ErbSt-Befreiung bei unzumutbarer Selbstnutzung des Familienheims
Hintergrund: Beendigung der Selbstnutzung aus gesundheitlichen Gründen
Der Ehemann der A verstarb 2017. Er wurde von A und seinen Kindern beerbt. Zum Nachlass gehörte das hälftige Miteigentum an einem Einfamilienhaus, das A und ihr Ehemann gemeinsam bewohnt hatten. Aufgrund eines Vermächtnisses zugunsten der A übereignete die Erbengemeinschaft ihr diesen Miteigentumsanteil. A nutzte das Haus zunächst weiterhin selbst. Anfang 2018 erwarb sie eine noch zu errichtende Eigentumswohnung am selben Ort. Ende 2018 veräußerte sie das Einfamilienhaus und meldete sich im April 2019 in die Eigentumswohnung um.
Das FA lehnte die Steuerbefreiung für ein Familienheim wegen Aufgabe der Selbstnutzung innerhalb des 10-Jahres-Zeitraums (§ 13 Abs. 1 Nr. 4b ErbStG) ab.
Das FG wies die Klage ab. A hatte vorgetragen, sie habe das Haus wegen einer depressiven Erkrankung, die sich nach dem Tod ihres Ehemannes durch die Umgebung des ehemals gemeinsam bewohnten Hauses verschlechtert habe, auf ärztlichen Rat verlassen. Nach einer ärztlichen Stellungnahme vom September 2019 lasse die Umgebung des ehemals gemeinsam bewohnten Hauses psychische Folgeschäden erwarten. Das FG war der Ansicht, es habe keine zwingenden Gründe für den Auszug gegeben. Denn A sei die Führung eines Haushalts nicht schlechthin unmöglich gewesen. Zwingende Gründe könnten nur solche sein, die das Führen eines Haushalts schlechthin – nicht nur in dem Familienheim – unmöglich machten.
Entscheidung: Verhinderung an der Selbstnutzung aus gesundheitlichen Gründen
Der Erwerber ist aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung des Familienheims zu eigenen Wohnzwecken gehindert, wenn diese ihm unter den konkreten Umständen objektiv unmöglich oder unzumutbar wird.
Steuerbefreiung für ein Familienheim
Die Steuerbefreiung für den Erwerb eines Familienheims fällt mit Wirkung für die Vergangenheit weg, wenn der Erwerber das Familienheim innerhalb von zehn Jahren nach dem Erwerb nicht mehr zu Wohnzwecken selbst nutzt, es sei denn, er ist aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert (§ 13 Abs. 1 Nr. 4b Satz 5 ErbStG, sog. Nachversteuerungstatbestand, BFH v. 11.7.2019, II R 38/16, BStBl II 2020, S. 314, Rz. 11). Die Befreiungsvorschrift ist eng auszulegen (BFH v. 29.11.2017, II R 14/16, BStBl II 2018, S. 362, Rz. 27). Das gilt auch für die in § 13 Abs. 1 Nr. 4b Satz 5 Halbsatz 2 ErbStG geregelte Rückausnahme von der Nachversteuerung.
Unzumutbarkeit der Selbstnutzung des konkreten Familienheims
Die Hinderungsgründe müssen sich auf die Selbstnutzung des vorliegenden Familienheims beziehen. Ob der Erwerber an einem anderen Ort einen Haushalt führen kann, ist nicht entscheidend. Die Meinung, die Steuerbegünstigung sei auch dann ausgeschlossen, wenn der Erwerber ausziehen und in einer anderen Wohnung einen Haushalt führen könnte, bzw. die Unmöglichkeit, selbständig einen Haushalt zu führen, müsse sich auf das Führen eines eigenen Haushalts schlechthin beziehen, weist der BFH zurück. Das widerspräche der Zielrichtung der Regelung, das Familiengebrauchsvermögen zu erhalten und den gemeinsamen familiären Lebensraum zu schützen (BT-Drs. 16/11107, S.8).
Gesundheitliche Gründe als zwingende Hinderungsgründe
Der Erwerber ist aus zwingenden Gründen an der Selbstnutzung des Familienheims zu eigenen Wohnzwecken jedenfalls dann gehindert, wenn ihm dies unter den konkreten Umständen objektiv unmöglich ist. Zwingende Gründe sind jedoch nicht auf die Fälle der Unmöglichkeit beschränkt. Dass dies nicht gesetzgeberisches Ziel war, zeigt schon der Fall der Pflegebedürftigkeit, der im Gesetzgebungsverfahren als Beispiel diente (BT-Drs. 16/11107, S. 8; ebenso R E 13.4 Abs. 6 Satz 9 der ErbSt-Richtlinien 2019). Vielmehr ist es auch ausreichend, wenn dem Erwerber aus objektiven Gründen die Selbstnutzung des Familienheims nicht mehr zuzumuten ist. Das können gesundheitliche Grüne sein, wenn der Erwerber im Fall der weiteren Selbstnutzung des Familienheims eine erhebliche Beeinträchtigung seines Gesundheitszustands zu gewärtigen hat, die ein weiteres Verbleibendort unmöglich macht.
Feststellungslast des Erwerbers
Die Feststellungslast für die Umstände, die die Selbstnutzung des Familienheims objektiv unmöglich machen oder objektiv unzumutbar erscheinen lassen, trägt der Erwerber (BFH v. 6.5.2021, II R 46/19, BStBl II 2022, S. 342, Rz. 23). Ob eine Erkrankung vorliegt, die dazu führt, dass die Unzumutbarkeitsschwelle überschritten wird, kann regelmäßig allein anhand ärztlicher Begutachtung festgestellt werden. Dabei ist auch festzustellen, ob eine etwaige Erkrankung erst nach gewisser Zeit der Nutzung aufgetreten oder ihre Schwere manifest geworden ist.
Zurückverweisung an das FG
Der BFH verwies die Sache an das FG zurück. Dieses hat konkret festzustellen, ob die Erkrankung tatsächlich bestand und so beschaffen war, dass sie der A (unter Anlegung eines strengen Maßstabs) die weitere Selbstnutzung des Familienheims unzumutbar machte. Dies ist unter Mitwirkung der A nachzuholen.
Hinweis: Parallele zum Fall der Pflegebedürftigkeit
Es handelt sich um eine Parallelentscheidung zur Frage der Unzumutbarkeit der Selbstnutzug in Fällen der Pflegebedürftigkeit (ebenfalls v. 1.12.2021, II R 18/20, veröffentlicht am 7.7.2022). Dass der pflegebedürftige Erwerber in einer anderen (zweckmäßigeren) Wohnung weiterhin einen selbständigen Haushalt führen könnte, führt nicht zur Verneinung der Unzumutbarkeit der Selbstnutzung darf.
Veräußerung oder Abriss innerhalb des 10-Jahres-Zeitraums
Der BFH stellt klar, dass im Fall der zwingenden Verhinderung an der Selbstnutzung die Aufgabe des Eigentums oder der Abriss des Gebäudes nicht zur Nachversteuerung führen. Ist die Beendigung der Selbstnutzung aus zwingenden Gründen unschädlich, muss dies auch für eine spätere Veräußerung oder einen späteren Abriss gelten. Wenn der Schutzzweck des § 13 Abs. 1 Nr. 4b Satz 1 ErbStG aus zwingenden Gründen nicht mehr erfüllt werden kann, hat die Entäußerung des Familienheims keine Bedeutung mehr.
BFH Urteil vom 01.12.2021 - II R 1/21 (veröffentlicht am 04.08.2022)
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