Entscheidungsstichwort (Thema)
Revisionszulassung wegen Verfahrensmangels
Leitsatz (NV)
1. Ein Urteil kann auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen, wenn die Möglichkeit besteht, daß es bei richtigem Verfahren anderer ausgefallen wäre; dabei kommt es auf den Rechtsstandpunkt des FG an, mag dieser richtig oder falsch sein.
2. Zur Prüfung des Vortrags neuer Tatsachen i. S. v. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 für die Beurteilung eines gemeindlichen Freibads als Betrieb gewerblicher Art (§ 2 Abs. 3 UStG 1980).
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3; AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2; UStG 1980 § 2 Abs. 3
Tatbestand
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) -- eine Gemeinde -- wurde für die Streitjahre (1985 bis 1987) mit bestandskräftigen Bescheiden zur Umsatzsteuer herangezogen. Grundlage waren (nur) die Umsätze des Städtischen Wasserwerks als Betrieb gewerblicher Art.
Nach Bestandskraft der Umsatzsteuerbescheide machte die Klägerin geltend, eine Prüfung des ... Kommunalen Prüfungsverbandes habe ergeben, auch das von ihr unterhaltene Freibad sei ein Betrieb gewerblicher Art. Sie, die Klägerin, sei bisher der Meinung gewesen, ein solcher liege erst bei einem nachhaltigen Jahresumsatz von 60 000 DM vor.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) folgte dem vom Jahre 1989 ab. Für die Streitjahre hatte der Antrag der Klägerin, die Umsatzsteuerbescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ihren Gunsten zu ändern, weil sich ein Vorsteuerüberhang ergebe, keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab.
Die Klägerin beantragt mit der Beschwerde Zulassung der Revision wegen Verfahrensmängeln (Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten und wegen Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs) sowie wegen einer Abweichung von einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH).
Das FA ist der Beschwerde entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde der Klägerin ist begründet. Die angefochtene Entscheidung des FG kann auf dem von der Klägerin geltend gemachten Verfahrensmangel des Verstoßes gegen den klaren Inhalt der Akten beruhen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
Die Voraussetzung, daß das Urteil auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel zu beruhen vermag, ist erfüllt, wenn die Möglichkeit besteht, daß das Urteil bei richtigem Verfahren anders ausgefallen wäre; dabei kommt es auf den Rechtsstandpunkt des FG an, mag dieser richtig oder falsch sein (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 115 Anm. 34 mit Nachweisen).
Das FG hat die Klageabweisung darauf gestützt, daß nachträglich bekanntgewordene Tatsachen und Beweismittel nur dann zu einer niedrigeren Steuer i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 führen können, wenn die Finanzbehörde bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel schon bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer anderen Steuer gelangt wäre. Danach sei die sog. 60 000 DM- Grenze als wichtiges Indiz für die Annahme eines Betriebs gewerblicher Art gewertet worden. Nach dem von der Klägerin hervorgehobenen Begründungsteil des Urteils habe das FA aus damaliger Sicht in bezug auf den Streitfall auch nach Ergehen des BFH-Urteils vom 11. Januar 1979 V R 26/74, BFHE 127, 83, BStBl II 1979, 746 von der 60 000 DM-Grenze ausgehen können, weil unterhalb dieser Grenze nur in Ausnahmefällen ein Betrieb gewerblicher Art angenommen worden sei. "Für einen der artigen Ausnahmefall hat die Klägerin aber nie etwas im Sinne der Verwaltungsanweisungen vorgetragen, insbesondere nicht, daß sie mit anderen Freibädern in unmittelbarem Wettbewerb steht."
Das trifft nach dem Vortrag der Klägerin nicht zu. In der Einspruchsentscheidung vom 29. Juli 1992 werde ihr Vorbringen wie folgt geschildert:"
Bis zur Prüfung durch den ... Kommunalen Prüfungsverband sei sie (die Klägerin) davon ausgegangen, daß ein Betrieb gewerblicher Art (BgA) nur dann gegeben ist, wenn ein nachhaltiger Jahresumsatz von über 60 000 DM erreicht wird. Im Rahmen der Prüfung (gemeint ist die Prüfung durch den ... Kommunalen Prüfungsverband) habe sie erfahren, daß bei einer entsprechenden Konkurrenz zu anderen Freibädern die jährlich erzielten Umsätze (werden beziffert) ausreichend seien."
Ferner haben sie im Schriftsatz vom 20. November 1992 ausgeführt, daß nach der Verfügung der Oberfinanzdirektion (OFD) Saarbrücken vom 28. Februar 1986 (Umsatzsteuer-Rundschau -- UR -- 1986, 131) eine Wettbewerbslage i. S. von Abschn. 5 Abs. 5 Satz 7 der Körperschaft steuer-Richtlinien (KStR) 1981/1985 z. B. zu anderen Schwimmbädern benachbarter Gemeinden oder auch zu Schwimmbädern anderer Unternehmer, die der Allgemeinheit zugänglich seien, bestehe.
Der Einwand der Klägerin gegenüber der Urteilsbegründung, sie habe zur Wettbewerbslage "nie etwas" vorgetragen, wird jedenfalls durch ihren Hinweis auf die Einspruchsentscheidung des FA gestützt. Im Hinblick auf den (wiedergegebenen) Rechtsstandpunkt des FG zu § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 besteht jedenfalls die Möglichkeit, daß das Urteil bei Berücksichtigung des klägerischen Vortrags anders ausgefallen wäre.
Ob gleichwohl -- nach Prüfung der anderen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 AO 1977 -- keine andere Entscheidung im Ergebnis in Betracht kommt, kann hier nicht berücksichtigt werden; denn das FG hat darauf nicht abgestellt.
Im übrigen ergeht die Entscheidung gemäß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs ohne Angabe von Gründen.
Fundstellen