Leitsatz
1. Der Erwerber eines erbschaftsteuerrechtlich begünstigten Familienheims ist aus zwingenden Gründen an dessen Nutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert, wenn die Selbstnutzung objektiv unmöglich oder aus objektiven Gründen unzumutbar ist. Zweckmäßigkeitserwägungen reichen nicht aus.
2. Gesundheitliche Beeinträchtigungen können zwingende Gründe darstellen, wenn sie dem Erwerber eine selbständige Haushaltsführung in dem erworbenen Familienheim unzumutbar machen.
Normenkette
§ 13 Abs. 1 Nr. 4b Satz 5 ErbStG
Sachverhalt
Der Ehemann der Klägerin verstarb am 10.3.2017 und wurde von der Klägerin und seinen Kindern beerbt. Zu dem Nachlass gehörte das hälftige Miteigentum an einem Einfamilienhaus, das die Klägerin und ihr Ehemann gemeinsam bewohnt hatten. Aufgrund eines entsprechenden Vermächtnisses zugunsten der Klägerin übereignete die Erbengemeinschaft ihr diesen Miteigentumsanteil. Sie nutzte das Haus zunächst weiterhin selbst. Anfang 2018 erwarb sie eine noch zu errichtende Eigentumswohnung am selben Ort. Ende 2018 veräußerte sie das Einfamilienhaus und meldete sich im April 2019 in die Eigentumswohnung um. Das FA setzte daraufhin die ErbSt ohne die Steuerbefreiung für das Familienheim nach § 13 Abs. 1 Nr. 4b ErbStG fest.
Mit ihrer Klage machte die Klägerin geltend, sie sei aus objektiv zwingenden Gründen an der weiteren Nutzung des Hauses zu eigenen Wohnzwecken gehindert gewesen. Bereits früher sei sie wegen depressiver Auffälligkeiten ärztlich behandelt worden. Nachdem ihr Ehemann in dem gemeinsamen Haus überraschend verstorben sei, habe sich ihr Gesundheitszustand durch erneute Depressionen verschlechtert. Ihr Entschluss, auszuziehen und das Haus zu veräußern, beruhe auf ärztlichem Rat.
Das FG wies die Klage mit der Begründung ab, zum einen hätten keine zwingenden Gründe für die Aufgabe der Selbstnutzung vorgelegen. "Zwingende Gründe" seien nur solche, die dem Erwerber das Führen eines Haushalts schlechthin und nicht nur im erworbenen Familienheim unmöglich machten. Zum anderen entfalle die Steuerbefreiung auch wegen der Veräußerung der Immobilie Ende 2018 (FG Münster, Urteil vom 10.12.2020, 3 K 420/20 Erb, Haufe-Index 14295288, EFG 2021, 385).
Entscheidung
Auf die Revision der Klägerin verwies der BFH die Sache an das FG zurück. Das FG sei von unzutreffenden Maßstäben ausgegangen. Die Klage sei nicht allein deshalb abzuweisen, weil der Klägerin die selbstständige Haushaltsführung an einem anderen Ort als dem ererbten Familienheim möglich gewesen sei. Ob die Klägerin aufgrund einer depressiven Erkrankung an der Selbstnutzung aus zwingenden Gründen gehindert gewesen sei, lasse sich derzeit nicht beurteilen. Das FG habe dazu keine konkreten Feststellungen getroffen. Dies sei unter Mitwirkung der Klägerin (§ 90 Abs. 1 Satz 1 AO) nachzuholen. Die abschließende Würdigung des Sachverhalts sei dem FG vorbehalten.
Hinweis
Der BFH befasst sich im Besprechungsurteil mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen zwingende Gründe für die Beendigung der Selbstnutzung eines Familienheims vorliegen.
1. Nach § 13 Abs. 1 Nr. 4b Satz 1 ErbStG bleibt steuerfrei u.a. der Erwerb von Todes wegen des Eigentums an einem im Inland belegenen bebauten Grundstück i.S.d. § 181 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 BewG durch den überlebenden Ehegatten, soweit der Erblasser darin bis zum Erbfall eine Wohnung zu eigenen Wohnzwecken genutzt hat oder bei der er aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert war und die beim Erwerber unverzüglich zur Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken bestimmt ist (Familienheim). Dies gilt vorbehaltlich der Einschränkungen in § 13 Abs. 1 Nr. 4b Sätze 2 bis 4 ErbStG.
a) Nach dem sog. Nachversteuerungstatbestand des § 13 Abs. 1 Nr. 4b Satz 5 ErbStG fällt die Steuerbefreiung mit Wirkung für die Vergangenheit weg, wenn der Erwerber das Familienheim innerhalb von zehn Jahren nach dem Erwerb nicht mehr zu Wohnzwecken selbst nutzt, es sei denn, er ist aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert.
b) Die Steuerbefreiungsvorschrift ist eng auszulegen. Damit begegnet sie keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Entsprechendes gilt für die in § 13 Abs. 1 Nr. 4b Satz 5 Halbsatz 2 ErbStG geregelte Rückausnahme von der Nachversteuerung.
c) Tritt der Nachversteuerungstatbestand ein, ist der Steuerbescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu ändern. Nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO beginnt in diesen Fällen die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem das Ereignis eintritt.
2. In dem Merkmal "aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert" müssen sich die Hinderungsgründe auf die Selbstnutzung des betreffenden Familienheims beziehen. Ob der Erwerber an einem anderen Ort einen Haushalt führen kann, ist nicht entscheidend. Der BFH teilt nicht die Auffassung, die Unmöglichkeit, selbstständig einen Haushalt zu führen, müsse sich auf das Führen eines eigenen Haushalts schlechthin – d.h. auch an einem anderen Ort als in dem erworbenen Familienheim –...