Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Teilhabeleistungen. Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers als zweitangegangener Rehabilitationsträger. Berechnung der Prüfungs- und Weiterleitungsfrist des § 14 Abs 1 S 1 SGB 9. Grundsatz der Leistungskontinuität. kein Ausschluss von Asylbewerbern von Jugendhilfeleistungen. Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche. seelische Behinderung. Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers für Maßnahmen der Frühförderung von Kindern in Bayern. keine Umwandlung des Jugendhilfeanspruchs in einen Sozialhilfeanspruch
Leitsatz (amtlich)
1. Die Frist von zwei Wochen nach § 14 Abs 1 S 1 SGB 9 bezieht sich nur auf die Zuständigkeitsprüfung.
2. Ein Antrag muss unverzüglich an den zweitangegangenen Rehabilitationsträger weitergeleitet werden, dh zwei Wochen plus ein Werktag (Weiterleitungsfrist, vgl BSG vom 3.11.2011 - B 3 KR 8/11 R = BSGE 109, 199 = SozR 4-2500 § 33 Nr 37).
3. Eine Zuständigkeit des Rehabilitationsträgers kann sich unter Umständen aus dem Grundsatz der Leistungskontinuität ergeben, wenn dieser schon Leistungen gewährt und keine ganz neue Teilhabeleistung beantragt wird.
4. Eine Leistungspflicht ergibt sich nicht allein aus dem Umstand, dass ein Rehabilitationsträger zweitangegangen ist, sondern setzt im einstweiligen Rechtsschutz auch eine mögliche Anspruchsgrundlage als Anordnungsgrund voraus.
5. Nach § 9 AsylbLG ist eine Leistung der Jugendhilfe nicht ausgeschlossen (Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche).
6. Der frühkindliche Autismus ist als tiefgreifende Entwicklungsstörung in die Gruppe der seelischen Behinderungen (Kennziffer F84.0) einzuordnen.
7. Es ist zweifelhaft, ob allein die Zuweisung der Zuständigkeit nach Art 64 BayAGSG (juris: SGAG BY) zur Erbringen von Leistungen für seelisch Behinderte iS von § 35a SGB 8 dazu führt, dass der Anspruch zum Sozialhilfeanspruch mutiert und damit einem Leistungsausschluss nach § 23 SGB 12 unterliegt.
Orientierungssatz
Beim Besuch einer schulvorbereitenden Einrichtung und einer daran angeschlossenen Tagesstätte handelt es sich nicht um eine Maßnahme der Frühförderung iS des § 64 SGAG BY, sondern um eine Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung.
Tenor
I) Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts München vom 17. Dezember 2014 abgeändert. Anstelle des Antragsgegners wird der Beigeladene im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, ab 4.12. 2014 die Kosten einer Individualbegleitung des Antragstellers in einer Tageseinrichtung für 20 Stunden pro Woche in der Schulzeit und für 38,75 Stunden pro Woche in der schulfreien Zeit für das Schuljahr 2014/2015 zu übernehmen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II) Der Beigeladene hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.
Gründe
I.
Der 2009 geborene Antragsteller ist irakischer Staatsangehöriger und seit März 2013 mit seiner Mutter und zwei Geschwistern in Deutschland, wo er Asylantrag gestellt hat. Er erhält als Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) Taschengeld und die Kosten der Verpflegung als Gutscheine vom Beigeladenen. Seit dem 05.12.2013 ist eine Überstellung nach Spanien rechtlich nicht mehr möglich. Der Aufenthalt des Antragstellers ist aufgrund einer Duldung nach § 55 Asylverfahrensgesetz erlaubt.
Diverse Maßnahmen der Frühförderung sind bereits vom Antragsgegner und dem Beigeladenen abgelehnt worden.
Die Ambulanz des H.-Klinikum B-Stadt diagnostizierte in einem Bericht vom 03.07.2013 beim Antragsteller einen frühkindlichen Autismus verbunden mit diversen Entwicklungsstörungen. Daher besucht der Antragsteller seit dem 16.09.2013 die schulvorbereitende Einrichtung der Förderschule des Caritas-Zentrums St. V. in B-Stadt sowie - an fünf Tagen pro Woche - die daran angeschlossene heilpädagogische Tagesstätte der Einrichtung. Ein entsprechender Antrag vom 01.08.2013 ist mit Bescheid vom 11.09.2013 vom Beigeladenen abgelehnt worden. Mit Widerspruchsbescheid vom 31.05.2014 wurde der Beigeladene (das Landratsamt) lediglich verpflichtet, die Sprach- sowie Ergotherapie zu bewilligen. Für die übrigen Leistungen sei der Bezirk zuständig. Dagegen ist ein Klageverfahren unter dem Az.: beim Sozialgericht München (SG) anhängig.
Der sozialpädagogische Dienst des Caritas-Zentrums St. V. empfahl in einer Stellungnahme vom 23.07.2014 den Einsatz eines Individualbegleiters für 20 Stunden pro Woche in der Schulzeit und für 38,75 Stunden pro Woche in der schulfreien Zeit zzgl. 1 Stunde indirekte Leistungen. Den beim Regionalbüro des Antragsgegners (Bezirk Oberbayern) in B-Stadt am 24.07.2014 (Donnerstag) eingegangenen Antrag auf diese Leistungen leitete der Antragsgegner mit Schreiben vom 08.08.2014 (Freitag) "zuständigkeitshalber" an den Beigeladenen, den Landkreis E. weiter. Am 30.07.2014 ist noch eine schulische Stellungnahme vom 28.07.2014 beim Antragsgegner eingegangen. Nach einem Entw...