Leitsatz
1. Ein Kind wird auch dann für einen Beruf ausgebildet, wenn es neben seiner Erwerbstätigkeit ein Studium ernsthaft und nachhaltig betreibt.
2. Das Tatbestandsmerkmal einer Berufsausbildung i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG enthält kein einschränkendes Erfordernis eines zeitlichen Mindestumfangs von Ausbildungsmaßnahmen. Die Grundsätze, die der BFH für die Anerkennung eines Sprachschulunterrichts im Rahmen eines Au-Pair-Aufenthalts als Berufsausbildung aufgestellt hat, finden im Hinblick auf eine im Inland absolvierte Schul- oder Universitätsausbildung keine Anwendung.
3. Mehraktige Ausbildungsmaßnahmen sind Teil einer einheitlichen Erstausbildung, wenn sie zeitlich und inhaltlich so aufeinander abgestimmt sind, dass die Ausbildung nach Erreichen des ersten Abschlusses fortgesetzt werden soll und das angestrebte Berufsziel erst über den weiterführenden Abschluss erreicht werden kann (Anschluss an BFH-Urteile vom 3. Juli 2014 III R 52/13, BFHE 246, 427, BStBl II 2015, 152, Rz 25 f., und vom 16. Juni 2015 XI R 1/14, BFH/NV 2015, 1378, Rz 27).
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, Abs. 4 Sätze 2 und 3, § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG
Sachverhalt
Nach ihrem Realschulabschluss und der Ausbildung erhielt die 1990 geborene Tochter der Klägerin im Oktober 2010 die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung "Physiotherapeutin".
Bereits im Mai 2010 hatte sie die Zusage einer Fachoberschule erhalten, die sie im Juni 2011 mit der Fachhochschulreife abschloss. Im Juli 2011 erhielt sie die Zulassung zum zulassungsbeschränkten Hochschulstudiengang "Physiotherapie dual", der neun Semester umfasste.
Die ersten sechs Semester bestanden aus einer externen Ausbildung an einer Berufsfachschule mit theoretischem und praktischem Unterricht zum Physiotherapeuten.
Studenten, die diese Ausbildung bereits absolviert hatten, brauchten nicht teilzunehmen; der duale Studiengang war für sie in den ersten sechs Semestern faktisch berufsbegleitend: Sie hatten nur an einem von der Hochschule veranstalteten Basismodul von fünf Semesterwochenstunden teilzunehmen, das an drei bis fünf Wochenenden je Semester geblockt stattfand.
Am Ende des 6. Semesters verfügten alle Studierenden über den Abschluss als staatlich anerkannter Physiotherapeut. Vom 7. bis 9. Semester folgte dann eine "Präsenzphase" an der Hochschule.
Die Tochter der Klägerin arbeitete im Streitzeitraum neben ihrem Studium 30 Wochenstunden als angestellte Physiotherapeutin. Die Familienkasse lehnte die Festsetzung von Kindergeld ab. Einspruch und Klage blieben erfolglos (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.11.2015, 3 K 3221/15, Haufe-Index 8889549).
Entscheidung
Der BFH gab der Klage statt: Der geringe Zeitaufwand während der ersten Semester des Studiums, in denen die Kommilitonen auf den von der Tochter der Klägerin bereits erreichten Berufsabschluss hinarbeiteten, war ebenso unschädlich wie ihre Erwerbstätigkeit.
Hinweis
Das Urteil betrifft die Mindestanforderungen an eine die Berücksichtigung volljähriger Kinder ermöglichende Berufsausbildung.
1. In Berufsausbildung befindet sich, wer sein Berufsziel noch nicht erreicht hat, sich aber ernsthaft und nachhaltig darauf vorbereitet. Dieser Vorbereitung dienen alle Maßnahmen, bei denen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen erworben werden, die als Grundlagen für die Ausübung des "angestrebten" Berufs geeignet sind. Nach gesicherter Rechtssprechung
- besteht bei der Gestaltung der Ausbildung ein weiter Entscheidungsspielraum,
- braucht die Ausbildungsmaßnahme Zeit und Arbeitskraft des Kindes nicht überwiegend in Anspruch zu nehmen und
- wird eine Berufsausbildung nicht durch eine daneben ausgeübte Teilzeit- oder Vollzeiterwerbstätigkeit ausgeschlossen, wenn sie nur ernsthaft und nachhaltig betrieben wird.
2. Die Berufsausbildung setzt keinen zeitlichen Mindestumfang der Ausbildungsmaßnahmen voraus, diese müssen sich nur als geeignete, ernsthafte und nachhaltige Vorbereitung auf das Berufsziel darstellen. Zeitliche Mindestgrenzen haben nur da ihren Platz, wo keine Schul-, Universitäts- oder sonstige "klassische" Ausbildung absolviert wird, sondern eine unkonventionelle Ausbildung von Maßnahmen zur Freizeitgestaltung, Persönlichkeitsbildung u. Ä. abzugrenzen ist. Daher muss z.B. ein Au-pair-Aufenthalt im Ausland auch nicht mit einem Sprachunterricht von mindestens zehn Wochenstunden verbunden sein, um sich als Ausbildung zu qualifizieren, wenn der Auslandsaufenthalt von einer Ausbildungs- oder Prüfungsordnung zwingend vorgeschrieben wird oder dazu dient, ein gutes Ergebnis in einem für die Studienzulassung erforderlichen Fremdsprachentest zu erlangen.
Der geringe Zeitaufwand beruhte im Streitfall nicht auf einer "Pro-forma-Immatrikulation", sondern darauf, dass das Kind bereits eine Berufsausbildung absolviert hatte, die Kommilitonen diese Ausbildung aber als Teil des Studiums abzuleisten hatten.
3. Wenn das Kind – wie hier die Tochter der Klägerin neben dem geblockten Wochenendstudium – erwerbstätig ist, hängt seine Berücks...