Prof. Dr. Stefan Müller, Lina Warnke
Rz. 132
Grds. keine Ausnahmefälle i. S. d. § 252 Abs. 2 HGB stellen die Spezialvorschriften dar, die zu einer Durchbrechung des Realisierungsgrundsatzes führen. Dem Rechtsprinzip "lex specialis derogat legi generali" folgend bedarf es in diesen Fällen keiner gesonderten Ausnahmeregelung in Gestalt einer expliziten Regelung wie jener des § 252 Abs. 2 HGB (Rz 155 ff.; s. zur Norm-Rangfolge auch Rz 18).
Als Spezialvorschriften im Kontext des Realisationsprinzips sind etwa
- die Verrechnung von bestimmten VG und Schulden nebst entsprechender Behandlung der zugehörigen Aufwendungen und Erträgen aus der Abzinsung und aus dem zu verrechnenden Vermögen gem. § 246 Abs. 2 Satz 2, 3 HGB oder
- die Aktivierung selbst geschaffener immaterieller VG des AV nach § 248 Abs. 2 Satz 1 HGB
zu nennen.
Rz. 133
Ausnahmen i. S. d. § 252 Abs. 2 HGB, d. h. in begründeten Einzelfällen, kommen grds. in Betracht, dürften in der Praxis aber selten sein. Die mitunter vertretene Auffassung, Ausnahmen kämen beim Realisationsprinzip – infolge ihres tragenden Charakters – nicht in Betracht, ist abzulehnen. Einerseits liegt innerhalb der Grundsätze weder eine Rangfolge vor (Rz 6), die eine Ausnahme dieser aus der Vorschrift des § 252 Abs. 2 HGB bzw. einen tragenden Charakter begründet, noch besteht dafür eine gesetzliche Grundlage. Diese Auffassung ist vielmehr von der Doktrin der Unantastbarkeit der "guten alten" Prinzipien des HGB getrieben – die ohnehin nie eine Rechtsgrundlage hatte (hier sei auf die handelsrechtliche Normenrangfolge unter Rz 17 ff. verwiesen).
Gleiches gilt hinsichtlich der Frage, inwieweit die Anwendung der Percentage-of-Completion-Methode (Teilgewinnrealisation ohne Teilabnahmen; hier ist die Abgrenzung zur Teilgewinnrealisation mit Teilabnahmen zu beachten; s. Rz 116 ff.) als Ausnahmefall i. S. d. § 252 Abs. 2 HGB infrage kommt – was keinesfalls heißen soll, dass die Percentage-of-Completion-Methode als generell zulässig anzusehen und als stets zulässige Ausnahme zu betrachten ist. Auch ein Verweis auf die Generalnorm des § 264 Abs. 2 HGB kann nicht zu einer grds. Deklarierung der Percentage-of-Completion-Methode als genereller Ausnahmefall herangezogen werden. Dies ergibt sich bereits aus der Normenrangfolge des HGB (Rz 17 ff.). Allerdings schließt dies eine einzelfallbezogene Anwendung der Methode unter diesem Hinweis nicht aus. § 252 Abs. 2 HGB spricht nicht von "einer bestimmten Begründung" bzw. "einem bestimmten auslösenden Ereignis".
I. E. ist die Methode als in Ausnahmefällen unter Berufung auf § 252 Abs. 2 HGB mögliche Ausnahme zu verstehen, sofern dafür eine Begründung vorliegt.