Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung der Vollziehung bei überlanger Verfahrensdauer
Leitsatz (NV)
Ernstliche Zweifel können sich aus der möglichen Verfassungswidrigkeit einer im konkreten Streitfall einschlägigen Rechtsnorm ergeben. Sie können auch dann vorliegen, wenn ungeklärt ist, ob und in welcher Weise sich die - infolge überlanger Verfahrensdauer - mögliche Verfassungswidrigkeit unmittelbar auf den Steueranspruch auswirken kann.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 4 Sätze 1, 2 Nr. 2
Tatbestand
Der Kläger, Beschwerdeführer und Antragsteller (Antragsteller) betrieb seit 1969 ein Einzelunternehmen. Mit seinen Kunden, die sich fast ausschließlich aus den Beziehern unterdurchschnittlicher Einkommen zusammensetzten, schloß er zumeist Teilzahlungsgeschäfte ab. Die Kundenforderungen (ohne Umsatzsteuer) betrugen zum 31. Dezember 1975 1322712 DM, zum 31. Dezember 1976 1489956 DM und zum 31. Dezember 1977 1351909 DM. Der Kläger nahm hierauf zu den einzelnen Stichtagen Wertberichtigungen von 51,4% zum 31. Dezember 1975, 51,2% zum 31. Dezember 1976 und 56,5% zum 31. Dezember 1977 vor. Nach einer Außenprüfung erkannte der Beklagte, Beschwerdegegner und Antragsgegner (das Finanzamt - FA -) diese Wertberichtigungen nicht mehr an. Er ließ in den nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Einkommensteuerbescheiden für die Streitjahre jeweils nur eine Teilwertabschreibung auf die Forderungen von 20% zu. Daraus ergaben sich Gewinnerhöhungen für 1975 von 489587 DM, 1976 von 59388 DM und 1977 von 28059 DM. Der Einspruch hatte keinen Erfolg. Im Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre hielt das Finanzgericht (FG) eine Wertberichtigung von 45% für angemessen und setzte dementsprechend den Einkommensteuerbescheid 1975 in Höhe von 183227 DM, den für 1976 in Höhe von 13512 DM und den für 1977 in Höhe von 9594 DM aus.
Die am 26. August 1982 erhobene Klage gegen die Einkommensteuerbescheide 1975 bis 1977 hat das FG mit Urteil vom 26. Mai 1993 abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat der Antragsteller Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision eingelegt. Dieser hat das FG nicht abgeholfen. Der Antragsteller stützt seine Nichtzulassungsbeschwerde u.a. auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage, ob die wegen Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1, 14 und 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verfassungswidrige überlange Verfahrensdauer zur Verwirkung des Steueranspruchs führe. Zwar habe der Bundesfinanzhof (BFH) im Beschluß vom 13. September 1991 IV B 105/90 (BFHE 165, 469, BStBl II 1992, 148) die grundsätzliche Bedeutung der vorgetragenen Rechtsfrage verneint. Demgegenüber habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Beschluß vom 7. Januar 1992 1 BvR 1490/89 (Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1992, 1497) ausgeführt, daß in diesem Fall die Zulassung der Revision unter dem Gesichtspunkt der grundsätzlichen Bedeutung in Betracht kommen könne.
Der Antragsteller begehrt unter Hinweis auf die Begründung seiner Nichtzulassungsbeschwerde Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1975 bis 1977. Er trägt ergänzend vor, das FA habe seinen nach Ablauf der Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide gestellten erneuten Aussetzungsantrag mit Bescheid vom 11. Oktober 1993 zurückgewiesen; es drohe nunmehr die Vollstreckung. Diese hätte für ihn eine unbillige Härte zur Folge. Er verfüge nicht über liquide Mittel in Höhe der Steuernachforderung und müßte deshalb eine Immobilie verkaufen.
Das FA macht geltend, die Nichtzulassungsbeschwerde könne keinen Erfolg haben. Die Dauer des Verfahrens lasse sich insbesondere auf die umfangreichen Bemühungen zur Sachverhaltsaufklärung durch das FG und die Gewährung rechtlichen Gehörs zurückführen. Im übrigen habe der Prozeßbevollmächtigte im Jahre 1986 gewechselt; der neue Prozeßbevollmächtigte habe auf Aufforderung des Gerichts erstmals mit Schriftsatz vom 11. Juli 1988 Stellung genommen. Die Behauptung seiner Liquiditätsschwierigkeiten habe der Antragsteller weder in der erforderlichen Weise nachgewiesen noch glaubhaft gemacht. Außerdem hätte er sich auf einen möglichen Prozeßverlust durch Bildung entsprechender Rücklagen einstellen können und müssen.
Entscheidungsgründe
Der Antrag erfüllt die Zugangsvoraussetzungen des § 69 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Er ist allerdings insoweit unzulässig, als der Antragsteller die Aussetzung der Vollziehung der Kirchensteuer begehrt. Der BFH ist insoweit nicht Gericht der Hauptsache. Die mit den Einkommensteuerbescheiden verbundenen Kirchensteuerbescheide sind selbständige Folgebescheide. Sie sind nicht angefochten. Dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der Folgebescheide fehlt aufgrund der Regelung des § 69 Abs. 2 Satz 4 FGO das Rechtsschutzbedürfnis (BFH-Urteil vom 29. Oktober 1987 VIII R 413/83, BFHE 151, 319, BStBl II 1988, 240).
Soweit der Antrag zulässig ist, ist er auch begründet. Die Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1975 bis 1977 ist in dem begehrten Umfang auszusetzen.
Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO soll auf Antrag das Gericht der Hauptsache die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel sind nach der ständigen Rechtsprechung des BFH gegeben, wenn bei der summarischen Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Aussetzungsverfahren neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (BFH-Beschlüsse vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182, und vom 28. Mai 1986 I B 22/86, BFHE 146, 508, BStBl II 1986, 656). Bei der Abwägung der im Einzelfall entscheidungserheblichen Umstände und Gründe sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zu berücksichtigen. Nicht erforderlich ist, daß die für die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts sprechenden Gründe überwiegen (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 69 Rdnr. 77, m.w.N.).
Ernstliche Zweifel können sich aus der möglichen Verfassungswidrigkeit einer im konkreten Streitfall einschlägigen Rechtsnorm ergeben. Sie können auch dann vorliegen, wenn ungeklärt ist, ob und in welcher Weise sich die - infolge überlanger Verfahrensdauer - mögliche Verfassungswidrigkeit unmittelbar auf den Steueranspruch auswirken kann. Eine über achtjährige Dauer des Verfahrens vor dem FG begegnet nach dem Beschluß des BVerfG vom 20. Mai 1988 1 BvR 273/88 (Steuerrechtsprechung in Karteiform, Einkommensteuer 1975, § 5 Rücklagen, Rechtsspruch 2) im Hinblick auf das aus Art. 19 Abs. 4 GG folgende Grundrecht des wirkungsvollen Rechtsschutzes erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. auch zur rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren von fast neun Jahren Dauer, Beschluß des BVerfG vom 19. März 1992 2 BvR 1/91, NJW 1992, 2472). Zwar hat der IV.Senat des BFH im Beschluß in BFHE 165, 469, BStBl II 1992, 148 bei einer etwa zehnjährigen Dauer des Verfahrens vor dem FG Auswirkungen einer überlangen Verfahrensdauer auf den Steueranspruch verneint und mangels Klärungsbedürftigkeit dieser Rechtsfrage die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht zugelassen. Dagegen ist jedoch Verfassungsbeschwerde erhoben worden (Az. 2 BvR 75/92). Außerdem hat das BVerfG nach Ergehen der Entscheidung des IV.Senats im Beschluß in NJW 1992, 1497 bei geltend gemachter Verfassungswidrigkeit wegen überlanger Verfahrensdauer ausgeführt, daß die Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung des Steueranspruchs in Betracht komme. Dadurch hat sich nach Auffassung des erkennenden Senats die Sachlage gegenüber dem Zeitpunkt, in dem der IV.Senat entschieden hat, so verändert, daß ernstliche Zweifel hinsichtlich der Auswirkungen einer überlangen Verfahrensdauer auf den Steueranspruch und damit bereits auf die Frage der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache bestehen. Die Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide ist antragsgemäß bis zur abschließenden Entscheidung des Senats über die Nichtzulassungsbeschwerde des Antragstellers auszusetzen.
Fundstellen
Haufe-Index 419641 |
BFH/NV 1994, 494 |