Prof. Dr. Stefan Müller, Lina Warnke
Rz. 71
Unklar ist über die bisher diskutierten Abgrenzungsprobleme zwischen wertaufhellenden und wertbegründenden Ereignissen hinaus im Kontext des Tatbestandsmerkmals des Bekanntwerdens zwischen dem Abschlussstichtag und der Aufstellung auch die Frage, was bzw. welcher Zeitpunkt unter der Aufstellung genau zu verstehen ist. Diese Frage wird von der Gegebenheit getragen, dass es sich in der Praxis i. d. R. nicht um einen zeitpunktbezogenen Vorgang etwa innerhalb eines Tages, sondern einen ggf. mehrmonatigen Prozess handelt.
Weder § 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB noch § 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 HGB bieten hier eine Lösung. Im Zuge der Normierung des Stichtagsprinzips in § 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB ist lediglich von einer (einzelnen) Bewertung "zum Abschlussstichtag" die Rede. § 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 HGB formuliert ebenfalls unklar "…und dem Tag der Aufstellung…". Infolge der fehlenden Normierung haben sich hinsichtlich des Einzelabschlusses in Schrifttum und Rechtspraxis folgende mögliche Zeitpunkte herauskristallisiert:
- Abschluss des vom wertaufhellenden Ereignis betroffenen Postens.
- Im Falle der Prüfung durch den Abschlussprüfer: Abschluss und Prüfung des vom wertaufhellenden Ereignis betroffenen Postens.
- Abschluss aller Posten bzw. des Abschlusses als Ganzes.
- Unterzeichnung des Abschlusses durch die Geschäftsführung.
- Prüfung des Abschlusses durch den Wirtschaftsprüfer bzw. Erteilung des Bestätigungsvermerks (so IDW PS 203.8 n. F.).
- Im Falle von KapG der Tag der Feststellung.
Im Konzernabschluss kommt anstatt der Feststellung die Billigung des Konzernabschlusses durch den Aufsichtsrat i. S. d. § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG in Betracht.
Rz. 72
Mittlerweile unstrittig ist, dass in Abhängigkeit der Bedeutung der wertaufhellenden Sachverhalte, d. h. deren Wesentlichkeit, unterschiedlich verfahren werden kann. Ist die Bedeutung eines Postens unwesentlich bzw. ohne Bedeutung, spricht nichts dagegen, bereits den Abschluss des vom wertaufhellenden Ereignis betroffenen Postens als Aufstellungszeitpunkt zu betrachten.
Rz. 73
Jenseits einer unwesentlichen Bedeutung herrscht indes weiterhin Uneinigkeit. Dies ist insb. durch die Auffassungen geprägt, dass der Wertaufhellungszeitraum im Interesse der Rechenschaft, der Kapitalerhaltung sowie der Richtigkeit möglichst lang sein sollte, die Feststellungsorgane nicht wissentlich einen "falschen" Abschluss feststellen dürften und der gegenläufigen limitierenden Auffassung, dass unter dem Begriff Aufstellung nicht auch die Feststellung subsumiert werden kann (wobei dann noch die Prüfung umstritten ist).
Bei gebotener Feststellung und (ggf. pflichtgemäß) erfolgter Prüfung
Sowohl dem Abschlussprüfer als auch den Feststellungsorganen kommt eine überprüfende Funktion im Interesse der Darstellung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zu. Erstreckt sich der Wertaufhellungszeitraum nicht auf diese, könnte es zur Feststellung eines nicht der tatsächlichen Lage entsprechenden Bildes kommen. Abschlussprüfung und Feststellung wären zumindest eines Teils ihrer Funktion beraubt. Insofern hat bei gebotener Feststellung u. E. – losgelöst von formalen Spitzfindigkeiten – eine Berücksichtigung wertaufhellender Tatsachen bis zur Feststellung zu erfolgen. Ist keine Feststellung erforderlich, wird jedoch freiwillig eine Prüfung vorgenommen, so ist diese maßgeblich für die Wertaufhellung. Auch IDW PS 203.8 n. F. fordert bei der Prüfung vom Abschlussprüfer den Wertaufhellungszeitraum bis zum Datum des Vermerks über die Abschlussprüfung auszudehnen.
Ohne Feststellung und Prüfung
Sofern weder eine Feststellungs- noch eine Prüfungspflicht bestehen und auch keine freiwillige Prüfung erfolgt, ist der formale Akt der Bilanzaufstellung, d. h. die Unterzeichnung des Abschlusses durch die Geschäftsführung (§ 245 Rz 1), und nicht der Abschluss aller Posten bzw. des Abschlusses als Ganzes maßgeblich.