Sachverhalt
Bei den beiden bulgarischen Verfahren ging es um die Auslegung Art. 80 Abs. 1 MwStSystRL. Nach Art. 80 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL können die Mitgliedstaaten zur Vorbeugung gegen Steuerhinterziehung oder -umgehung Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass die Steuerbemessungsgrundlage für die Lieferungen von Gegenständen oder für Dienstleistungen an Empfänger, zu denen familiäre oder andere enge persönliche Bindungen, Bindungen aufgrund von Leitungsfunktionen oder Mitgliedschaften sowie eigentumsrechtliche, finanzielle oder rechtliche Bindungen gemäß der Definition des Mitgliedstaats bestehen, der Normalwert ist, sofern die Gegenleistung höher als der Normalwert ist und der Lieferer oder Dienstleistungserbringer nicht zum vollen Vorsteuerabzug gemäß den Art. 167 bis 171 sowie 173 bis 177 MwStSystRL berechtigt ist.
In der Rs. C-621/10 ist die Klägerin eine AG, deren Tätigkeit in der Anlage von Geldmitteln besteht, die sie durch die Ausgabe von Wertpapieren für Immobilien erwirbt. Sie erwarb von einer Gesellschaft, die sich im Alleineigentum einer Holding befindet und die an der Klägerin zu ca. 30% beteiligt ist, mehrere bebaute Grundstücke. Die bulgarische Finanzbehörde ging davon aus, dass der Normalwert der erworbenen Grundstücke höher sei, als der von der Klägerin gezahlte Kaufpreis und versagte der Klägerin in Höhe der Differenz den Vorsteuerabzug. Sie bezog sich auf Art. 27 Abs. 3 Nr. 1 des bulgarischen MwStG (ZDDS), wonach die Steuerbemessungsgrundlage bei einer Lieferung zwischen verbundenen Personen der Normalwert ist. Nach Art. 70 Abs. 5 ZDDS besteht im Fall unrechtmäßig erhobener Steuer kein Recht auf Vorsteuerabzug. Die auf einen niedrigeren Preis als den Normalwert erhobene MwSt stellt eine unrechtmäßig erhobene Steuer im Sinne dieser Vorschrift dar.
Die Klägerin trug vor, dass das Grundstücksgeschäft zum Marktpreis geschlossen worden sei, da zwischen dem Preis, zu dem die Immobilien gekauft worden seien, und dem von der Finanzbehörde festgestellten Normalwert nur eine unbedeutende Abweichung bestehe. Das bulgarische Recht stehe nicht im Einklang mit Art. 80 Abs. 1 MwStSystRL. In Fällen der Lieferung zwischen verbundenen Personen, in denen der Lieferer zum vollen Vorsteuerabzug berechtigt sei, sei die Steuerbemessungsgrundlage für die Lieferung nach den allgemeinen Vorschriften zu bilden und müsse nicht unbedingt dem Normalwert der gelieferten Ware entsprechen.
In der Rs. C-129/11 besteht die Tätigkeit der Klägerin (eine bulgarische GmbH) im Wesentlichen in der Verpachtung landwirtschaftlicher Grundstücke und in der Vermietung von Stahlkonstruktionen für Gewächshäuser mit Polyethylenfolienabdeckung. Die Klägerin hatte mehrere zum Betrieb von Gewächshäusern genutzte Grundstücke samt den darauf errichteten Konstruktionen mit Polyethylenfolienabdeckung an einem ihrer Gesellschafter und an ihren Geschäftsführer verkauft. In den Verkaufsrechnungen wurden die Umsätze jeweils als steuerfreie Grundstückslieferungen behandelt und keine MwSt ausgewiesen. Die Finanzbehörde war der Ansicht, dass die Immobilienverkäufe sowohl steuerfreie als auch steuerpflichtige Lieferungen (Zubehör und Dauerkulturen) umfassten und setzte für die steuerpflichtigen Lieferungen MwSt auf der Basis des Normalwerts i.S.v. Art. 80 MwStSystRL fest, weil die Verkäufe zwischen verbundenen Personen (hier GmbH und ihre Gesellschafter bzw. Geschäftsführer) stattgefunden hätten. Nach Art. 27 Abs. 3 Nr. 1 ZDDS ist die Steuerbemessungsgrundlage bei einer Lieferung zwischen verbundenen Personen der Normalwert. Darauf, dass der liefernde Unternehmer bzw. der Erwerber nicht zum vollen Vorsteuerabzug berechtigt sein müssen, kommt es entgegen Art. 80 MwStSystRL nicht an. Wegen dieser Diskrepanz zwischen nationalem und Gemeinschaftsrecht rief das bulgarische Gericht den EuGH an.
Entscheidung
Der EuGH hat entschieden, dass die in Art. 80 Abs. 1 MwStSystRL enthaltenen Anwendungsvoraussetzungen erschöpfend sind und dass nationale Rechtsvorschriften somit nicht auf der Grundlage dieser Vorschrift vorsehen können, dass die Bemessungsgrundlage in anderen als den in der Bestimmung aufgezählten Fällen der Normalwert des Umsatzes ist, insbesondere wenn der Unternehmer zum vollen Vorsteuerabzug berechtigt ist.
Da Art. 80 Abs. 1 MwStSystRL eindeutige Voraussetzungen enthält, kann der Unternehmer sich nach den weiteren Entscheidungsgründen zu seinen Gunsten auch unmittelbar auf diese Vorschrift berufen, wenn das nationale Recht mit ihr nicht vereinbar ist.
Hinweis
Das deutsche Umsatzsteuerrecht ist von dem Urteil nicht betroffen. Die Regelung der Mindestbemessungsgrundlage in § 10 Abs. 5 UStG beruht nicht auf Art. 80 MwStSystRL, sondern auf einer entsprechenden Ratsermächtigung nach Art. 27 der 6. EG-Richtlinie. Außerdem findet die Mindestbemessungsgrundlage nach § 10 Abs. 5 UStG in Fällen von Umsätzen zwischen verschiedenen rechtlich selbständigen Gesellschaften keine Anwendung. Die Regelung ist auch nicht mit einer fehlenden Vorsteuerabzugsberechtig...