Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachwirkung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags
Leitsatz (amtlich)
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 21. Juli 1999 – 8 Sa 32/99 – aufgehoben, soweit es der Berufung der Beklagten stattgegeben hat.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 13. Januar 1999 – 12 Ca 257/98 – wird insgesamt zurückgewiesen.
- Die Revision der Beklagten wird zurückgewiesen.
- Die Beklagte hat die Kosten der Berufung und die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Normenkette
TVG § 5 Abs. 5 S. 3, Abs. 4, § 4 Abs. 1, 5, § 3 Abs. 1, 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Parteien, die nicht tarifgebunden sind, streiten um die Zahlung des tariflichen Urlaubsgeldes und der tariflichen Sonderzuwendung für die Jahre 1997 und (anteilig) 1998.
Die Beklagte betreibt einen Einzelhandel mit Lederwaren und Accessoires mit insgesamt sechs Geschäften. Die Klägerin war für die Beklagte seit Mai 1990 als Verkäuferin in Teilzeit mit 25,5 Stunden pro Woche tätig. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag existiert nicht. Die Klägerin ist auf Grund eigener Kündigung am 30. September 1998 bei der Beklagten ausgeschieden.
Der Manteltarifvertrag für den Hamburger Einzelhandel vom 18. Juni 1993 (MTV 1993), der durch Erklärung vom 15. Februar 1994 für allgemeinverbindlich erklärt worden ist, wurde fristgemäß zum 31. Dezember 1996 gekündigt. Am 8. August 1997 wurde zwischen den Tarifvertragsparteien ein neuer Manteltarifvertrag (MTV 1997) abgeschlossen. In § 22 MTV ist bestimmt:
“
- Dieser Manteltarifvertrag tritt mit dem 01. Januar 1998 in Kraft.
- Der Manteltarifvertrag vom 18. Juni 1993 sowie der Tarifvertrag zur Umsetzung des geänderten Ladenschlussgesetzes vom 27. September 1996 treten zum 31. Dezember 1997 außer Kraft.
- Der Tarifvertrag kann von jeder Vertragspartei mit einer Frist von 6 Monaten – frühestens zum 31. Dezember 1999 – gekündigt werden.
- Bis zum Inkrafttreten eines neuen Tarifvertrages gelten die Rechtsnormen des alten Tarifvertrages weiter.
”
Der MTV 1997 ist nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden.
Nach § 11 C 1 MTV 1993 erhielten die Beschäftigten ab dem 1. Januar 1996 ein Urlaubsgeld in Höhe von 55 % des jeweiligen tariflichen Entgeltanspruches des letzten Berufsjahres der Verkäufer/-innengruppe (Gehaltstarifvertrag, Gruppe 2a). Gemäß § 12 B 1 MTV 1993 betrug die tarifliche Sonderzuwendung ab dem 1. Januar 1996 60 % des jeweils den Anspruchsberechtigten nach ihrer tariflichen Eingruppierung zustehenden regelmäßigen Tarifentgelts. In dem MTV 1997 haben die Tarifvertragsparteien den Prozentsatz des Urlaubsgeldes von 55 % auf 50 % ermäßigt und den der tariflichen Sonderzuwendung von 60 % auf 62,5 % erhöht.
Die Beklagte hat an die Klägerin und die anderen Beschäftigten das tarifliche Urlaubsgeld und die tarifliche Sonderzuwendung bis einschließlich des Jahres 1996 gezahlt. Nachdem sie das Urlaubsgeld im Jahre 1997 nicht gezahlt hatte, richtete sie an die Mitarbeiter im Oktober 1997 das folgende Rundschreiben:
Liebe Mitarbeiter/innen,
die äußerst angespannte wirtschaftliche Situation und die rückläufigen Umsatzzahlen zwingen uns heute zu diesem Mitteilungsschreiben.
Die langjährigen Mitarbeiter waren es gewohnt, das Urlaubsgeld pünktlich entsprechend dem Manteltarifvertrag ausbezahlt zu bekommen.
Leider können wir in diesem Jahr auch im Oktober diese Zahlung noch nicht vornehmen, wir werden uns jedoch bemühen, dieser Verpflichtung schnellstens nachzukommen und geben Ihnen die Zusage, daß spätestens mit der Märzabrechnung 1998 das Urlaubsgeld zur Auszahlung kommt.
Die Geschäftsführung ist natürlich über diese Situation nicht glücklich, hofft aber auf Ihr Verständnis.
Mit ihrer Klage macht die Klägerin das Urlaubsgeld und die Sonderzuwendung für 1997 und für 1998 (anteilig) geltend. Sie ist der Meinung, daß der MTV 1993 trotz der Kündigung zum 31. Dezember 1996 kraft Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG für ihr Arbeitsverhältnis gelte und daß diese Nachwirkung auch nicht durch den nicht für allgemeinverbindlich erklärten MTV 1997 beendet worden sei.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie
- 2.756,72 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich ergebenden Nettobetrag aus 1.547,95 DM ab 1. Dezember 1997 und aus 1.208,77 DM ab 1. April 1998 zu zahlen,
- weitere 906,58 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 9. September 1998 sowie weitere 1.160,96 DM brutto am 30. November 1998 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klageanträge abzuweisen. Sie ist der Meinung, daß die Klägerin aus dem zum 31. Dezember 1996 gekündigten MTV 1993 für die Jahre 1997 und 1998 die Ansprüche auf Urlaubsgeld und Sonderzuwendung nicht ableiten könne. § 4 Abs. 5 TVG begründe keine Nachwirkung des allgemeinverbindlichen MTV 1993 zugunsten der Klägerin als Außenseiterin. Jedenfalls sei eine etwaige Nachwirkung mit dem Inkrafttreten des MTV 1997 am 1. Januar 1998 entfallen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage im Hinblick auf die Ansprüche für 1998 abgewiesen und die Revision zugelassen. Die Klägerin begehrt mit ihrer Revision im Ergebnis die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Beklagte verfolgt mit ihrer Revision, daß die Klage auch im übrigen abgewiesen wird.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet, während der Revision der Beklagten kein Erfolg beschieden ist. Der Klägerin steht das tarifliche Urlaubsgeld und die Sonderzuwendungen nach den §§ 11, 12 MTV 1993 nicht nur, wie vom Landesarbeitsgericht entschieden, für das Jahr 1997 zu, sondern auch für 1998.
Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, daß der allgemeinverbindliche MTV 1993 trotz der Kündigung zum 31. Dezember 1996 gem. § 4 Abs. 5 TVG auch gegenüber der nicht tarifgebundenen Klägerin nachwirkt.
Die Nachwirkung des MTV 1993 ist entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht durch das Inkrafttreten des MTV 1997 beendet worden, so daß der Klägerin auch das Urlaubsgeld und die Sonderzuwendung für das Jahr 1998 zusteht.
- Die Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG kann nur durch eine Abmachung beendet werden, die auf das jeweilige Arbeitsverhältnis Anwendung findet (BAG 27. November 1991 – 4 AZR 211/91 – BAGE 69, 119; 14. Februar 1991 – 8 AZR 166/90 – BAGE 67, 222). Das ergibt sich aus der Überbrückungsfunktion der Nachwirkung. Demgemäß wird die Nachwirkung der Tarifnormen für Außenseiter nicht bereits durch das Inkrafttreten eines nicht oder noch nicht für allgemeinverbindlich erklärten neuen Tarifvertrages beendet (BAG 27. November 1991 – 4 AZR 211/91 – aaO). Dem hat sich das Schrifttum weitgehend angeschlossen (Däubler Tarifvertragsrecht 3. Aufl. Rn. 1456; ErfK-Schaub 2. Aufl. TVG § 4 Rn. 77; Frölich NZA 1992, 1105, 1110; Wiedemann/Wank TVG 6. Aufl. § 5 Rn. 126 und § 4 Rn. 354).
- Die von der Revision vorgetragenen Gegenargumente, auch soweit sie in den Parallelverfahren vorgetragen worden sind, können ebensowenig überzeugen wie die des Landesarbeitsgerichts. Die Nachwirkung für die Außenseiter auch über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Tarifvertrages hinaus widerspricht entgegen der Auffassung der Revision nicht dem Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung im Sinne der Gleichstellung von Organisierten und Nichtorganisierten. Denn es geht gerade nicht um die Gleichstellung von Organisierten und Nichtorganisierten durch die Allgemeinverbindlicherklärung, sondern um die Rechtsfolgen nach Ende der Allgemeinverbindlichkeit. Im übrigen wird durch die Anerkennung der Nachwirkung auch für die Außenseiter zunächst eine Gleichstellung vorgenommen, die sich allerdings insoweit unterscheidet, als für die Ablösung der Nachwirkung unterschiedliche Instrumentarien zur Verfügung stehen.
- Das Ende der Nachwirkung kann entgegen der Auffassung der Revision auch nicht mit der fehlenden Allgemeinverbindlichkeit des MTV 1997 begründet werden. Weil es keine Fristen für den Beginn und die Dauer des Verfahrens gibt, kann der negative Umstand, daß der Nachfolgetarifvertrag nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden ist, als Zeitpunkt für die Beendigung der Nachwirkung gar nicht bestimmt werden. Die dargelegten Grundsätze zur Ablösung der Nachwirkung dürften auch dagegen sprechen, anzunehmen, daß die Nachwirkung ausnahmsweise dann endet, wenn in dem Verfahren um die Allgemeinverbindlicherklärung diese abgelehnt wird (vgl. dazu Krebs aaO S 137; Oetker aaO S 26). Diese Frage kann aber offenbleiben, weil ein solcher Umstand nicht festgestellt worden ist.
Die Nachwirkung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages gegenüber Außenseitern gem. § 4 Abs. 5 TVG verstößt entgegen der Revision auch nicht gegen Art. 9 Abs. 3 GG.
- Insbesondere kann sich die Revision nicht mit Erfolg darauf berufen, daß nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Ablauf des Tarifvertrages jegliche Wirkung der Tarifnormen gegenüber Außenseitern enden müsse. Die von der Revision zitierten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts aus dessen Beschluß vom 24. Mai 1977 (– 2 BvL 11/74 – AP TVG § 5 Nr. 15, zu II 2b a E der Gründe) geben lediglich inhaltlich die gesetzliche Regelung in § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG wieder. Ausführungen über die Verfassungsmäßigkeit der Nachwirkung nach Beendigung der Allgemeinverbindlichkeit sind darin nicht enthalten.
- Ebenfalls unzutreffend ist das Argument, daß auch die Nachwirkung durch eine staatliche Entscheidung legitimiert werden müsse. Dabei wird verkannt, daß nur die Entscheidung über die Allgemeinverbindlichkeit und deren Dauer in die Entscheidungskompetenz einer staatlichen Instanz fällt, nicht aber die Nachwirkung und deren Dauer, die als abgeschwächte statische und dispositive Bindung gem. § 4 Abs. 5 TVG, wie dargelegt, nur eine Überbrückungsfunktion hat.
- Richtig ist zwar, daß auch die Nachwirkung allgemeinverbindlicher Tarifverträge für Außenseiter mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar sein muß. Auch insoweit bestehen aber entgegen der Auffassung der Revision keine durchschlagenden Bedenken. Die durch die statische Nachwirkung begründete dispositive Bindung des Arbeitgebers ist nicht so einschneidend wie die durch die Allgemeinverbindlichkeit begründete Tarifgebundenheit. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist die Allgemeinverbindlicherklärung von tarifvertraglichen Inhaltsnormen mit der Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar, auch in ihrer Ausprägung als negative bzw. kollektive Koalitionsfreiheit, insbesondere weil diese Grundrechte nicht unmittelbar rechtlich betroffen sind, sondern es sich nur um faktische Auswirkungen handelt (BVerfG aaO, zu II 2e der Gründe). Das gilt erst recht für die schwächere Bindung des Arbeitgebers aufgrund der Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG.
Entgegen der Auffassung der Revision ist die Nachwirkung auch nicht durch § 22 Ziff. 3 MTV 1997 beendet worden.
Es sind bereits keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß die Regelung in § 22 Ziff. 3 MTV 1997 überhaupt auf die Beendigung der Nachwirkung für die Außenseiter gerichtet ist. Dem Wortlaut nach ist sie allein auf das Außerkrafttreten des MTV 1993 mit dem 31. Dezember 1997 gerichtet, was angesichts der Kündigung zum 31. Dezember 1996 nur bedeuten kann, daß an Stelle der Nachwirkung vom 1. Januar 1997 bis zum 31. Dezember 1997 die Weitergeltung des MTV 1993 während dieses Zeitraums begründet werden sollte.
Ob diese Regelung als eigenständiger Tarifvertrag zu verstehen ist und aus welchem Grund diese Regelung getroffen worden ist, kann offenbleiben. Es ist jedenfalls nicht erkennbar, daß damit eine Regelung über die Beendigung der Nachwirkung getroffen wurde oder auch nur getroffen werden sollte. Vielmehr wird durch die Vereinbarung des 31. Dezember 1997 als Termin für das Außerkrafttreten des bereits zum 31. Dezember 1996 gekündigten MTV 1993 dessen unmittelbare Geltung für die mitgliedschaftlich Tarifgebundenen verlängert. Die Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG wird dadurch nicht, was grundsätzlich rechtlich möglich ist, tarifvertraglich ausgeschlossen, sondern lediglich faktisch verhindert, weil der Nachfolgetarifvertrag unmittelbar im Anschluß daran in Kraft trat.
Selbst wenn man die Regelung in § 22 Ziff. 2 MTV 1997, daß der MTV 1993 zum 31. Dezember 1997 “außer Kraft” trete, nicht nur als Regelung über die Geltungsdauer, sondern als Ausschluß der Nachwirkung auslegen würde, wäre hierdurch die Nachwirkung des MTV 1993 gegenüber der Klägerin als Außenseiterin nicht beendet. Denn der MTV 1997 und damit auch § 22 MTV 1997 ist nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden und kann somit gegenüber der Klägerin als Außenseiterin keine Geltung beanspruchen. Der Ausschluß der Nachwirkung kann nur dann auch gegenüber den Außenseitern gelten, wenn sie in dem Tarifvertrag selbst enthalten ist.
- Weil die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche bereits aufgrund der Nachwirkung des allgemeinverbindlichen MTV 1993 für die Klägerin als Außenseiterin begründet sind, kommt es nicht darauf an, ob einzelne dieser Ansprüche der Klägerin bereits aus anderen Gründen zustehen. So ist von den Vorinstanzen nicht geprüft worden, ob durch das Rundschreiben der Beklagten vom Oktober 1997 ein individualrechtlicher Anspruch auf Zahlung jedenfalls des Urlaubsgeldes 1997 begründet worden ist. Es bedarf auch keiner Klärung, ob durch die Regelung in § 22 MTV 1997 auch für die Außenseiter die Geltung des MTV 1993 wiederhergestellt worden ist, und zwar mit der Begründung, daß dadurch der Ablauf des Tarifvertrages und damit auch das Ende der Allgemeinverbindlichkeit gem. § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG rückwirkend auf einen späteren Zeitpunkt verlegt worden sei.
- Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Schliemann, Friedrich, Wolter, Valentien, H. Scherweit-Müller
Fundstellen