Entscheidungsstichwort (Thema)
Längere Verfahrensdauer wegen eines beim EuGH anhängigen Musterverfahrens; Überraschungsentscheidung
Leitsatz (NV)
1. Die Rechtsfrage, ob die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung aufgrund eines vom Gesetzgeber beschlossenen Steuergesetzes nachträglich dadurch wegfallen kann, dass ein Rechtsstreit wegen der Europarechtskonformität des Steuergesetzes länger andauert und dies für den betroffenen Steuerzahler eine entsprechende Rechtsunsicherheit zur Folge hat, ist nicht klärungsbedürftig.
2. Eine verfahrensfehlerhafte Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht rechnen musste.
3. Eine sich am Gesetzeswortlaut orientierende Entscheidung des FG kann schon deshalb nicht "überraschen", weil dies der verfassungsrechtlichen Vorgabe des Art. 20 Abs. 3 GG entspricht, wonach die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden ist.
Normenkette
FGO § 96 Abs. 2, § 115 Abs. 2 Nrn. 1, 3; GG Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1; UStG § 15 Abs. 1b
Verfahrensgang
FG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 30.08.2007; Aktenzeichen 2 K 103/05) |
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet.
1. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sieht sinngemäß als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) an, ob die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung aufgrund eines vom Gesetzgeber beschlossenen Steuergesetzes nachträglich dadurch wegfallen könne, dass ein Rechtsstreit wegen der Verfassungsmäßigkeit oder Europarechtskonformität des Steuergesetzes über Jahre andauere und dies für den betroffenen Steuerzahler eine entsprechende Rechtsunsicherheit zur Folge habe.
Diese Frage ist nicht klärungsbedürftig, weil sie auf der Grundlage der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Wesensgehalt des im Steuerrecht geltenden Grundsatzes der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung offensichtlich nur so beantwortet werden kann, wie das Finanzgericht (FG) dies getan hat. Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes --GG--) und besagt, dass steuerbegründende Tatbestände so bestimmt sein müssen, dass der Steuerpflichtige die auf ihn entfallende Steuerlast vorausberechnen kann (vgl. z.B. BVerfG-Beschluss vom 23. Oktober 1986 2 BvL 7/84, 2 BvL 8/84, BVerfGE 73, 388, m.w.N.).
Adressat dieses Grundsatzes ist zunächst die Legislative. Denn sie erlässt die Steuergesetze. Hat der Gesetzgeber den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung bei Erlass eines Steuergesetzes beachtet, kann ein Verstoß dagegen nicht rückwirkend dadurch eintreten, dass Gerichte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit oder der Konformität des Gesetzes mit dem Gemeinschaftsrecht haben und deshalb darüber eine Entscheidung des BVerfG oder des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) einholen.
Zwar kann ein Verstoß eines Gerichts gegen den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung bei der Auslegung eines Steuergesetzes dadurch in Betracht kommen, dass es einen gesetzlichen Steuertatbestand in verfassungswidriger Weise ausweitet (vgl. BVerfG-Beschluss vom 24. April 1990 2 BvR 2/90, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1991, 111). Ein solcher Fall liegt hier aber offensichtlich nicht vor, da der EuGH die in § 15 Abs. 1b des Umsatzsteuergesetzes (UStG) getroffene Regelung für den im Streitfall maßgeblichen Zeitraum nicht beanstandet und auch nicht erweiternd ausgelegt hat.
2. Die gleichfalls auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO gestützte Rüge des Klägers, die Festlegung der 50 %igen Vorsteuer auf gemischt genutzte PKW durch § 15 Abs. 1b UStG sei unter Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip zustande gekommen, hat ebenfalls keinen Erfolg. Der Kläger sieht zu Unrecht einen derartigen Verstoß darin begründet, dass der EuGH die abschließende Entscheidung darüber getroffen habe, ob nach deutschem Recht die Vorsteuern auf gemischt genutzte PKW ganz oder zur Hälfte abgezogen werden dürfen.
Der in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Grundsatz der Gewaltenteilung unterscheidet drei Teilbereiche staatlicher Aufgaben, die jeweils gesonderten Organen zugewiesen werden. Der Erlass von Steuergesetzen ist der Legislative und nicht der Judikative übertragen. Ein vom Bundestag, also der Legislative beschlossenes Gesetz kann diese Eigenschaft aber entgegen der Auffassung des Klägers jedenfalls nicht dadurch verlieren, dass der EuGH die ihm in einem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom Bundesfinanzhof (BFH) vorgelegten Rechtsfragen in der Weise beantwortet, dass die in dem Gesetz getroffene Regelung aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden ist. Die Urheberschaft eines Gesetzes kann nicht durch eine gerichtliche Entscheidung tangiert werden, die die vom Gesetzgeber getroffene und ihrem Wortlaut nach klare Regelung unverändert lässt.
3. Auch der vom Kläger behauptete Verfahrensfehler nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegt nicht vor. Das FG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nicht verletzt.
a) Nach § 96 Abs. 2 FGO darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Darüber hinaus soll der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) die Beteiligten auch in rechtlicher Hinsicht vor Überraschungen schützen. Eine verfahrensfehlerhafte Überraschungsentscheidung ist danach gegeben, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste. Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG und die richterliche Hinweispflicht i.S. des § 76 Abs. 2 FGO verlangen jedoch nicht, dass das Gericht die maßgeblichen Rechtsfragen mit den Beteiligten umfassend und in allen Einzelheiten erörtert. Das Gericht ist grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet
(BFH-Beschluss vom 31. Mai 2005 VIII B 294/03, BFH/NV 2005, 1832, m.w.N.). Auf naheliegende rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte braucht es zumindest dann nicht ausdrücklich hinzuweisen, wenn die Beteiligten fachkundig vertreten sind (vgl. BFH-Beschlüsse vom 2. April 2002 X B 56/01, BFH/NV 2002, 947; vom 11. Februar 2003 XI B 4/02, BFH/NV 2003, 802, jeweils m.w.N.).
b) Der Kläger trägt insoweit lediglich vor, das FG habe aus seiner Sicht überraschend bei seiner Entscheidung nur auf den Wortlaut des § 15 Abs. 1b UStG abgestellt. Abgesehen davon, dass dies nicht zutrifft, weil sich das FG in den Entscheidungsgründen seines Urteils im Einzelnen auch mit der vom Kläger behaupteten Verfassungswidrigkeit des Verfahrens auseinandersetzt, handelt es sich insoweit nicht um eine sog. Überraschungsentscheidung im aufgezeigten Sinn. Denn dass die Entscheidung eines FG darüber, ob ein Verstoß gegen die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung vorliegt, sich maßgeblich am Wortlaut einer gesetzlichen Bestimmung orientiert, kann schon deshalb nicht "überraschen", weil dies der verfassungsrechtlichen Vorgabe des Art. 20 Abs. 3 GG entspricht, wonach die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden ist.
Fundstellen