Prof. Dr. Stefan Müller, Lina Warnke
Rz. 164
Der Grundsatz des Willkürverbots, der sich auf die Bewertung bezieht, ist nicht explizit kodifiziert. Er ergibt sich aus dem Gesamtkonstrukt der GoB im Allgemeinen und aus den Bewertungsgrundsätzen – etwa des § 252 Abs. 1 Nr. 4, 6 HGB – im Speziellen. Der fehlenden expliziten Normierung und der entsprechend fehlenden Ausgestaltung qua Gesetz geschuldet, gibt es allerdings keine eindeutige Definition von Willkürfreiheit. Auch im Schrifttum ist keine einheitliche Definition vorzufinden, wobei diese in vielen Fällen zumindest im Kern zum gleichen Ergebnis führen. So wird unter einer willkürfreien Bewertung etwa verstanden, dass diese realitätsnah und nach Auffassung des Kfm. zutreffend ist. Ebenfalls zu finden sind Forderungen nach plausibel begründbaren/argumentierbaren Wertansätzen oder objektiven Ansätzen i. S. e. intersubjektiven Nachprüfbarkeit. Wirkliche Lösungsansätze bieten diese Definitionen freilich nicht. Letztendlich wird ein undefinierter Grundsatz mit einer ebenso schwer greifbaren Auslegung umschrieben. Dabei zeigen die i. E. kaum konkreteren Definitionen, dass im Zusammenhang mit dem Grundsatz weder von Objektivität noch davon gesprochen werden kann, dass hier ein Grundprinzip ohne Spielräume vorliegt.
Letztlich soll als Ergebnis der Definitionsbestrebungen zumindest ein willkürfreier Jahresabschluss vorliegen, wenn er frei von sachfremden Erwägungen ist. Zu diesen sollen etwa die Berücksichtigung von Auswirkungen auf die Ertragslage oder den ausschüttungsfähigen Gewinn zählen. Diese Forderung nach letztlicher Freiheit des Jahresabschlusses von bilanzpolitischen Maßnahmen dürfte aber dazu führen, dass kaum ein Abschluss in der Praxis unter Einhaltung des Grundsatzes erstellt wird.
Mitunter wird darüber hinaus aufgeführt, dass es – wenn auch als Ausnahmen – Fälle gibt, in denen qua Spezialvorschrift zwei Bewertungsmethoden zur Verfügung stehen, aber eine dieser Methoden nicht angewendet werden darf, wenn bzw. weil sie dem Grundsatz der Willkürfreiheit widerspricht. Dem ist grds. zu widersprechen. Sieht eine Spezialvorschrift ein Bewertungswahlrecht vor, bedarf es keiner Konkretisierung oder Ergänzung mangels expliziter Regelung durch einen Grundsatz. In diesen Fällen greifen die Grundsätze nicht und besitzen keinesfalls Vorrang vor den Spezialvorschriften (zum Anwendungsvorrang der Spezialvorschriften und der sich daraus ergebenden handelsrechtlichen Normen-Rangfolge vgl. Rz 18).
Indes ist von Willkürfreiheit zu sprechen, wenn "sachfremde" Erwägungen i. S. bilanzpolitischer Maßnahmen den Jahresabschluss beeinflussen, solange sich diese im Rahmen legaler Maßnahmen bewegen. Ebenfalls nicht dem Grundsatz der Willkürfreiheit widersprechend ist die grds. freie Wahl zwischen zwei explizit gewährten Bewertungswahlrechten.
Rz. 165
I. E. ist u. E. stets von einer Einhaltung des Grundsatzes zu sprechen, wenn Bewertungsentscheidungen begründet sind, wobei eben bereits eine subjektive Begründung ausreichend ist, da Objektivität in diesen Fällen ohnehin in der Praxis nie gegeben ist und diese Forderung/Diskussion rein akademischen Charakters ist.