Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. "Offensichtlich" verkehrsgünstiger i.S.d. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 4 EStG ist die vom Arbeitnehmer gewählte Straßenverbindung, wenn sich jeder unvoreingenommene, verständige Verkehrsteilnehmer unter den gegebenen Verkehrsverhältnissen für die Benutzung der Strecke entschieden hätte.
2. Zu vergleichen sind die kürzeste und die vom Arbeitnehmer regelmäßig für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte benutzte längere Straßenverbindung. Weitere mögliche, vom Arbeitnehmer tatsächlich aber nicht benutzte Fahrtstrecken zwischen Wohnung und Arbeitsstätte bleiben dagegen unberücksichtigt.
Normenkette
§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 4 EStG
Sachverhalt
K setzte bei seiner ESt-Erklärung als Wegstrecke zu seinem Arbeitsplatz 56 km an. Das FA berücksichtigte dagegen nur 44 km. Auf die dagegen erhobene Klage setzte das FG (FG Düsseldorf, Urteil vom 31.8.2009, 11 K 242/08 E, Haufe-Index 2370903) 49 km an und rechnete: bis zur Abfahrt 16 sei die Strecke auf der A 57 offensichtlich verkehrsgünstiger als die vom FA ermittelte. Denn verließe man an der Ausfahrt 16 die A 57, betrage bei einer Fahrtdauer von ca. 6 Minuten die restliche Fahrtstrecke nur 5,1 km. Dagegen sei die von K tatsächlich gefahrene Strecke an der Ausfahrt 16 vorbei weiter auf der A 57 10,1 km lang und erfordere 7 Minuten Fahrtdauer. Deshalb sei die vom K gewählte Route nur bis zur Ausfahrt 16 "offensichtlich verkehrsgünstiger" und nur insoweit zu berücksichtigen.
Entscheidung
Der BFH hob aus den unter den Praxis-Hinweisen erläuterten Erwägungen die Vorentscheidung auf und verwies die Sache an das FG zurück. Das wird nun prüfen müssen, welche Strecke K tatsächlich gefahren ist sowie, ob diese tatsächlich offensichtlich verkehrsgünstiger ist als die kürzeste Straßenverbindung.
Hinweis
Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte sind Werbungskosten, anzusetzen mit 0,30 EUR je Entfernungskilometer zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (Entfernungspauschale, § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG). Die Strecke ist allerdings nicht beliebig. Maßgebend ist die kürzeste Straßenverbindung (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 4 EStG), falls nicht die gesetzliche Ausnahme greift, die in der Lebenswirklichkeit wahrscheinlich die Regel ist: Statt der kürzesten Straßenverbindung kann eine andere (also längere) zugrunde gelegt werden, wenn die längere Verbindung "offensichtlich verkehrsgünstiger" ist und vom Arbeitnehmer auch tatsächlich regelmäßig als Weg zwischen der Wohnung und der Arbeitsstätte benutzt wird. Der Besprechungsfall und das nachstehend besprochene Urteil (BFH, Urteil vom 16.11.2011, VI R 19/11, BFH/NV 2012, 508, BFH/PR 2012, 110) entwickeln die im Urteil näher zitierte Rechtsprechung fort, wann die längere Wegstrecke als "offensichtlich verkehrsgünstiger" gilt.
1. Eine Straßenverbindung ist dann verkehrsgünstiger, wenn damit die Arbeitsstätte trotz gelegentlicher Verkehrsstörungen i.d.R. schneller und pünktlicher erreicht wird. Dem folgt auch die Verwaltung (BMF, Schreiben vom 11.12.2001, IV C 5-S 2351-300/01, BStBl I 2001, 994). "Offensichtlich" verkehrsgünstiger ist die Straßenverbindung, wenn ihre Vorteilhaftigkeit so auf der Hand liegt, dass sich auch ein unvoreingenommener, verständiger Verkehrsteilnehmer unter den gegebenen Verkehrsverhältnissen für die Benutzung der Strecke entschieden hätte. Konkreter wird der BFH dazu im nachstehenden Urteil (BFH, Urteil vom 16.11.2011, VI R 19/11, BFH/NV 2012, 508, BFH/PR 2012, 110), wonach dafür jedenfalls nicht stets eine Zeitersparnis von mindestens 20 Minuten erforderlich ist.
2. Das FG hatte die nach seiner eigenen Einschätzung verkehrsgünstigste Verbindung ermittelt und die entsprechende Entfernung berücksichtigt. Dem schloss sich der BFH allerdings nicht an; keine "Idealstrecke" ist Vergleichsmaßstab, sondern nur die tatsächlich gefahrene Strecke. Denn neben der Entstehungsgeschichte der Norm und dessen Regelungsziel verlangt schon der Wortlaut des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 4 EStG, dass der Arbeitnehmer die andere Straßenverbindung auch regelmäßig benutzt. Das ist auch praktikabel. Denn so ist nicht die ideale Strecke schlechthin – von FA und FG – zu suchen, sondern lediglich zwischen der kürzesten und der tatsächlich gefahrenen Verbindung zu vergleichen und das Tatbestandsmerkmal "offensichtlich verkehrsgünstiger" zu prüfen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 16.11.2011 – VI R 46/10