Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeldanspruch. Territorialitätsgrundsatz. Auslandswohnsitz. fehlende Grenzgängereigenschaft. Verfügbarkeit. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
1. Eine durch § 30 SGB 1 bewirkte Ungleichbehandlung von Personen mit Auslandswohnsitz im Vergleich zu Personen mit Inlandswohnsitz kann bei der Gewährung von Arbeitslosengeld sachlich gerechtfertigt sein.
2. Allein ein Auslandswohnsitz genügt hierfür als sachlicher Grund nicht. Notwendig ist vielmehr das Fehlen der allgemeinen Leistungsvoraussetzungen für das Arbeitslosengeld, insbesondere die subjektive und objektive Verfügbarkeit.
3. Personen mit grenznahem Auslandsaufenthalt haben somit bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen Anspruch auf Arbeitslosengeld nach deutschem Recht (vgl BVerfG vom 30.12.1999 - 1 BvR 809/95 = SozR 3-1200 § 30 Nr 20).
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 14.09.2005 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Zahlung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit ab 06.10.2004.
Der 1966 geborene Kläger war in der Zeit vom 01.07.1998 bis 30.09.2004 als Rechtsanwalt tätig. Am 06.10.2004 meldete sich der Kläger persönlich bei der Beklagten (Arbeitsamt A.) arbeitslos und beantragte Alg. Er wohne in B.. Er sei in K. als Rechtsanwalt zugelassen, ab 01.01.2003 sei er in das B. Büro seiner Sozietät entsandt worden, wobei sein Anstellungsverhältnis weiterhin deutschem Recht unterliege. Seine Arbeitsplatzsuche sei aufgrund seiner Kenntnisse im internationalem Recht nicht auf Deutschland beschränkt, gerade in B. bestünden sehr realistische Aussichten, eine neue Position zu finden. Ab Januar 2005 meldete sich der Kläger wegen der Aufnahme einer neuen Beschäftigung aus dem Leistungsbezug ab.
Mit Bescheid vom 15.12.2004 lehnte die Beklagte den Antrag auf Alg ab. Der Kläger habe seinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien und somit keinen Anspruch auf Alg. Auch unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 12.06.1986 - 1/85 - (Miethe) bestünde keine Möglichkeit, deutsches Alg zu gewähren, da keine beruflichen und persönlichen Bindungen zum Raum A. vorlägen. Der Kläger habe Vorschlägen zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah nicht Folge leisten können, da er in B. wohne.
Den gegen den ablehnenden Bescheid eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.03.2005 zurück. Da der Wohnsitz des Klägers nicht grenznah im Nahbereich einer deutschen Agentur für Arbeit läge, sei Verfügbarkeit nicht gegeben. Der Kläger habe somit den Vermittlungsbemühungen im streitigen Zeitraum wegen fehlender Erreichbarkeit nicht zur Verfügung gestanden und sei damit nicht arbeitslos iS des § 118 Abs 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) gewesen.
Hiergegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Er unterfalle den sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland trotz seines Wohnsitzes außerhalb der Bundesrepublik, was sich aus der Bescheinigung E 101 der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) vom 17.11.2003 ergebe. Die Beklagte habe das in § 30 Abs 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) niedergelegte Territorialitätsprinzip falsch verstanden, im Übrigen werde § 30 SGB I von § 4 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) verdrängt. Die Geltung des Äquivalenzprinzips zwischen Beitrag und Leistung als besonderes Strukturprinzip der Versicherung werde verkannt. Er habe Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland geleistet, genauso habe er nunmehr auch Sozialversicherungsleistungen nach deutschem Recht zu beziehen. Art 71 Abs 1 Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO 1408/71) räume Arbeitnehmern, die keine Grenzgänger seien, ein Wahlrecht zwischen Leistungen des zuständigen Staates und Leistungen des Mitgliedstaates, in dessen Gebiet der zuständige Träger seinen Sitz habe, ein. Er habe sein Wahrecht dahingehend ausgeübt, Alg nach deutschem Recht zu beziehen. Er sei auch verfügbar, er könne Mitteilungen der Beklagten unverzüglich zur Kenntnis nehmen und verfüge über eine Postanschrift, E-Mail-Adresse und telefonischen Festnetzanschluss sowie Mobiltelefon. Er habe die Beklagte auch unverzüglich aufsuchen können, die Entfernung für eine Anreise nach A. betrage von B. aus ca. 1 1/2 Stunden.
Mit Urteil vom 14.09.2005 hat das SG die Klage abgewiesen. Nach § 30 SGB I könne Leistungen nur erhalten, wer seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland habe. Eine Ausnahme gelte nach der Rechtsprechung des EuGH jedoch für unechte Grenzgänger nach Art 71 Abs 1 b VO 1408/71. Beim Kläger habe es sich jedoch nicht um einen Grenzgänger gehandelt, vielmehr sei er von seinem in der Bu...