Entscheidungsstichwort (Thema)
Lohnfortzahlung bei Alkoholabhängigkeit
Normenkette
LFZG § 7 Abs. 1, § 1 Abs. 1 S. 1; SGB X § 115 Abs. 1; ZPO § 561 Abs. 2
Verfahrensgang
Hessisches LAG (Urteil vom 06.02.1991; Aktenzeichen 1 Sa 1185/89) |
ArbG Frankfurt am Main (Urteil vom 13.04.1989; Aktenzeichen 13 Ca 127/86) |
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 6. Februar 1991 – 1 Sa 1185/89 – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin aus übergegangenem Recht (§ 115 Abs. 1 SGB X) Lohnfortzahlung schuldet.
Bei der Beklagten ist seit dem 1. Oktober 1956 der am 30. April 1932 geborene, alleinstehende Arbeiter E. T. (im folgenden kurz: der Versicherte) beschäftigt und bei der Klägerin rentenversichert. Er leidet seit Jahren an Alkoholsucht. Nach einer stationären Entgiftung unterzog er sich vom 9. Juli 1984 bis zum 8. Januar 1985 einer von der Klägerin bewilligten Entziehungskur. Die Beklagte zahlte ihm vom 9. Juli 1984 ab für sechs Wochen den Lohn weiter. Gegenüber seiner Arbeitgeberin verpflichtete er sich, im Anschluß an die Kur einmal wöchentlich eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen.
Wegen erneuten erheblichen Alkoholgenusses am 16. Mai 1985 war der Versicherte vom 31. Mai bis zum 18. Juni 1985 arbeitsunfähig. Die Beklagte gewährte ihm für diese Zeit keine Lohnfortzahlung. Nach einer erneuten stationären Entgiftung (vom 11. bis zum 21. Oktober 1985) unternahm er eine weitere, von der Klägerin gebilligte Entwöhnungskur vom 22. Oktober 1985 bis zum 21. Januar 1986, Da die Beklagte ihm wiederum den Lohn nicht weiterzahlte, gewährte die Klägerin ihm ab 22. Oktober 1985 Übergangsgeld von täglich 49,25 DM und verlangte von der Beklagten mit Schreiben vom 10. Dezember 1985 für die Zeit bis zum 21. November 1985 die Zahlung des zwischen den Parteien unstreitigen Gesamtbetrages von 1.526,75 DM. Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 19. Dezember 1985 ab.
Mit ihrer am 24. März 1986 eingereichten Klage hat die Klägerin geltend gemacht, dem Versicherten habe ab 11. Oktober 1985 für die Dauer von sechs Wochen Lohnfortzahlung zugestanden. Für den geltend gemachten Zeitraum sei dieser Anspruch in Höhe des an T. gezahlten Übergangsgeldes auf sie übergegangen. Während seiner zweiten Entziehungskur sei der Versicherte unverschuldet krankheitsbedingt arbeitsunfähig gewesen, da er durch die erste Kur nicht endgültig von seiner Alkoholsucht geheilt worden sei.
Die Klägerin hat daher beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.526,75 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 3. April 1986 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, der Versicherte habe seine Arbeitsunfähigkeit während der zweiten Entziehungskur im Sinne des Lohnfortzahlungsrechts selbst verschuldet. Sie sei daher zur Lohnfortzahlung nicht verpflichtet gewesen. Der Versicherte sei während der ersten Kur über die Sucht und deren Folgen aufgeklärt und vor weiterem Alkoholkonsum gewarnt worden. Der spätere Rückfall in den Konsum erheblicher Mengen Alkohol mit anschließender erneuter Entziehungskur sei daher als selbst verschuldet anzusehen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die Revision, mit der die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgt.
Entscheidungsgründe
Die Revision bleibt ohne Erfolg.
Dem Versicherten stand für die streitbefangene Zeit ein Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle zu (§ 7 Abs. 1, § 1 Abs. 1 Satz 1, § 2 Abs. 1 LFZG). Dieser Anspruch ist in der geltend gemachten Höhe auf die Klägerin übergegangen (§ 115 Abs. 1 SGB X).
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Versicherte habe gegen die Beklagte für den streitigen Zeitraum einen Anspruch auf Lohnfortzahlung erworben, da ihn an dem erlittenen Rückfall in die Alkoholsucht kein Verschulden treffe. Nach den eingeholten Sachverständigengutachten sei die erste Langzeitkur vom 9. Juli 1984 bis zum 8. Januar 1985 nicht hinreichend erfolgreich verlaufen. Übereinstimmend hätten die Gutachter festgestellt, daß T. nach der Kur noch nicht in der Lage gewesen sei, die ihm dort erteilten Ratschläge und Warnungen vor künftigem Alkoholgenuß im Alltagsleben zu befolgen. Insbesondere die gutachterliche Untersuchung durch Prof. Dr. B. habe ergeben, daß die Heilbehandlung des Versicherten nicht so weit fortgeschritten gewesen sei, daß dieser in für ihn schwierigen Konfliktlagen das Bedürfnis nach Alkohol habe beherrschen können. Das schließe aber eine Vorwerfbarkeit des Rückfalls aus. Im übrigen könne der Rückfall in den Alkoholkonsum grundsätzlich kein Verschulden im Sinne des Lohnfortzahlungsrechts begründen, da das Rückfallrisiko zum Krankheitsbild der Alkoholsucht gehöre. Wenn die Beklagte nunmehr zum zweiten Mal mit Lohnfortzahlung wegen der Alkoholabhängigkeit belastet werde, sei dies ebensowenig mißbräuchlich wie bei anderen Erkrankungen.
Das aufgrund besonderer tatsächlicher Feststellungen gefundene Subsumtionsergebnis des Landesarbeitsgerichts ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
II.1. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 LFZG hat ein Arbeiter Anspruch auf Lohnfortzahlung bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn ihm ein Träger der Sozialversicherung eine Heilkur bewilligt und die vollen Kosten einer solchen Kur übernimmt. In diesem Fall gelten die Vorschriften der §§ 1, 2 und 4 bis 6 LFZG entsprechend. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 LFZG behält der Arbeiter, der durch Arbeitsunfähigkeit infolge unverschuldeter Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert wird, den Anspruch auf Arbeitsentgelt für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen. Krankheit im medizinischen Sinne ist jeder regelwidrige körperliche oder geistige Zustand (BAGE 10, 183, 184 = AP Nr. 21 zu § 63 HGB, zu 2 a der Gründe; BAGE 43, 54, 57 = AP Nr. 52 zu § 1 LohnFG, zu I 2 der Gründe; aus neuerer Zeit: BAGE 48, 1, 3 = AP Nr. 62 zu § 1 LohnFG, zu I 1 der Gründe; jeweils m.w.N.). Von diesem medizinischen Begriff der Krankheit ist auch bei Anwendung des § 1 LFZG auszugehen (vgl. BAGE 48, 1, 3 = AP, a.a.O.). Arbeitsunfähig infolge Krankheit ist der Arbeiter dann, wenn ein Krankheitsgeschehen ihn außerstand setzt, die ihm nach dem Arbeitsvertrag obliegende Arbeit zu verrichten, oder wenn er die Arbeit nur unter der Gefahr fortsetzen könnte, in absehbar naher Zeit seinen Zustand zu verschlimmern (BAGE 48, 1, 3 = AP, a.a.O., m.w.N.).
Alkoholabhängigkeit (Alkoholismus) ist eine Krankheit im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 LFZG. Das hat der Senat im Urteil vom 1. Juni 1983 (BAGE 43, 54 = AP Nr. 52 zu § 1 LohnFG) mit ausführlicher Begründung klargestellt. Bei allen mit Alkoholabhängigkeit zusammenhängenden Fragen der Lohnfortzahlungspflicht im Krankheitsfalle des Arbeiters spielt die Frage des Verschuldens regelmäßig eine entscheidende Rolle. Es gelten auch insoweit die allgemeinen Grundsätze.
2. Schuldhaft im Sinne des Vergütungsfortzahlungsrechts im Krankheitsfalle handelt der Arbeitnehmer, der in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt (vgl. nur BAGE 57, 380, 382 = AP Nr. 77 zu § 1 LohnFG, zu I 1 der Gründe, mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum).
a) In dem eben erwähnten Urteil des Senats vom 1. Juni 1983 hat der Senat für die Verschuldens frage bei Beginn einer krankhaften Alkoholabhängigkeit näher ausgeführt, es gebe keinen Erfahrungssatz, wonach der Arbeiter eine krankhafte Alkoholabhängigkeit in der Regel selbst verschuldet habe. Maßgebend sei vielmehr die Beurteilung im Einzelfall. Will der Arbeitgeber geltend machen, der Arbeiter habe die Entstehung seiner krankhaften Alkoholabhängigkeit selbst verschuldet, muß er – wie in allen anderen Fällen körperlicher oder geistiger Erkrankung des Arbeitnehmers – das Verschulden darlegen und beweisen (vgl. nur BAGE 43, 54, 62 f. = AP Nr. 52 zu § 1 LohnFG, zu II 1 der Gründe). Allerdings trifft den Arbeiter, der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle bei Alkoholabhängigkeit fordert, eine Pflicht zur Mitwirkung an der Aufklärung aller für die Entstehung des Anspruchs erheblichen Umstände (vgl. im einzelnen BAGE 43, 54, 63 ff. = AP, a.a.O., zu II 2, 3 und 4 der Gründe).
b) Weiter hat der Senat es unter Hinweis auf zwei Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Januar 1980 (DÖV 1980, 380; 1980, 382) als möglich angesehen, daß das Verschulden eines Arbeitnehmers, der sich bereits einer intensiven stationären Entwöhnungskur unterzogen hat, anders zu beurteilen sein kann als das Verschulden eines Arbeitnehmers vor Eintritt der Alkoholabhängigkeit (BAGE 43, 54, 61 = AP, a.a.O., zu I 3 c a.E. der Gründe). In Fortführung dieses Gedankens war der Senat in seinem Urteil vom 11. November 1987 – 5 AZR 497/86 – (BAGE 56, 321 = AP Nr. 75 zu § 616 BGB) zu der Klarstellung veranlaßt, auch bei einem Rückfall in den Alkoholmißbrauch nach einer Entziehungskur trage der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast für ein Verschulden des Arbeitnehmers an der Krankheit, wobei es dann jedoch nicht mehr allein darum gehe, ob der Arbeitnehmer die Entstehung seiner Alkoholabhängigkeit verschuldet habe oder nicht, sondern nunmehr vor allem darum, ob er sich ein Verschulden an der wiederholten Erkrankung entgegenhalten lasse müsse (BAGE 56, 321, 325 = AP, a.a.O., zu II 2 der Gründe).
Dieser Entscheidung lag der Fall eines alkoholkranken Arbeitnehmers zugrunde, dem es gelungen war, nach einer Entgiftungs- und Entziehungsbehandlung fünf Monate abstinent zu bleiben, der sich dann jedoch wieder dem Alkohol zugewandt hatte. Angesichts dieser besonderen Umstände hat der Senat weiter ausgeführt: Der Arbeitnehmer, der eine Entziehungskur durchgemacht hat, kenne die Gefahren des Alkohols für sich sehr genau. Er sei bei der Behandlung eingehend darauf hingewiesen und weiter dringend ermahnt worden, in Zukunft jeden Alkoholgenuß zu vermeiden. Werde der Arbeitnehmer nach erfolgreicher Beendigung einer Entwöhnungskur und weiter nach einer längeren Zeit der Abstinenz dennoch wieder rückfällig, so spreche die Lebenserfahrung dafür, daß er die ihm erteilten dringenden Ratschläge mißachtet und sich wieder dem Alkohol zugewandt habe. Dieses Verhalten werde im allgemeinen den Vorwurf eines „Verschuldens gegen sich selbst” begründen (BAG, a.a.O.).
3. Der vorliegende Fall gibt dem Senat keine Veranlassung, seine bisherige einschlägige Rechtsprechung zu ändern. An ihr wird vielmehr festgehalten. Ihre Anwendung führt im Streitfall zu dem Ergebnis, daß dem Versicherten der Rückfall in den Alkoholmißbrauch vom 16. Mai 1985 nicht im Sinne eines Verschuldens gegen sich selbst vorgeworfen werden kann.
a) Das Landesarbeitsgericht ist aufgrund der eingeholten Sachverständigengutachten zu der Feststellung gelangt, daß der schwere Alkoholismus des Versicherten auf einer psychischen Fehlentwicklung, insbesondere aufgrund belastender Kindheitserlebnisse während des zweiten Weltkrieges und der Nachkriegswirren beruht und daß Rückfälle seiner freien Willensbestimmung nicht zugänglich, krankheitsimmanent und daher nicht selbst verschuldet sind. Zusammenfassend hat das Landesarbeitsgericht aufgrund einer Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. B. festgestellt, daß der Versicherte nach der ersten Entziehungskur nicht von seiner Sucht geheilt war und daß die anhaltende Suchterkrankung ihn der Einsichtsfähigkeit und der freien Willensentscheidung beraubt hat. Weiter kommt eine Einsichts- und Willensfähigkeit zusätzlich behindernde Hirnschädigung aufgrund des langjährigen Alkoholmißbrauchs hinzu.
b) Diese Feststellungen sind nicht mit Verfahrensrügen i. S. des § 554 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b ZPO angegriffen worden. Der Senat ist daher daran gebunden (§ 561 Abs. 2 ZPO).
c) Die Revision wirft dem Landesarbeitsgericht vor, den Vortrag der Beklagten nicht berücksichtigt zu haben, wonach der Versicherte entgegen einer der Beklagten gegenüber eingegangenen Verpflichtung nach Abschluß der ersten Entziehungskur nicht regelmäßig eine Selbsthilfegruppe aufgesucht hat. Auf diesen Vortrag kommt es jedoch nicht an. Die Heilbehandlung des Versicherten war nach seiner Entlassung zunächst abgeschlossen. Das Aufsuchen einer Selbsthilfegruppe war ihm zwar vom Kurheim empfohlen worden, hätte aber keine Fortsetzung der eigentlichen Heilbehandlung dargestellt. Entscheidend ist demgegenüber, daß die Entziehungs- und Heilkur vom 9. Juli 1984 bis zum 8. Januar 1985 nach den Feststellungen der Vorinstanz den Versicherten noch nicht soweit von der Alkoholsucht befreit hatte, daß er aufgrund eigener Willensanstrengung in einer Konfliktsituation in der Lage gewesen wäre, einen Rückfall zu vermeiden.
Die Revision bemängelt weiter ohne Erfolg, die Gutachten stellten nicht auf den Einzelfall des Versicherten ab. Dies mag für die Ausführungen des Neurologen Dr. K. gelten, nicht jedoch für die unter der Leitung von Prof. Dr. B. erstellten Gutachten. Allerdings trifft es zu, daß auch dort zunächst allgemein die Ansicht vertreten wird, Rückfälle lägen regelmäßig außerhalb der freien Willensbestimmung des Alkoholabhängigen. Ausschlaggebend ist aber, daß dies individuell für den Versicherten nach eingehender Untersuchung und Befragung unter Auswertung und Zugrundelegung seiner gesamten Lebensumstände festgestellt wurde. Wenn sich der Versicherte, wie festgestellt, auch nach einer Heilbehandlung nicht gegen die Alkoholsucht wehren konnte, schließt dies ein Verschulden gegen sich selbst im sinne der lohnfortzahlungsrechtlichen Vorschriften aus. Zwar hat der Versicherte durch den neuerlichen erheblichen Alkoholkonsum vom 16. Mai 1985 in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstoßen, dies ist ihm aber nicht zum Vorwurf zu machen, weil er sich in einem Zustand befand, in dem er auf sein Verhalten wegen mangelnder Steuerungsfähigkeit willentlich keinen Einfluß nehmen konnte.
Unterschriften
Dr. Thomas, Dr. Gehring, Dr. Olderog, Dr. Hirt, Blank-Abel
Fundstellen