Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung von gerichtlichen Verfahren wegen Erhöhung der Kinderfreibeträge 1983 bis 1985 in bestandskräftig abgeschlossenen Fällen
Leitsatz (NV)
Gerichtliche Verfahren, in denen es um die Änderung bestandskräftiger Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1983 bis 1985 zur Erhöhung der Kinderfreibeträge geht und in denen noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist, sind auszusetzen, bis das BVerfG über die gegen das Urteil des Senats vom 11. Februar 1994 III R 50/92 (BFHE 173, 383, BStBl II 1994, 389) eingelegte Verfassungsbeschwerde (Az. des BVerfG: 2 BvR 901/94) entschieden hat (Bestätigung des BFH-Beschlusses vom 9. September 1994 III B 81/93, BFHE 175, 209, BStBl II 1994, 994).
Normenkette
FGO § 74; EStG i.d.F. des StÄndG 1991 § 54
Tatbestand
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) wurde für die Jahre 1983 bis 1985 bestandskräftig zur Einkommensteuer veranlagt. Die Bescheide ergingen in den Jahren 1984 (für 1983), 1985 (für 1984) und 1986 (für 1985). In diesen Bescheiden wurde für das Kind der Klägerin jeweils ein Kinderfreibetrag in Höhe von 432 DM berücksichtigt.
Nachdem der Vorlagebeschluß des Finanzgerichts (FG) Baden-Württemberg vom 2. September 1986 I K 337/85 (Entscheidungen der Finanzgerichte -- EFG -- 1987, 33) an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985 bekannt geworden war, beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 8. April 1987, die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide zu ändern und die Kinderfreibeträge in verfassungsgemäßer Höhe anzusetzen. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) lehnte diesen Antrag ab.
Den hiergegen eingelegten Einspruch wies das FA zurück, nachdem das BVerfG mit Beschluß vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86 (BStBl II 1990, 664) die Kinderfreibeträge für 1983 bis 1985 für verfassungswidrig erklärt und der Gesetzgeber daraufhin nur für die noch nicht bestandskräftig abgeschlossenen Fälle die Neuregelung in § 54 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i. d. F. des Steueränderungsgesetzes (StÄndG) 1991 getroffen hatte. Zur Begründung führte das FA aus, aufgrund der Regelung des § 54 EStG i. d. F. des StÄndG 1991 sei eine Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide wegen der Kinderfreibeträge nicht möglich.
Die hiergegen gerichtete Klage blieb erfolglos. Das FG begründete seine Entscheidung damit, daß entgegen der Auffassung der Klägerin weder die Entscheidung des BVerfG über die Verfassungswidrigkeit der Kinderfreibeträge für 1983 bis 1985 noch die daraufhin erfolgte Neuregelung durch den Gesetzgeber Tatsachen i. S. des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) seien. Das FG ließ die Revision nicht zu.
Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin. Die Klägerin stützt diese Nichtzulassungsbeschwerde auf Abweichung des FG-Urteils von der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 9. August 1991 III R 41/88 (BFHE 166, 1, BStBl II 1992, 219). In diesem Urteil habe der BFH entschieden, daß die Ungewißheit, wie der Gesetzgeber die durch die Entscheidung des BVerfG erforderlich gewordene gesetzliche Neuregelung gestalte, eine ungewisse Tatsache sei. Davon abweichend habe das FG den Rechtssatz aufgestellt, daß die Frage der Folgen der Verfassungswidrigkeit der ursprünglichen Regelung der Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985 keine Tatsache sei.
Entscheidungsgründe
Das Verfahren über die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde ist auszusetzen, bis das BVerfG im Verfahren 2 BvR 901/94 über die Verfassungsmäßigkeit des § 54 EStG i. d. F. des StÄndG 1991 entschieden hat.
1. Nach der Rechtsprechung des BFH sind Klageverfahren entsprechend § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen, wenn vor dem BVerfG ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, dem FG zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung vor der Entscheidung des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat (BFH-Beschlüsse vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408; vom 18. September 1992 III B 43/92, BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123, und vom 25. August 1993 X B 32/93, BFHE 171, 412, BStBl II 1993, 797). Gleiches gilt für bereits beim BFH anhängige Verfahren über die Nichtzulassung der Revision oder für Revisionsverfahren.
2. Mit Beschluß vom 9. September 1994 III B 81/93 (BFHE 175, 209, BStBl II 1994, 949) hat der erkennende Senat entschieden, daß bei gerichtlichen Verfahren, in denen es um die Änderung bestandskräftiger Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1983 bis 1985 zur Erhöhung der Kinderfreibeträge geht und in denen noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist, die genannten Voraussetzungen für die Verfahrensaussetzung erfüllt sind. Diese Verfahren sind daher auszusetzen, bis das BVerfG über die gegen das Urteil des Senats vom 11. Februar 1994 III R 50/92 (BFHE 173, 383, BStBl II 1994, 389) eingelegte Verfassungsbeschwerde (Az. des BVerfG: 2 BvR 901/94) entschieden hat. Wegen der näheren Begründung wird auf diesen Beschluß des erkennenden Senats Bezug genommen.
3. Im Streitfall geht es um ein derartiges Verfahren. Hinsichtlich der von der Klägerin beantragten Änderung der Steuerbescheide für 1983 bis 1985 ist noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten, da der Änderungsantrag rechtzeitig innerhalb der Festsetzungsfrist der §§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 gestellt worden ist.
4. Die Klägerin hat demgemäß unter Berufung auf den Beschluß des Senats in BFHE 175, 209, BStBl II 1994, 949 die Aussetzung des Verfahrens angeregt. Das FA hat sich mit der Aussetzung einverstanden erklärt. Der Anregung der Klägerin war daher stattzugeben.
Fundstellen
Haufe-Index 420553 |
BFH/NV 1995, 881 |