Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung durch das FG
Leitsatz (NV)
Der BFH hält auch unter der Geltung des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO daran fest, daß für die Zulässigkeit des beim FG gestellten Antrags auf Aussetzung der Vollziehung die einmalige Ablehnung der Aussetzung durch die Finanzbehörde genügt, auch wenn diese in einem früheren Verfahrensstadium erfolgt ist.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 4 S. 1
Tatbestand
Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) nahm den Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) als ehemaligen Geschäftsführer einer GmbH und Co. KG wegen rückständiger Lohn- und Kirchensteuer, Umsatzsteuer, Zinsen und Säumniszuschlägen in Anspruch (§§ 34, 69 der Abgabenordnung -- AO 1977 --). Der Antragsteller legte gegen den Haftungsbescheid Einspruch ein und beantragte gleichzeitig Aussetzung der Vollziehung. Das FA setzte zeitgleich mit der Einspruchsentscheidung die Vollziehung hinsichtlich eines Teilbetrags der Haftungssumme bis zum Entscheidungszeitpunkt aus; hinsichtlich des mit der Einspruchsentscheidung aufrechterhaltenen Haftungsbetrages lehnte es den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab.
Mit der Klage, über die noch nicht entschieden ist, beantragte der Antragsteller zugleich beim Finanzgericht (FG), die Vollziehung des Haftungsbescheids auszusetzen. Das FG lehnte die beantragte Aussetzung der Vollziehung ab.
Zur Begründung führte das FG aus, der Antrag sei gemäß § 69 Abs. 4 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) unzulässig. Nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift führe nicht jede irgendwann im Laufe des Verfahrens erfolgte behördliche Ablehnung zur Zulässigkeit des bei Gericht gestellten Aussetzungsantrags. Die behördliche Ablehnung müsse vielmehr innerhalb des Verfahrensabschnitts geschehen sein, für dessen Dauer das Gericht um Aussetzung der Vollziehung ersucht werde.
Der Entlastungseffekt werde nur dann voll ausgeschöpft, wenn der Finanzbehörde Gelegenheit gegeben werde, ihren (bisher ablehnenden) Standpunkt unter dem Eindruck der Klage erneut zu überdenken.
Mit der Beschwerde macht der Antragsteller geltend, § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO stehe der Zulässigkeit des bei Gericht gestellten Antrags nicht entgegen. Der Vorschrift sei nicht zu entnehmen, daß für jeden Verfahrensabschnitt in der Hauptsache eine gesonderte Entscheidung des FA eingeholt werden müsse. Die einmalige Ablehnung des Aussetzungsantrags durch das FA, die im Streitfall erfolgt sei, müsse für den bei Gericht gestellten Aussetzungsantrag genügen.
Der Antragsteller beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Vollziehung des Haftungsbescheids in der Gestalt der Einspruchsentscheidung in vollem Umfang auszusetzen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet.
Der bei FG gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids war -- entgegen der Auffassung der Vorinstanz -- nicht unzulässig. Das FG hätte über den Antrag in sachlich-rechtlicher Hinsicht entscheiden müssen.
Gemäß § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO i. d. F. des Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (FGO-Änderungsgesetz) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I, 2109) ist ein Antrag an das Gericht auf Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 FGO nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Dies gilt gemäß § 69 Abs. 4 Satz 2 FGO nicht, wenn die Finanzbehörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder eine Vollstreckung droht. Da § 69 Abs. 4 FGO im wesentlichen die Regelungen des Art. 3 § 7 Abs. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG), das mit dem FGO-Änderungsgesetz (Art. 6) aufgehoben worden ist, übernommen hat (BTDrucks 12/1061, S. 15), kann zu seiner Auslegung auf die zu Art. 3 § 7 VGFGEntlG ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 69 Rz. 61).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu Art. 3 § 7 Abs. 1 Satz 1 VGFGEntlG genügt für die Zulässigkeit des bei Gericht gestellten Antrags auf Aussetzung der Vollziehung (§ 69 Abs. 3 FGO) die einmalige Ablehnung der Aussetzung durch die Finanzbehörde, auch wenn diese in einem früheren Verfahrensstadium erfolgt ist. Der Vorschrift ist danach nicht zu entnehmen, daß für jeden Verfahrensabschnitt in der Hauptsache (außergerichtliches Vorverfahren, Klageverfahren, Revisionsverfahren) eine gesonderte Stellungnahme des FA eingeholt werden müßte (BFH-Beschlüsse vom 8. Juni 1982 VIII B 29/82, BFHE 136, 67, BStBl II 1982, 608 m. w. N.; vom 10. Oktober 1985 V S 4/85, BFH/NV 1986, 183, 184). Der Senat hält -- wie er bereits mit Beschluß vom 25. Oktober 1994 VII B 155/94, BFHE 175, 525, BStBl II 1995, 131 entschieden hat -- diese Gesetzesauslegung auch für die Regelung des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO, der seinem wesentlichen Wortlaut nach mit Art. 3 § 7 Abs. 1 Satz 1 VGFGEntlG übereinstimmt, für zutreffend (ebenso: Tipke/Kruse, Abgabenordnung- Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 69 FGO Tz. 17; List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 69 FGO Rz. 50). Es ist demnach nicht Voraussetzung, daß die Aussetzung der Vollziehung durch die Behörde innerhalb des Verfahrensabschnitts abgelehnt worden ist, für dessen Dauer das Gericht um Aussetzung der Vollziehung ersucht worden ist. Der entgegenstehenden Rechtsauffassung des FG, das sich auf die Kommentierung in Gräber/Koch (a. a. O., § 69 FGO Rz. 64) stützt, vermag der Senat nicht zu folgen. Auch unter der Geltung des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO ist es nicht angängig, den Zugang zum Gericht in Aussetzungssachen durch eine einengende Auslegung der Vorschrift, die ohnehin schon eine Zugangsschranke enthält, über ihren Wortlaut hinaus ohne eindeutige Äußerung des Gesetzgebers noch weiter einzuschränken. Das Interesse des Steuerpflichtigen nach einem effektiven vorläufigen Rechtsschutz genießt im Zweifel den Vorrang (Senat in BFHE 175, 525, BStBl II 1995, 131 m. w. N.).
Für den Streitfall ergibt sich daraus, daß der beim FG gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids gemäß § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO zulässig war, weil das FA die bei ihm beantragte Aussetzung der Vollziehung mit Verfügung vom 10. November 1993 hinsichtlich der nach der Einspruchsentscheidung vom selben Tage verbleibenden Haftungssumme abgelehnt hat. Daß diese Verfügung bereits vor Erhebung der Klage in der Hauptsache ergangen ist, steht nach den vorstehenden Ausführungen der Zulässigkeit des Antrags nach § 69 Abs. 3 FGO nicht entgegen. Der Antragsteller weist im übrigen mit Recht darauf hin, daß ihm im Streitfall eine erneute Antragstellung beim FA nach Klageerhebung nicht zugemutet werden konnte. Denn das FA hat im Aussetzungsverfahren vor dem FG mit Schriftsatz vom 20. Februar 1995 zum Ausdruck gebracht, daß es die Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids als nicht gerechtfertigt ansieht. Unter diesen Umständen hätte auch mit einem nochmaligen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim FA das gerichtliche Verfahren nicht vermieden und das FG nicht entlastet werden können.
Da die Vorentscheidung diesen Rechtsausführungen widerspricht, war sie aufzuheben. Da die Vorinstanz keinerlei Feststellungen zu dem für die Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids maßgeblichen Sachverhalt getroffen hat, geht die Sache an das FG zurück, das nunmehr sachlich über den Vollziehungsaussetzungsantrag zu befinden hat (vgl. ebenso BFH in BFHE 136, 67, BStBl II 1982, 608, 609, und BFHE 175, 525, 528, BStBl II 1995, 131).
Fundstellen
Haufe-Index 421009 |
BFH/NV 1996, 236 |