Leitsatz (amtlich)
Es ist zweifelhaft, ob das FG rechtlich befugt ist, eine Aussetzung der Vollziehung anzuordnen, die zeitlich über seine Entscheidung in der Hauptsache hinausreicht. Jedenfalls ist davon auszugehen, daß das FG die Wirksamkeit der von ihm angeordneten Aussetzung auf die Dauer des finanzgerichtlichen Verfahrens beschränkt hat, wenn sich aus seinem Beschluß nicht ausdrücklich etwas anderes ergibt.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 2-3
Tatbestand
Mit Bescheid vom 24. Juli 1975 forderte der Antragsteller (das Hauptzollamt - HZA -) von der Antragsgegnerin Ausfuhrerstattungen und Währungsausgleichsbeträge im Gesamtbetrag von 43 386,83 DM zurück. Gegen diesen Bescheid erhob die Antragsgegnerin nach erfolglosem Einspruch Klage, die das FG mit Urteil vom 8. März 1977 IV 46/75 H abwies. Dagegen legte die Antragsgegnerin Revision ein, über die noch nicht entschieden ist (VII R 35/77).
Mit Beschluß vom 23. Dezember 1975 IV 47/75 H hatte das FG die Vollziehung des Bescheids vom 24. Juli 1975 ohne Sicherheitsleistung ausgesetzt. Eine ausdrückliche Befristung dieser Aussetzung enthielt der Beschluß nicht.
Nach Zustellung des Urteils des FG vom 8. März 1977 teilte das HZA der Antragsgegnerin mit, daß die mit Beschluß vom 23. Dezember 1975 angeordnete Aussetzung der Vollziehung gegenstandslos geworden sei, und forderte die Antragsgegnerin auf, den streitigen Betrag zu zahlen. Daraufhin beantragte die Antragsgegnerin beim FG, dem HZA im Wege einer einstweiligen Anordnung zu untersagen, den Rückforderungsbescheid zu vollziehen, solange nicht das Finanzstreitverfahren rechtskräftig abgeschlossen oder der Beschluß vom 23. Dezember 1975 aufgehoben worden sei. Das FG entschied mit Beschluß vom 22. Juni 1977 IV 44/77 H entsprechend diesem Antrag. Zur Begründung führte es u. a. aus: Durch den Beschluß vom 23. Dezember 1975 sei die Vollziehung des angefochtenen Rückforderungsbescheides bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens ausgesetzt worden. Diese Auslegung ergebe sich daraus, daß weder in der Beschlußformel noch in den Gründen eine zeitliche Begrenzung für die Aussetzung der Vollziehung ausgesprochen sei und es Praxis des IV. Senats des FG sei, die Vollziehung teils ohne und teils mit zeitlicher Beschränkung auszusetzen.
Mit Schreiben vom 14. November 1977 an den BFH beantragte das HZA, den Beschluß des FG vom 23. Dezember 1975 aufzuheben. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Die Zulässigkeit des Antrags ergebe sich unter Berücksichtigung des Beschlusses des FG Hamburg vom 22. Juni 1977 und des unter dem Geschäftszeichen VII R 35/77 beim BFH anhängigen Revisionsverfahrens aus § 69 Abs. 3 Satz 5 FGO. Der Antrag sei auch begründet. Nachdem das FG mit Urteil vom 8. März 1977 in der Hauptsache zugunsten des HZA entschieden habe, könnten an der Rechtmäßigkeit des Rückforderungsbescheides keine ernstlichen Zweifel mehr bestehen.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag zurückzuweisen, hilfsweise, den Beschluß des FG vom 23. Dezember 1975 insoweit aufrechtzuerhalten, als Aussetzung der Vollziehung gegen Sicherheitsleistung gewährt wird.
Entscheidungsgründe
Der Antrag ist nicht zulässig, da es an einem das HZA beschwerenden aufhebbaren Beschluß fehlt. Denn der Beschluß des FG vom 23. Dezember 1975 ist dahin auszulegen, daß er die Vollziehung des angefochtenen Bescheids nur bis zur Beendigung des Verfahrens vor dem FG ausgesetzt hat. Da das Verfahren vor dem FG inzwischen durch das Urteil vom 8. März 1977 beendet worden ist, fehlt es nunmehr an einer Aussetzung der Vollziehung.
Das FG hat die Vollziehung ausgesetzt, ohne im Tenor oder in den Gründen des Beschlusses etwas darüber zu sagen, bis zu welchem Zeitpunkt die Aussetzung gelten soll. Aus dem Fehlen einer Befristung kann nicht entnommen werden, daß das FG die Vollziehung bis zum rechtskräftigen Abschluß des Hauptsacheverfahrens ausgesetzt hat. Bei richtiger Würdigung der Regelung des § 69 Abs. 2 und 3 FGO, auf der der Beschluß beruht, ergibt sich vielmehr, daß ein nichtbefristeter Aussetzungsbeschluß des FG nur dahin verstanden werden kann, daß die Vollziehung nur für den Verfahrensabschnitt vor dem FG gilt.
Es kann dahingestellt bleiben, ob dieser Schluß schon deswegen zwingend ist, weil eine über das erstinstanzliche Verfahren hinausreichende Aussetzung nach § 69 FGO rechtlich nicht zulässig ist. Jedenfalls muß davon ausgegangen werden, daß nach der Regelung des § 69 FGO die Frage der Aussetzung der Vollziehung grundsätzlich für jeden Verfahrensabschnitt gesondert zu prüfen ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 19. Juni 1968 I S 4/68, BFHE 92, 326, BStBl II 1968, 540, und vom 26. Januar 1973 III S 2/72, BFHE 108, 152, BStBl II 1973, 456). Allenfalls ist also in Ausnahmefällen eine Aussetzung möglich, die zeitlich über die Hauptsacheentscheidung des FG hinausreicht. Das FG muß in dem Stadium des Verfahrens, in dem es über die Aussetzung zu entscheiden hat, damit rechnen, daß es in der Hauptsache zu einem klageabweisenden Urteil kommt. Eine zeitlich über dieses Urteil hinausreichende Aussetzung der Vollziehung würde also voraussetzen, daß das FG von vornherein die Berechtigung ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner eigenen künftigen Klageabweisung für geboten erachtet. Das scheidet aber zumindest für den Regelfall aus. Allenfalls in Ausnahmefällen ist es denkbar, daß das FG im Augenblick der Aussetzungsentscheidung vom Fortbestand ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts auch noch nach seiner Hauptsacheentscheidung ausgeht, z. B. wenn mit einem Erfolg der Klage mit großer Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist. Ein solcher Ausnahmefall liegt aber, wie sich aus den Gründen des Beschlusses vom 23. Dezember 1975 ergibt, hier nicht vor. Durch das Urteil des FG in der Hauptsache wird das bestätigt.
Es liegen also - wenn überhaupt - nur in Ausnahmefällen die Voraussetzungen des § 69 Abs. 2 und 3 FGO für eine Aussetzung der Vollziehung durch das FG über den Zeitpunkt der Beendigung des erstinstanzlichen Verfahrens hinaus vor. Davon muß bei der Auslegung der objektiven Bedeutung eines finanzgerichtlichen Aussetzungsbeschlusses ausgegangen werden. Enthält der Beschluß keinen ausdrücklichen besonderen Hinweis auf die Dauer seiner Gültigkeit, so ist vom Normalfall, also davon auszugehen, daß das FG nicht von vornherein vom Fortbestand ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts auch nach seiner eigenen Hauptsacheentscheidung ausgegangen ist, die Vollziehung also lediglich bis zum Ergehen dieser Entscheidung ausgesetzt hat. Diese Auslegung ist um so eher gerechtfertigt, als es dem Steuerpflichtigen unbenommen ist, in der Revisionsinstanz erneut einen Aussetzungsantrag zu stellen, über den dann mit einer sehr viel größeren Gewähr auf Richtigkeit entschieden werden kann, da zu diesem Zeitpunkt die Hauptsacheentscheidung des FG vorliegt.
Gegen diese Wertung des Beschlusses des FG vom 23. Dezember 1975 spricht nicht, daß - wie sich aus der Begründung des Beschlusses vom 22. Juni 1977 ergibt - der frühere Vorsitzende jenes Senats des FG, der den Beschluß vom 23. Dezember 1975 getroffen hat, bestätigt hat, daß sein Senat die Vollziehung teils ohne und teils mit zeitlicher Beschränkung auszusetzen pflegte. Es ist schon fraglich, ob diese Angaben ohne weiteres den in der Entscheidung des FG vom 22. Juni 1977 gezogenen Schluß rechtfertigen, der genannte Senat habe bei einem Absehen einer ausdrücklichen zeitlichen Beschränkung jeweils bis zum rechtskräftigen Abschluß des Hauptsacheverfahrens aussetzen wollen; denn es wäre bei einer solchen konsequenten Praxis nicht verständlich, daß darüber nicht wenigstens kurz die Gründe des Beschlusses Aufschluß geben. Selbst wenn aber der genannte Schluß richtig wäre, ergäbe sich daraus nur, welchen Sinn der Aussetzungsbeschluß nach dem Willen des FG hätte haben sollen. Für die Auslegung von Bedeutung ist dieser Wille jedoch nur, wenn er im Beschluß auch objektiv zum Ausdruck gekommen wäre. Das ist nach den obigen Ausführungen nicht der Fall.
Diese Auffassung steht im Ergebnis im Einklang mit den Äußerungen im Schrifttum (v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 69 FGO, Anm. 28; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 8. Aufl., § 69 FGO, Anm. 8; Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 69, Anm. 38; Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 69, Anm. 26). Sie wird auch durch die Rechtsprechung des BFH bestätigt (vgl. die oben zitierten Beschlüsse I S 4/68 und III S 2/72). Nichts anderes ist dem Umstand zu entnehmen, daß der BFH in den genannten Entscheidungen es für zulässig gehalten hat, die Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung zeitlich über die Revisionsinstanz hinaus wirken zu lassen, wenn der BFH in der Hauptsache die Vorentscheidung aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen hat. Denn in diesen Fällen ist - anders als in den Fällen wie dem vorliegenden - davon auszugehen, daß die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts in der Tat über die Entscheidung des BFH hinaus andauern.
Da nach allem der Beschluß vom 23. Dezember 1975 mit der Entscheidung des FG in der Hauptsache seine Wirksamkeit verloren hat, ist für seine Aufhebung in Anwendung des § 69 Abs. 3 letzter Satz FGO kein Raum mehr. Daran vermag auch die - materiell unrichtige - einstweilige Anordnung des FG vom 22. Juni 1977 nichts zu ändern. Diese Anordnung ist nicht geeignet, dem Aussetzungsbeschluß vom 23. Dezember 1975 nachträglich einen anderen Inhalt zu geben, der den BFH berechtigte, ihn nach § 69 Abs. 3 letzter Satz FGO aufzuheben. Ob die einstweilige Anordnung wegen der durch den vorliegenden Beschluß veränderten Lage wieder aufgehoben werden kann, wird ggf. das FG zu entscheiden haben (vgl. § 114 Abs. 3 FGO, wo der Hinweis auf § 927 der Zivilprozeßordnung fehlt; v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, a. a. O., § 114 FGO, Anm. 40; Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 123, Anm. 27; Redeker-von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl., § 123, Anm. 29). Selbst wenn die einstweilige Anordnung nicht mehr aufhebbar wäre, könnte dies nicht zur Aufhebbarkeit des Aussetzungsbeschlusses vom 23. Dezember 1975 im vorliegenden Verfahren führen, da beide Verfahren keinen unmittelbaren rechtlichen Zusammenhang haben. Auch kann das Verfahren über § 69 Abs. 3 letzter Satz FGO kein Ersatz für die Rechtsbehelfe sein, die gegen die einstweilige Anordnung vom 22. Juni 1977 gegeben waren und die zu nutzen das HZA unterlassen hat.
Fundstellen
Haufe-Index 72525 |
BStBl II 1978, 157 |
BFHE 1978, 22 |
NJW 1978, 1456 |