Leitsatz
1. Wird ein noch nicht festsetzungsverjährter Kindergeldanspruch aufgrund der Anwendung der Frist des § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des StUmgBG vom 23.06.2017 (BGBl I 2017, 1682, BStBl I 2017, 865) ausgeschlossen, ist er auch bei der Günstigerrechnung und der Hinzurechnung nach § 31 Satz 4 EStG nur in Höhe von 0 € zu berücksichtigen.
2. Die Frage, ob der Kindergeldanspruch durch die Frist des § 66 Abs. 3 EStG ausgeschlossen wird, haben die Finanzämter und Finanzgerichte selbstständig und ohne Bindung an die Beurteilung im Kindergeldverfahren zu entscheiden.
Normenkette
§ 31 Sätze 1 und 4, § 32 Abs. 6, § 66 Abs. 3 EStG, Art. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 GG
Sachverhalt
Die Kläger sind zusammen veranlagte Ehegatten. Am 23.5.2018 beantragte der Kläger rückwirkend ab Januar 2017 Kindergeld für den gemeinsamen Sohn.
Die Familienkasse setzte am 2.7.2018 unter Hinweis auf die Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG Kindergeld nur ab November 2017 fest und zahlte Kindergeld auch nur für November und Dezember 2017.
In ihrer ESt-Erklärung für 2017 beantragten die Kläger, den Kindergeldanspruch nur in Höhe des festgesetzten Kindergelds von 384 EUR zu berücksichtigen. Das FA berücksichtigte jedoch die kindbedingten Freibeträge i.H.v. 7.356 EUR und den Kindergeldanspruch i.H.v. 2.304 EUR.
Das FG gab der dagegen gerichteten Klage statt (Hessisches FG, Urteil vom 17.9.2019, 6 K 174/19, Haufe-Index 13582128, EFG 2019, 1983) und setzte die ESt auf den Betrag herab, der sich bei einer Hinzurechnung eines Kindergeldanspruchs i.H.v. 384 EUR anstatt 2.304 EUR ergibt.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision des FA als unbegründet zurück.
Hinweis
1.§ 31 EStG verklammert als Grundnorm des Familienleistungsausgleichs die Vorschriften über die kindbedingten Freibeträge mit denen über das steuerliche Kindergeld. Die sog. Günstigerrechnung (§ 31 Satz 4 EStG) entscheidet darüber, ob es bei dem als Steuervergütung monatlich gezahlten Kindergeld bleibt oder bei der ESt-Veranlagung die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG abgezogen werden, wodurch sich dann die unter Abzug dieser Freibeträge ermittelte ESt um den Anspruch auf Kindergeld erhöht.
2. Wegen der vom Gesetzgeber aus Vereinfachungsgründen gewollten Abkoppelung der Steuer– von der Kindergeldfestsetzung ist bei der Günstigerrechnung unerheblich, ob der Kindergeldanspruch durch Zahlung erfüllt worden ist. Ob der Anspruch besteht, hat das FA selbstständig zu prüfen. Ob das Kindergeld festgesetzt wurde oder warum dies nicht geschehen war, ist grundsätzlich unerheblich.
3.§ 31 Satz 4 EStG genügt dem verfassungsrechtlichen Gebot der steuerlichen Freistellung des Kinderexistenzminimums. Dies beruht auf der Annahme, dass der Steuerpflichtige den im laufenden Jahr bestehenden Anspruch auf Kindergeld tatsächlich realisiert, was wiederum auf der Grundannahme basiert, dass der Steuerpflichtige nicht mit dem Gesetzgeber zuzurechnenden strukturellen Problemen bei der Durchsetzung seines Kindergeldanspruchs konfrontiert wird. Dabei hat der BFH ausdrücklich auf die Abschaffung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. mit Wirkung vom 1.1.1998 abgestellt (BFH, Urteil vom 13.9.2012, V R 59/10, BFH/NV 2012, 2073, BStBl II 2013, 228, Rz. 24).
4. Die sechsmonatige Ausschlussfrist nach § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. StUmgBG vom 23.6.2017 war entgegen der Verwaltungsansicht nicht dem Erhebungsverfahren, sondern dem Festsetzungsverfahren zuzuordnen. Da der Gesetzgeber bei der Freistellung des Familienexistenzminimums sowie bei der Ausrichtung der Steuerbelastung an der Leistungsfähigkeit strikteren Bindungen als bei sozialrechtlichen Regelungen zur Förderung der Familie unterliegt, ist § 31 Satz 4 EStG zwecks Verschonung des Familienexistenzminimums verfassungskonform dahin gehend auszulegen, dass ein durch § 66 Abs. 3 EStG ausgeschlossener Kindergeldanspruch bei der Vergleichsrechnung und bei der Hinzurechnung nur i.H.v. 0 EUR berücksichtigt wird.
Das Urteil begründet ausführlich, dass diese Auslegung möglich ist, dem Sinn und Zweck des Gesetzes entspricht, dass der ab dem 19.7.2019 eingefügte § 31 Satz 5 EStG nicht entgegensteht und der Aufzählungsreihenfolge des § 31 Satz 4 EStG keine Nachrangigkeit der kindbedingten Freibeträge gegenüber dem Kindergeld zu entnehmen ist.
Schließlich verneint das Urteil eine Ungleichbehandlung einkommensschwacher Eltern, die Entlastung nur durch die rechtzeitige Beantragung des Kindergelds erhalten könnten, während einkommensstarke Eltern bis zu sieben Jahre Zeit hätten. Hinsichtlich der steuerlichen Entlastung des Kinderexistenzminimums werden beide Gruppen gleich behandelt; § 66 Abs. 3 EStG betrifft nur die Sozialleistungsfunktion des Kindergelds. Die vom BFH vorgenommene Auslegung entspricht auch der herrschenden Meinung in der Literatur.
5. Zur gegenwärtigen Rechtslage:§ 66 Abs. 3 EStG ist durch § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ersetzt worden; danach ist festgesetztes Kindergeld rückwirkend nur für sechs Monate auszuzahlen. Das streitgegenständliche Problem ist für VZ ab 2019 durch § ...