Entscheidungsstichwort (Thema)
Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten bei Wiedereinsetzung
Leitsatz (NV)
- Die Rüge eines Verstoßes gegen den klaren Inhalt der Akten kann nur Erfolg haben, wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht, oder es eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt gelassen hat.
- Dies ist u.a. dann der Fall, wenn das FG den Einlassungen des Prozessbevollmächtigten einen Sinn entnimmt, den diese objektiv nicht haben, weil es nur einen Teil des Erklärten berücksichtigt und relevante Erklärungen in der eidesstattlichen Versicherung einer Angestellten unberücksichtigt lässt.
Normenkette
FGO § 62 Abs. 3 S. 3, § 96 Abs. 1 S. 1, § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 6
Verfahrensgang
Niedersächsisches FG (Urteil vom 11.09.2001; Aktenzeichen 7 K 276/00) |
Tatbestand
I. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unzulässig ab, weil die Vollmacht der Prozessbevollmächtigten nicht innerhalb der nach § 62 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) mit ausschließender Wirkung gesetzten Frist im Original nachgewiesen worden sei. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sei die Klage dann durch Prozessurteil als unzulässig abzuweisen. Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren. Ob die Nichteintragung der Frist durch die Auszubildende noch als ein entschuldbares Büroversehen zu werten sei, könne dahingestellt bleiben. Entscheidend sei, dass nach dem eigenen Vortrag der Prozessbevollmächtigten ihr die richterliche Verfügung über die Ausschlussfrist vom 19. Oktober 2000 nicht vorgelegt, sondern in dem Diktatstapel abgelegt worden sei. Die eine Einzelpraxis betreibende Rechtsanwältin hätte durch organisatorische Maßnahmen sicherstellen müssen, dass ihr sämtliche eingehende Kanzleipost zugehe. Dies habe sie erkennbar in ihrem Büro nicht sichergestellt. Die Prozessbevollmächtigte hätte es nicht allein ihrer Auszubildenden überlassen dürfen, die eingehende Post zu lesen und daraufhin zu prüfen, ob in dieser möglicherweise relevante Fristen enthalten seien. Als weiterer Organisationsmangel sei anzusehen, dass nach dem eigenen Vortrag der Prozessbevollmächtigten Vorgänge teilweise mehr als zwei Wochen im Diktatstapel liegen geblieben seien.
Mit ihrer Beschwerde verfolgen die zusammen veranlagten Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) die Zulassung der Revision wegen Abweichung des FG von der Rechtsprechung des BFH sowie wegen Verfahrensmangels.
Entscheidungsgründe
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger ist zulässig und begründet. Die Vorentscheidung ist aufzuheben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO).
1. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig. Soweit die Kläger vortragen, das FG habe seiner Entscheidung eine Äußerung ihrer Prozessvertreterin zu Grunde gelegt, die diese nicht gemacht habe, rügen sie einen Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten und damit gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO. Sie haben die Beschwerde form- und fristgerecht eingelegt (§ 116 Abs. 2 FGO) und ordnungsgemäß begründet (§ 116 Abs. 3 FGO), indem sie Verfahrensfehler dargelegt haben, auf denen das Urteil des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
2. Die Beschwerde ist auch begründet. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegen vor.
a) Die Rüge eines Verstoßes gegen den klaren Inhalt der Akten kann nur Erfolg haben, wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht, oder es eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt gelassen hat (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 17. November 1964 VI 319/63 U, BFHE 82, 35, BStBl III 1965, 260; BFH-Beschlüsse vom 20. August 1997 I B 128/96, BFH/NV 1998, 353, und vom 21. November 2002 X B 86/02, BFH/NV 2003, 337, jeweils m.w.N.; z.B. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 115 Rdnr. 80, m.w.N.).
b) Im Streitfall hat das FG den Einlassungen der Prozessbevollmächtigten einen Sinn entnommen, den diese objektiv nicht hatten, weil es nur einen Teil des Erklärten berücksichtigte; außerdem hat es relevante Erklärungen in der eidesstattlichen Versicherung der betroffenen Angestellten unberücksichtigt gelassen.
aa) Das FG gibt in seiner Entscheidung den Sachverhalt wie folgt wieder: Mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2000 begründete die Prozessbevollmächtigte ihren Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit einem Versehen der verantwortlichen Angestellten, die die Ausschlussfrist vom 21. November 2000 nicht eingetragen habe. Die Post werde von der Auszubildenden selbständig bearbeitet. Diese führe auch den Fristenkalender und sei dabei von einer langjährigen Kanzleiangestellten stichprobenartig kontrolliert worden. Dabei hätten sich keine Unregelmäßigkeiten oder Fehler ergeben. Versehentlich sei das Schreiben mit der richterlichen Verfügung vom 19. Oktober 2000 der Prozessbevollmächtigten nicht vorgelegt worden, so dass eine Kontrolle der richtigen Eintragung der Frist nicht erfolgt sei.
Das FG hat daraus abgeleitet, die Prozessbevollmächtigte habe es allein ihrer Auszubildenden überlassen, die eingehende Post zu lesen und daraufhin zu prüfen, ob in dieser möglicherweise relevante Fristen enthalten seien; sie habe damit in ihrem Büro nicht sichergestellt, dass ihr sämtliche eingehende Kanzleipost zugehe.
bb) Tatsächlich hat die Prozessbevollmächtigte in ihrer Wiedereinsetzungsbegründung vor allem dargelegt, dass und wie die Auszubildende den Fristenkalender selbständig geführt habe, dass sie dabei zunächst bis zum 31. August 2000 von Frau B und ―nach einem Personalwechsel― ab 1. Oktober 2000 von Frau S sowie von ihr selbst kontrolliert worden sei und, dass das richterliche Schreiben versehentlich nicht ihr selbst vorgelegt worden sei. Es kann dahingestellt bleiben, ob es angesichts der ―durch entsprechende eidesstattliche Versicherungen belegten― laufenden Kontrollen durch die anderen Angestellten zutreffend ist, davon auszugehen, die Auszubildende habe den Fristenkalender allein geführt. Jedenfalls ergibt sich daraus nicht, dass es ihr überlassen war zu entscheiden, welche eingehende Post sie vorzulegen habe und welche nicht; die Prozessbevollmächtigte führt ausdrücklich an, die Vorlage sei versehentlich unterblieben. In der eidesstattlichen Versicherung der Auszubildenden heißt es zudem: "Es besteht die Anweisung, jede eingehende Post vorzulegen, nachdem der Fristablauf notiert ist." Diesem Vorbringen kann nicht entnommen werden, die Prozessbevollmächtigte habe nicht sichergestellt, dass ihr sämtliche eingehende Post zugehe. Es ergibt sich daraus vielmehr, dass Post mit Fristsetzung der Prozessbevollmächtigten erst nach Eintragung der Frist vorgelegt wurde.
c) Das FG hat damit seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt, der dem schriftlichen Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht.
Auf diesem Verfahrensfehler kann die Vorentscheidung beruhen; denn das FG hat seine Ablehnung der Wiedereinsetzung auf einen Organisationsmangel in Bezug auf die Vorlage der eingehenden Post gestützt.
Soweit das FG es als weiteren Organisationsmangel angesehen hat, dass nach dem eigenen Vortrag der Prozessbevollmächtigten Vorgänge teilweise mehr als zwei Wochen im Diktatstapel liegen geblieben seien, handelt es sich nach seiner Auffassung nicht um einen selbständigen Ablehnungsgrund der beantragten Wiedereinsetzung.
3. Die Aufhebung des FG-Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung beruhen auf § 116 Abs. 6 FGO.
Fundstellen
Haufe-Index 1100170 |
BFH/NV 2004, 525 |