, gingen, so das BAG, ebenfalls nicht zu Lasten des Arbeitnehmers.
Sonderzuwendungen nach § 4a EFZG nicht kündigungsbegründend
Leistungen, die der Arbeitgeber zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt erbringe (Sondervergütung nach § 4a EFZG) stellten nach der Entscheidung des BAG selbst dann keine wirtschaftliche Belastung darf, wenn sie nicht allein für den Bestand des Arbeitsverhältnisses, sondern auch für eine Arbeitsleistung im Bezugszeitraum gezahlt werden.
Arbeitgeber trägt Risiko der unverminderten Zahlung
Zwar führe die Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers insofern zu einer (teilweisen) Störung des Austauschverhältnisses. Doch sei diesbezüglich durch § 4a EFZG eine abschließende Risikozuweisung erfolgt. Mit einer Kürzung für Zeiten einer Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit seien Störungen im Arbeitsleistungsanteil der Sondervergütung als behoben anzusehen. Fehle es an einer Kürzungsregelung, habe der Arbeitgeber das Risiko der unverminderten Zahlung zu tragen.
(BAG, Urteil v. 22.07.2021, 2 AZR 125/21).
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Hintergrund: Krankheit als Kündigungsgrund
Das Kündigungsschutzgesetz kennt keine "krankheitsbedingte" Kündigung. Sie ist jedoch als Sonderfall der personenbedingten Kündigung i. S. d. § 1 Abs. 2 KSchG anerkannt. Häufig wird die Ansicht vertreten, während der Krankheit könne nicht gekündigt werden. Das stimmt nicht (es sei denn, ein zur Anwendung kommender Tarifvertrag regelt ausnahmsweise etwas anderes): Krankheit ist kein Kündigungsgrund, aber auch kein Kündigungshindernis. Gekündigt wird wegen betrieblicher Auswirkungen, die die Krankheit mit sich bringt.
Da das Verhältnis von Leistung (Arbeitsleistung des Arbeitnehmers) und Gegenleistung (Vergütungspflicht des Arbeitgebers) im Arbeitsverhältnis ausgewogen sein soll (Austauschcharakter des Arbeitsverhältnisses), muss der Arbeitgeber die Möglichkeit erhalten, das Arbeitsverhältnis aufzulösen, wenn der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung krankheitsbedingt nicht erbringen kann.
Die Kündigung des krankheitsbedingt beeinträchtigten Arbeitsverhältnisses kommt nur in Betracht, wenn sie die Ultima Ratio ist, es also kein milderes Mittel zur Behebung der Beeinträchtigung gibt. Ein solches milderes Mittel liegt vor, wenn für den Arbeitnehmer eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens (= der Rechtsträger) an einem anderen Arbeitsplatz besteht. Dabei kommt es entgegen dem Wortlaut der Vorschrift nicht darauf an, ob der Betriebsrat deshalb tatsächlich der Kündigung widersprochen hat, weil sonst der Kündigungsschutz des Arbeitnehmers zu stark eingeschränkt wäre und der Betriebsrat eine Sperrfunktion hätte. Vorrang vor der Beendigungskündigung haben daher eine Versetzung oder eine Änderungskündigung.
Die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen, die die personenbedingte Kündigung rechtfertigen, trägt nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG der Arbeitgeber.
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