Entscheidungsstichwort (Thema)
Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten
Leitsatz (NV)
Läßt das Gericht eine nach Aktenlage klar feststehende Tatsache unberücksichtigt oder geht es vom Nichtvorliegen dieser Tatsache aus, verstößt es unter Verletzung des § 96 Abs. 1 FGO gegen den klaren Inhalt der Akten (Anschluß an Senatsurteil vom 18. Juni 1993 V R 93/88, BFH/NV 1995, 364).
Normenkette
FGO § 96 Abs. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) -- eine Gemeinde -- wurde für die Streitjahre (1985 bis 1987) mit bestandskräftigen Bescheiden zur Umsatzsteuer herangezogen. Grundlage waren (nur) die Umsätze des Wasserwerks als Betrieb gewerblicher Art.
Nach Bestandskraft der Umsatzsteuerbescheide machte die Klägerin geltend, eine Prüfung des Bayerischen Kommunalen Prüfungsverbandes habe ergeben, auch das von ihr unterhaltene Freibad sei ein Betrieb gewerblicher Art. Sie, die Klägerin, sei bisher der Meinung gewesen, ein solcher liege erst bei einem nachhaltigen Jahresumsatz von 60 000 DM vor.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) folgte dem vom Jahre 1989 an. Für die Streitjahre hatte der Antrag der Klägerin, die Umsatzsteuerbescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ihren Gunsten zu ändern, weil sich ein Vorsteuerüberhang ergebe, keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) wies die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage ab. In der Begründung führte es aus, ein Steuerbescheid dürfe wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen nicht gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 aufgehoben oder geändert werden, wenn die Finanzbehörde bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel nicht anders entschieden hätte. Nach der Rechtslage zum Zeitpunkt der ursprünglichen Steuerfestsetzung für die Streitjahre (Januar 1990) habe das FA von der 60 000 DM-Grenze für Betriebe gewerblicher Art ausgehen können. Diese sei von der Klägerin nicht erreicht worden. Unterhalb dieser Grenze sei ein Betrieb gewerb licher Art nur in Ausnahmefällen angenommen worden. Für einen derartigen Ausnahmefall habe die Klägerin aber nie etwas im Sinne der Verwaltungsanweisungen vorgetragen, insbesondere nicht, daß sie mit anderen Freibädern in unmittelbarem Wettbewerb stehe. Es könne daher nicht davon ausgegangen werden, daß das FA mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer anderen Steuer gelangt wäre. Dies wäre allenfalls möglich, aber eher unwahrscheinlich.
Der Senat hat mit Beschluß vom 7. Februar 1995 V B 62/94 (BFH/NV 1995, 861) die Revision zugelassen.
Mit der Revision rügt die Klägerin unter Bezugnahme auf den Zulassungsbeschluß einen Verstoß des FG gegen den klaren Inhalt der Akten.
Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung das FA zu verpflichten, die Umsatzsteuer unter Änderung der Bescheide, wie beantragt, festzusetzen.
Das FA ist der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Die Vorentscheidung verletzt § 96 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das FG hat den Inhalt der ihm vorliegenden Akten nicht vollständig und einwandfrei berücksichtigt. Dieser Verstoß, auf dem das Urteil beruht, führt zur Aufhebung.
1. Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten (Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 15. Dezember 1987 II R 130/85, BFH/NV 1989, 230, m. N.). Läßt das Gericht eine nach Aktenlage klar feststehende Tatsache unberücksichtigt oder geht es vom Nichtvorliegen dieser Tatsache aus, verstößt es unter Verletzung des § 96 Abs. 1 FGO gegen den klaren Inhalt der Akten (Urteil des Senats vom 18. Juni 1993 V R 93/88, BFH/NV 1995, 364, 365, unter 1. a).
a) Das FG hat im Rahmen der Prüfung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BFH (Beschluß des Großen Senats vom 23. November 1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180) zu Recht ausgeführt, ein Steuerbescheid dürfe wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen nicht geändert werden, wenn die Finanzbehörde bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen nicht anders entschieden hätte.
b) Bei der anschließenden hypothetischen Betrachtung, wie das FA bei Kenntnis bestimmter Tatsachen den Sachverhalt gewürdigt hätte, hat das FG die Einspruchsentscheidung des FA vom 29. Juli 1992 nicht ausreichend berücksichtigt.
Die zur Abweisung der Klage führende Begründung der Vorentscheidung stützt sich auf die Feststellung, die Klägerin habe nie etwas dafür vorgetragen, daß bei ihr ein Ausnahmefall von der 60 000 DM-Grenze für Betriebe gewerblicher Art vorliege.
Dies steht im Widerspruch zum Inhalt der Einspruchsentscheidung des FA vom 29. Juli 1992. Dort wird das Vorbringen der Klägerin zur Begründung ihrer Änderungsanträge vom 27. August 1991 wie folgt wiedergegeben:
"Bis zur Prüfung durch den Bayerischen Kommunalen Prüfungsverband sei sie davon ausgegangen, daß ein Betrieb gewerblicher Art ... nur dann gegeben ist, wenn ein nachhaltiger Jahresumsatz von über 60 000 DM erreicht wird. Im Rahmen der Prüfung habe sie erfahren, daß bei einer entsprechenden Konkurrenz zu anderen Freibädern die jährlich erzielten Umsätze i. H. v.
1985: 27 041,-- DM
1986: 34 000,-- DM
1987: 21 658,-- DM
...
ausreichend seien."
Die Darstellung durch das FA läßt auf den Vortrag der Klägerin schließen, bei ihr habe in den Streitjahren eine Konkurrenz-Situation zu anderen Freibädern bestanden, die ein Abweichen von der 60 000 DM- Grenze für Betriebe gewerblicher Art rechtfertige. Dies hätte das FG bei Auswertung der ihm vorliegenden Akten des FA erkennen können. Aus der Begründung der Vorentscheidung geht jedoch nicht hervor, daß und ggf. wie das FG den entsprechenden Teil der Einspruchsentscheidung bei seiner Überzeugungsbildung berücksichtigt hat.
2. Das Urteil beruht auf der Rechtsverletzung, da im Hinblick auf den Rechtsstandpunkt des FG zu § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht auszuschließen ist, daß die Entscheidung bei Berücksichtigung des klägerischen Vortrags anders ausgefallen wäre.
3. Die vorhandenen Feststellungen reichen nicht für eine Entscheidung des Senats in der Sache selbst aus (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO), ebensowenig für die Beurteilung, ob sich die Entscheidung aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 126 Abs. 4 FGO). Die Sache ist daher an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Fundstellen