Entscheidungsstichwort (Thema)
Massenentlassung. Interessenausgleich mit Namensliste. Sozialauswahl. Vertrauensschutz
Leitsatz (redaktionell)
- Bei namentlicher Benennung eines Arbeitnehmers in der Namensliste eines Interessenausgleichs ist die Prüfung der Sozialauswahl auf grobe Fehlerhaftigkeit beschränkt. Dieser Prüfungsmaßstab gilt nicht nur für die sozialen Indikatoren und deren Gewichtung, sondern auch für die Bildung der auswahlrelevanten Gruppen. Grob fehlerhaft ist eine soziale Auswahl nur, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt und der Interessenausgleich jede Ausgewogenheit vermissen lässt.
- § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG verpflichtet zur Anzeige einer Massenentlassung vor Ausspruch der Kündigung. Ein Arbeitgeber, der (jedenfalls) vor dem 27.01.2005 entsprechend der damaligen Rechtsprechung und Verwaltungspraxis die Massenentlassungsanzeige hingegen erst nach Ausspruch der Kündigung erstattet hat, kann sich auf Vertrauensschutz berufen. Der Verstoß gegen die Anzeigepflicht macht die Kündigung in diesem Fall nicht unwirksam.
Normenkette
KSchG §§ 1, 17
Verfahrensgang
LAG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 01.11.2005; Aktenzeichen 5 (4) Sa 145/05) |
ArbG Rostock (Urteil vom 02.02.2005; Aktenzeichen 4 Ca 2160/04) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 1. November 2005 – 5 (4) Sa 145/05 – aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Rostock vom 2. Februar 2005 – 4 Ca 2160/04 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat auch die weiteren Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von der Beklagten auf betriebliche Gründe gestützten ordentlichen Kündigung.
Der Kläger trat 1992 als gewerblicher Arbeitnehmer in die Dienste der Beklagten. Die Beklagte betreibt ein Bauunternehmen mit Sitz und Hauptverwaltung in S…. In R… und in S… unterhält sie zwei gewerbliche Betriebsstätten, die sie selbst als Niederlassungen bezeichnet. Von den etwas mehr als 100 Arbeitnehmern beider Standorte wurde ein gemeinsamer Betriebsrat gewählt.
Nachdem die Beklagte in den Jahren 2003 und Anfang 2004 Verluste erwirtschaftete, entschloss sie sich Mitte August 2004, in R… keine gewerblichen Arbeiten mehr mit eigenen Arbeitnehmern ausführen zu lassen und die entsprechenden Leistungen nur noch über Nachunternehmer einzukaufen.
Unter dem 18. August 2004 teilte die Beklagte dem Betriebsrat mit, sie beabsichtige allen gewerblichen Arbeitnehmern in R… (mit Ausnahme der in R… beschäftigten Betriebsratsmitglieder) ordentlich zu kündigen. Unter dem 26. August 2004 widersprach der Betriebsrat der Kündigungsabsicht, weil die Beklagte die gewerblichen Arbeitnehmer in S… nicht in die Sozialauswahl einbezogen hatte.
Am 30. August 2004 schloss die Beklagte mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich und einen Sozialplan ab. In der von den Betriebspartnern unterschriebenen Anlage zum Interessenausgleich sind 23 zu kündigende Arbeitnehmer (22 gewerbliche, ein Polier) benannt, darunter der Kläger. Als Austrittstermine sind der 30. September (für vier Arbeitnehmer), der 31. Oktober (für fünf Arbeitnehmer), der 30. November (für fünf Arbeitnehmer), der 31. Dezember (für fünf Arbeitnehmer), der 31. Januar 2005 (für einen Arbeitnehmer) und der 31. März 2005 (für drei Arbeitnehmer) genannt. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Beklagte die Beendigungstermine bewusst so gewählt hat, dass nach der erst mit Urteil vom 23. März 2006 (– 2 AZR 343/05 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen) aufgegebenen ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Voraussetzungen des § 17 KSchG nicht vorlagen. Dementsprechend konsultierte die Beklagte auch den Betriebsrat nicht nach § 17 KSchG und erstattete keine Anzeige bei der Bundesagentur für Arbeit, auch nicht nachträglich.
Mit Schreiben vom 30. August 2004, das dem Kläger am 31. August 2004 zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 31. Januar 2005.
Der Kläger hält die Kündigung für unwirksam. Er hat das Vorliegen betriebsbedingter Kündigungsgründe bestritten. Die Sozialauswahl sei nicht ordnungsgemäß, weil die Beklagte sie auf die Arbeitnehmer in R… beschränkt habe. Auch der Betriebsrat sei nicht ordnungsgemäß angehört worden. In der Berufungsinstanz hat der Kläger außerdem geltend gemacht, die Kündigung sei auch deshalb unwirksam, weil die Beklagte die Anzeige nach § 17 KSchG unterlassen habe.
Der Kläger hat – soweit noch von Interesse – beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 30. August 2004 nicht aufgelöst ist.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hält die Kündigung für wirksam. Ihre unternehmerische Entscheidung habe die Beschäftigungsmöglichkeit für den Kläger entfallen lassen. Da es sich bei der Arbeitsstätte in R… um einen eigenständigen, allein von dem dort angesiedelten Leitungsapparat gesteuerten Betrieb handele, sei die Sozialauswahl auf diesen Betrieb zu beschränken gewesen. In jedem Fall aber könne die Kündigung, da ein ordnungsgemäßer Interessenausgleich mit Namensliste vorliege, wegen der Privilegierungen der §§ 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG und 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG nicht beanstandet werden. Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß unterrichtet worden. Auf § 17 KSchG könne sich der Arbeitnehmer im Berufungsverfahren wegen §§ 4 und 6 KSchG nicht mehr stützen. Im Übrigen habe sie auf die Weitergeltung der erst am 23. März 2006 vom Bundesarbeitsgericht aufgegebenen Rechtsprechung zu § 17 KSchG vertraut.
Das Arbeitgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers nach dem Klageantrag erkannt. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.
A. Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, die Kündigung sei sozial gerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 KSchG. Auf Grund des insbesondere auch formgerecht zustande gekommenen Interessenausgleichs mit Namensliste sei die Betriebsbedingtheit der Kündigung zu vermuten. Dem Kläger sei der Nachweis, dass die Beschäftigungsmöglichkeit weiter bestehe, nicht gelungen. Ein Missbrauch der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit sei nicht festzustellen. Die Sozialauswahl sei jedenfalls nicht grob fehlerhaft. Der Rechtsstandpunkt, die S… Arbeitnehmer seien mit den R… Arbeitnehmern nicht vergleichbar, sei auch angesichts der vertraglichen Vereinbarungen zum Arbeitsort zumindest vertretbar. Schon dies schließe grobe Fehlerhaftigkeit aus. Auch der Betriebsrat sei ordnungsgemäß angehört worden. Die Unwirksamkeit der Kündigung folge aber daraus, dass die Beklagte, wie sich aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 (– C-188/03 – EuGHE I 2005, 885) ergebe, die nach § 17 KSchG bestehende Anzeigepflicht verletzt und die Anzeige auch nicht nachgeholt habe. Dadurch sei die Entlassungssperre aus § 18 KSchG ausgelöst und nicht überwunden worden. Vertrauensschutz könne die Beklagte nicht in Anspruch nehmen, zumal sie die Entlassungen gezielt unter Ausnutzung der gesetzlichen Vorgaben so gestaffelt habe, dass – nach altem Verständnis – die betreffenden Schwellenwerte gerade eben nicht erreicht worden seien. Die von der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs abweichende ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts habe nicht vertrauensbildend wirken können, da sie unter erheblichen Legitimationsdefiziten gelitten habe. Zumindest hätte die Beklagte nachträglich eine Anzeige versuchen und sich so ihr Vertrauen in den Fortbestand der bisherigen Praxis der Bundesagentur bestätigen lassen können. An sich müsse zwar ein Verstoß gegen § 17 KSchG innerhalb der Klagefrist des § 4 KSchG, spätestens in der letzten mündlichen Verhandlung erster Instanz (§ 6 KSchG, hier: 14. Dezember 2004) geltend gemacht werden. Da die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs jedoch erst am 27. Januar 2005 gefallen sei, könne es dem Kläger unter Vertrauensgesichtspunkten nicht versagt sein, die Rüge auch noch im Berufungsverfahren zu erheben.
B. Dem stimmt der Senat nur in Teilen der Begründung, nicht aber im Ergebnis zu. Die Klage ist unbegründet. Die Kündigung hat das Arbeitsverhältnis der Parteien aufgelöst.
I. Die Kündigung ist nicht sozial ungerechtfertigt iSd. § 1 KSchG.
1. Sie ist durch dringende betriebliche Erfordernisse, die der Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstehen, bedingt (§ 1 Abs. 2 KSchG).
a) Auf die Kündigung ist § 1 Abs. 3 und 5 KSchG in der seit dem 1. Januar 2004 geltenden Fassung (BGBl. I 2003 S. 3002) anzuwenden. Nach § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG wird vermutet, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse iSd. Abs. 2 bedingt ist, wenn bei der Kündigung auf Grund einer Betriebsänderung nach § 111 BetrVG die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, in einem Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat namentlich bezeichnet sind.
b) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG sind erfüllt, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend festgesellt hat. Auch der Kläger macht Gegenteiliges nicht mehr geltend.
c) Der Kläger hat, wie das Landesarbeitsgericht ebenfalls zu Recht ausführt, die sich aus § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG ergebende gesetzliche Vermutung nicht widerlegt. Der Kläger hat geltend gemacht, die bisher von den gewerblichen Arbeitnehmern der Beklagten erledigten Arbeiten würden nunmehr ua. durch Arbeitnehmer ausgeführt, die bei Tochtergesellschaften beschäftigt würden. Außerdem habe die Beklagte gekündigten Arbeitnehmern angeboten, im Rahmen von Ich-AG's weiter für die Beklagte tätig zu sein. Ob und inwieweit diese Behauptungen, denen die Beklagte zum Teil entgegengetreten ist, zutreffen, kann dahinstehen. Sie widerlegen entgegen der Auffassung des Klägers nicht die zu vermutende Betriebsbedingtheit der Kündigung. Sie belegen auch nicht die Missbräuchlichkeit der von der Beklagten getroffenen unternehmerischen Entscheidung. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht darauf hingewiesen, dass die betroffenen Tochtergesellschaften bereits vor der unternehmerischen Entscheidung mit eigenen Leitungsapparaten und Betriebsorganisationen neben der Beklagten selbständig werbend am Markt tätig waren. Die Beklagte hat also nicht (vgl. BAG 26. September 2002 – 2 AZR 636/01 – BAGE 102, 31) durch zweckvolle organisatorische Gestaltung einen bei ihr selbst unverändert bestehenden Beschäftigungsbedarf nur zum Schein anderen – von ihr unter faktischer Beibehaltung des Direktionsrechts vorgeschobenen und nur formell zwischengeschalteten – Gesellschaften übertragen. Sie hat vielmehr ihre unternehmerische Entscheidung, keine gewerblichen Arbeiten mehr in eigener Verantwortung auszuführen, sondern diese bei Dritten “einzukaufen”, tatsächlich umgesetzt.
2. Die Kündigung ist auch nicht wegen fehlerhafter oder unterlassener Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG sozial ungerechtfertigt, wie das Landesarbeitsgericht zu Recht festgehalten hat. Auch der Kläger ist auf seine in den Vorinstanzen geltend gemachte gegenteilige Auffassung nicht mehr zurückgekommen.
Auf Grund der namentlichen Benennung des Klägers in der Namensliste des Interessenausgleichs vom 30. August 2004 kann die soziale Auswahl des gekündigten Klägers nach § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden.
Dieser Prüfungsmaßstab gilt nicht nur für die sozialen Indikatoren und deren Gewichtung selbst. Vielmehr wird auch die Bildung der auswahlrelevanten Gruppen von den Gerichten für Arbeitssachen nur auf ihre groben Fehler überprüft (vgl. zu § 1 Abs. 5 KSchG in der vom 1. Oktober 1996 bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung: Senat 7. Mai 1998 – 2 AZR 536/97 – BAGE 88, 363; 21. Januar 1999 – 2 AZR 624/98 – AP KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 3 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 39; 21. Februar 2001 – 2 AZR 39/00 – EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 8; 21. Februar 2002 – 2 AZR 581/00 – EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 10; zu § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO: Senat 28. August 2003 – 2 AZR 368/02 – AP InsO § 125 Nr. 1 = EzA InsO § 125 Nr. 1; vgl. die Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 15/1204; ausführlich APS-Kiel 2. Aufl. § 1 KSchG Rn. 785i; KR-Etzel 7. Aufl. § 1 KSchG Rn. 703h; ErfK/Ascheid 6. Aufl. § 1 KSchG Rn. 518; Schaub/Linck Arbeitsrechts-Handbuch 11. Aufl. § 133 Rn. 12; HaKo-Gallner 2. Aufl. § 1 KSchG Rn. 791 ff.; kritisch, jedoch angesichts der Gesetzesbegründung einlenkend: Stahlhacke/Preis/Vossen-Preis Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 1166p). Das Landesarbeitsgericht hat keine sachfremden Gesichtspunkte in seine Würdigung einbezogen, sondern nachvollziehbar und ohne widersprüchliche Erwägungen angenommen, der auswahlrelevante Personenkreis sei nicht grob fehlerhaft bestimmt worden. Grob fehlerhaft ist eine soziale Auswahl nur, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt und der Interessenausgleich jede Ausgewogenheit vermissen lässt (zu § 125 InsO: BAG 28. August 2003 – 2 AZR 368/02 – AP InsO § 125 Nr. 1 = EzA InsO § 125 Nr. 1 mwN; 17. November 2005 – 6 AZR 107/05 – AP InsO § 113 Nr. 19 = EzA InsO § 125 Nr. 4, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; zu § 1 Abs. 5 KSchG nF: BT-Drucks. 15/1204; APS-Kiel 2. Aufl. § 1 KSchG Rn. 785k; HaKo-Gallner 2. Aufl. § 1 KSchG Rn. 795; Schaub/Linck Arbeitsrechts-Handbuch 11. Aufl. § 133 Rn. 11; Stahlhacke/Preis/Vossen-Preis Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 1162: “ob der Fehler angesichts derFunktion der Sozialauswahl noch hingenommen werden kann”; ErfK/Ascheid 6. Aufl. § 1 KSchG Rn. 514: “ganz tragende bzw. tragende Gesichtspunkte nicht in die Bewertung einbezogen worden sind”; Willemsen/Annuß NJW 2004, 177, 181: “wenn sich die Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl nicht mehr ernsthaft diskutieren lässt”). Durch § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG soll den Betriebspartnern ein weiter Spielraum bei der Sozialauswahl eingeräumt werden. Das Gesetz geht davon aus, dass ua. durch die Gegensätzlichkeit der von den Betriebspartnern vertretenen Interessen und durch die auf beiden Seiten vorhandene Kenntnis der betrieblichen Verhältnisse gewährleistet ist, dass dieser Spielraum angemessen und vernünftig genutzt wird. Nur wo dies nicht der Fall ist, sondern der vom Gesetzgeber gewährte Spielraum verlassen wird, so dass der Sache nach nicht mehr von einer “sozialen Auswahl” die Rede sein kann, darf grobe Fehlerhaftigkeit angenommen werden. Solange, wie hier, gut nachvollziehbare und ersichtlich nicht auf Missbrauch zielende Überlegungen für die getroffene Eingrenzung des auswahlrelevanten Personenkreises sprechen, ist die Grenze der groben Fehlerhaftigkeit deutlich unterschritten.
II. Die Kündigung ist entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht wegen Verstoßes gegen die Anzeigepflicht des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG rechtsunwirksam.
1. Ob der Kläger den Verstoß gegen die Anzeigepflicht schon deshalb nicht geltend machen kann, weil er die Frist des § 4 Satz 1 KSchG nicht eingehalten hat, braucht der Senat nicht zu entscheiden.
2. Die Beklagte war zwar nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG verpflichtet, vor Ausspruch der Kündigung am 30. August 2004 die Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit anzuzeigen, da die Kündigung Teil einer anzeigepflichtigen Massenentlassung iSd. § 17 KSchG war. Der gesetzliche Schwellenwert war überschritten, weil die Beklagte Ende August 2004 23 Kündigungen bei etwa 50 Arbeitnehmern in R… und unter 200 Arbeitnehmern im Gesamtunternehmen ausgesprochen hat, wie das Landesarbeitsgericht zu Recht festgestellt hat. Entgegen der Auffassung der Revision ist unter “Entlassung” iSv. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG der Ausspruch der Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen, wie der Senat in seiner Entscheidung vom 23. März 2006 (– 2 AZR 343/05 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen) unter Aufgabe der früheren Rechtsprechung angenommen hat.
3. Dennoch ist die Kündigung nicht rechtsunwirksam. Dem steht der Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegen. Der Senat hat die hierfür maßgeblichen Grundsätze bereits im Urteil vom 23. März 2006 (– 2 AZR 343/05 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen) dargestellt.
a) Danach sind die Gerichte als Teil der Staatsgewalt an das Rechtsstaatsprinzip gebunden und müssen bei Änderung ihrer Rechtsprechung, nicht anders als der Gesetzgeber bei Gesetzesänderungen, den Grundsatz des Vertrauensschutzes beachten (BVerfG 14. Januar 1987 – 1 BvR 1052/79 – BVerfGE 74, 129, 153; BGH 18. Januar 1996 – IX ZR 69/95 – BGHZ 132, 6, 11; Löwisch FS Die Arbeitsgerichtsbarkeit 1994 S. 601, 610; Buchner Gedächtnisschrift R…. Dietz 1973 S. 175). Vertrauensschutz bedeutet ua. Schutz vor Rückwirkung. Zwar erzeugen höchstrichterliche Entscheidungen keine dem Gesetzesrecht vergleichbaren Rechtsbindungen. Sie stellen lediglich die Rechtslage in einem konkreten Fall fest. Gleichwohl kann und darf ein Bürger auf die durch die höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisierte Rechtslage und deren Bestand vertrauen. Er wird nicht unterscheiden müssen – und auch nicht können –, ob sich die Rechtslage direkt aus der Norm erschließt oder sich aus den Konkretisierungen der Rechtsprechung ergibt. Dennoch soll sich der Betroffene darauf verlassen dürfen, dass an einen abgeschlossenen Tatbestand nachträglich keine anderen – ungünstigeren – Voraussetzungen gestellt werden, als sie im Zeitpunkt der Vollendung des Sachverhalts gefordert wurden. Der Bürger darf erwarten und sich darauf verlassen, dass sein zum Zeitpunkt der Handhabung rechtlich gefordertes Verhalten von der Rechtsprechung nicht nachträglich als rechtswidrig oder nicht ausreichend qualifiziert wird (BVerfG 22. März 1983 – 2 BvR 475/78 – BVerfGE 63, 343, 357). Anders als in den Fällen, in denen es um die – bloße – rechtliche Beurteilung der Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts geht, liefe es in den Fällen, in denen ein Gestaltungsrecht bereits ausgeübt worden ist, auf eine unzulässige, im Ergebnis echte Rückwirkung hinaus, wenn eine Rechtsprechungsänderung voll durchschlüge. Deshalb darf nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine Rechtsprechungsänderung regelmäßig nicht dazu führen, einer Partei rückwirkend Handlungspflichten aufzuerlegen, die sie nachträglich nicht mehr erfüllen kann (29. März 1984 – 2 AZR 429/83 (A) – AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 31; 18. Januar 2001 – 2 AZR 616/99 – AP LPVG Niedersachsen § 28 Nr. 1 = EzA BGB § 620 Krankheit Nr. 4; vgl. auch 21. Januar 1999 – 2 AZR 624/98 – AP KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 3 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 39; Düwell Das reformierte Arbeitsrecht (2005) Kapitel 4 Abschnitt 4 Rn. 17; Medicus WM 1997, 2333, 2337).
Zwar wirkt die Änderung einer auch lange geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich zurück, soweit dem nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegensteht. Eine über § 242 BGB hinausgehende Einschränkung der Rückwirkung höchstrichterlicher Rechtsprechung ist aber geboten, wenn die von der Rückwirkung betroffene Partei auf die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung vertrauen durfte und die Anwendung der geänderten Auffassung wegen ihrer Rechtsfolgen im Streitfall oder der Wirkung auf andere vergleichbare Rechtsbeziehungen auch unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Prozessgegners eine unzumutbare Härte bedeuten würde (vgl. BGH 29. Februar 1996 – IX ZR 153/95 – BGHZ 132, 119, 130; BAG 18. Januar 2001 – 2 AZR 616/99 – AP LPVG Niedersachsen § 28 Nr. 1 = EzA BGB § 620 Krankheit Nr. 4).
b) Eine solche Situation ist nach Auffassung des Senats gegeben.
aa) Für die Erstattung der Massenentlassungsanzeige hatte die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auf die “Entlassung” und damit auf den tatsächlichen Beendigungszeitpunkt als maßgeblichen Anknüpfungspunkt für die Anwendung des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG abgestellt. Der Senat hat diese Auffassung zuletzt noch einmal umfassend in seiner Entscheidung vom 18. September 2003 (– 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318) bestätigt. Bei Ausspruch der Kündigung war eine Rechtsprechungsänderung des Bundesarbeitsgerichts im Zuge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen gesetzlichen Regelungen nicht zu erwarten. Dies gilt umso mehr, als sich der Senat in der Entscheidung vom 18. September 2003 (aaO) auch inhaltlich eingehend mit der MERL auseinander gesetzt und eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 17 ff. KSchG – das Verständnis von “Entlassung” als “Kündigung” im Sinne der nachfolgend ergangenen Entscheidung des EuGH vom 27. Januar 2005 (– C-188/03 – EuGHE I 2005, 885) unterstellend – als nicht möglich angesehen hatte.
bb) Auch die ganz herrschende Auffassung in der Literatur und in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung hatte sich dieser Auffassung des Bundesarbeitsgerichts angeschlossen. Hinzu kommt, dass die Agenturen für Arbeit ihre Verwaltungspraxis entsprechend gestaltet und eingerichtet hatten. Diesen Umständen kommt im Rahmen der Prüfung, ob dem betroffenen Arbeitgeber Vertrauensschutz zu gewähren ist, ein ganz erhebliches Gewicht zu. Der Arbeitgeber muss sich insbesondere auf eine Entscheidung der Arbeitsverwaltung verlassen und sein Verhalten daran ausrichten können (vgl. auch KR-Weigand 7. Aufl. § 17 KSchG Rn. 101; Mauthner Die Massenentlassungsrichtlinie der EG und ihre Bedeutung für das deutsche Massenentlassungsrecht 2004 S. 223 mwN; Kliemt FS 25 Jahre ARGE Arbeitsrecht S. 1237, 1250).
Die Beklagte konnte deshalb darauf vertrauen, richtig verfahren zu sein, wenn sie von einer Anzeige absah, da bei Zugrundelegung der im Zeitpunkt der Kündigung gültigen Rechtsprechung des Senats keine Anzeigepflicht bestand.
cc) Dieses Vertrauen ist auch nicht durch relevante Aspekte vor dem Zugang der streitgegenständlichen Kündigung beseitigt worden. Das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Auslegung des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG kann frühestens mit der Bekanntgabe der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 entfallen sein (Senat 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; siehe auch BAG 13. Juli 2006 – 6 AZR 198/06 –).
(1) Zunächst bleibt festzuhalten, dass der Europäische Gerichtshof zur Auslegung der MERL und der hier maßgeblichen Frage vor der Entscheidung “Junk” am 27. Januar 2005 inhaltlich nicht judiziert und der Senat – wie dargestellt – vielmehr dem Begriff der Entlassung auch in Anbetracht der MERL eine andere Bedeutung beigemessen hatte.
(2) Der Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 30. April 2003 (– 36 Ca 19726/02 – ZIP 2003, 1265) und die Thesen von Hinrichs in ihrer im Jahr 2001 erschienenen Dissertation “Kündigungsschutz und Arbeitnehmerbeteiligung bei Massenentlassung” konnten das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht relevant erschüttern. Es kann dahingestellt bleiben, wann dieser Vorlagebeschluss allgemein bekannt geworden war. Jedenfalls brauchte sich die Beklagte durch die Entscheidung eines einzelnen Arbeitsgerichts und vereinzelte Literaturstimmen noch nicht in ihrem Vertrauen auf die Maßgeblichkeit einer bisher gefestigten ständigen Rechtsprechung und Verwaltungspraxis irritieren zu lassen. Dies gilt umso mehr, als der Senat noch in der Entscheidung vom 18. September 2003 (– 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318) differenziert zu der Thematik Stellung genommen hatte.
(3) Schließlich konnte das Vertrauen in die bisherige Rechtslage auch nicht durch die Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano vom 30. September 2004 (vgl. ZIP 2004, 2019) erschüttert werden. Dessen Schlussanträge lagen im Übrigen zum Zeitpunkt der Kündigung auch noch nicht vor (vgl. auch LAG Köln 10. Mai 2005 – 1 Sa 1510/04 – ZIP 2005, 1524).
dd) Das Vertrauen der Beklagten ist schutzwürdig. Dem vorgehende schutzwürdige Interessen des Klägers sind nicht beeinträchtigt.
Es würde deshalb eine unzumutbare Härte für den Beklagten bedeuten, wenn allein wegen des durch die Rechtsprechungsänderung entstandenen formellen Fehlers, der für die Beklagte nicht absehbar war, die Kündigung unwirksam wäre. Zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs wurde eine entsprechende Anzeigepflicht weder von der ständigen Verwaltungspraxis noch von der Rechtsprechung gefordert. Durch eine entsprechende Unwirksamkeit der Kündigung könnten nicht nur in zahlreichen Altfällen erhebliche finanzielle Nachteile entstehen. Auch dem mit der Anzeigepflicht verbundenen Zweck der MERL wäre nicht besser gedient. Die Anzeigepflicht bezweckt nach wie vor nicht primär einen Schutz der Arbeitnehmer vor Entlassung, sondern dient dem Ziel einer effektiven Verwaltung der Massenentlassung und -arbeitslosigkeit und damit vor allem arbeitsmarktpolitischen Zwecken. Dementsprechend werden auch keine relevanten individual-rechtlich geschützten Interessen des Klägers betroffen. Dies gilt selbst dann, wenn man berücksichtigt, dass der Kläger einen Anspruch auf ein nach materiellem Recht richtiges Urteil hat (Medicus WM 1997, 2333, 2337). Eine Partei, die das Recht auf ihrer Seite hat, muss allerdings ein ihr ungünstiges Urteil ausnahmsweise hinnehmen, wenn dies der Vertrauensschutz für den Prozessgegner gebietet. Dies ist anzunehmen, wenn nunmehr eine Handlung als fehler- oder schuldhaft qualifiziert wird, die zur Zeit ihrer Vornahme der damals herrschenden Rechtsüberzeugung entsprach (Medicus NJW 1995, 2577, 2580; ders. WM 1997, 2333, 2337).
Betrachtet man diese Aspekte und wägt sie gegeneinander ab, so ist im Hinblick auf das Vertrauen der Beklagten einerseits und unter Berücksichtigung der Interessen des Klägers andererseits eine unzumutbare Härte anzuerkennen.
c) Dem Senat ist die Entscheidung über den Vertrauensschutz auch nicht “entzogen”.
Der Senat war insbesondere nicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof verpflichtet (so Schiek AuR 2006, 41, 43 f.). Er hat lediglich seine eigene Rechtsprechung und die Auslegung der nationalen Regelungen des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG an das Gemeinschaftsrecht angepasst. Er hat kein Gemeinschaftsrecht ausgelegt, sondern das nationale Kündigungsschutzrecht “richtlinienkonform” angewendet, indem er den Begriff der “Entlassung” in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG zukünftig im Sinne der vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Auslegung der Richtlinie verstanden wissen will. Damit handelt es sich um eine Frage der nationalen Rechtsanwendung (vgl. Canaris FS Bydlinski S. 47, 64; Piekenbrock ZZP 2006, 3, 30).
d) Der Beklagten kann der Vertrauensschutz nicht, wie das Landesarbeitsgericht meint, deshalb entzogen werden, weil sie die Termine, zu denen sie gekündigt hat, bewusst so gewählt hat, dass bei Zugrundelegung der früheren Rechtsprechung die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG gerade eben nicht erreicht wurden. Der Beklagten stand es frei, den – nach der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung – vom Gesetz eingeräumten Handlungsspielraum zu nutzen. Wer sich innerhalb des gesetzlichen Handlungsrahmens bewegt, missbraucht in aller Regel das Gesetz nicht, sondern er beachtet es. Im Übrigen entspricht die Streckung von Kündigungsterminen den auf den Arbeitsmarkt bezogenen Zielsetzungen von §§ 17, 18 KSchG.
e) Ebenso ist der Beklagten der Vertrauensschutz nicht deshalb zu versagen, weil sie es, wie das Landesarbeitsgericht ausführt, versäumt hat, “sich ihr offensichtliches Vertrauen in den Fortbestand der bisherigen Praxis der Bundesagentur sozusagen amtlich bestätigen zu lassen”. Für die Einholung einer solchen “amtlichen” Bestätigung bestand keine Veranlassung. Dass die Beklagte auf die bisherige Rechtsprechung tatsächlich vertraut hat, stellt das Landesarbeitsgericht selbst nicht in Abrede. War dies aber so, dann wäre es widersinnig gewesen, einen Bescheid der Arbeitsagentur einzuholen, dessen Inhalt aus ihrer Sicht – und auch aus Sicht des Landesarbeitsgerichts – von vornherein feststand. Betätigtes Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage bedeutet, sie als sicher anzunehmen und seine Handlungen danach auszurichten. Eben dies hat die Beklagte getan.
f) Schließlich kann der Beklagten auch nicht vorgehalten werden, sie habe es versäumt, nachträglich zu versuchen, die Massenentlassung anzuzeigen. Vertrauensschutz wird gewährt, wenn und soweit der Rechtsunterworfene sich in seinen Handlungspflichten auf eine bestehende Rechtslage eingerichtet hat. Gegenstand des Vertrauensschutzes ist also die betreffende Handlung. Die nachträgliche Anzeige konnte weder an dem Verstoß der Beklagten gegen § 17 Abs. 1 KSchG noch an dem Umstand, dass die Beklagte bei Ausspruch der Kündigung auf die damalige Rechtslage vertraute, etwas ändern.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Unterschriften
Rost, Eylert, Schmitz-Scholemann, Baerbaum, Beckerle
Fundstellen