Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulassung außerordentlicher Rechtsmittel ‐ Greifbare Gesetzeswidrigkeit
Leitsatz (NV)
1) Eine außerordentliche Beschwerde kommt ausnahmsweise dann in Betracht, wenn die angefochtene Entscheidung jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und mit der Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist. Die Nichtbeachtung wesentlicher Verfahrensvorschriften rechtfertigt allein noch nicht die außerordentliche Anfechtung von Entscheidungen, die nach der gesetzlichen Regelung keinem Rechtsmittel unterliegen.
2) Der Austausch des Erstattungsgläubigers nach Ergehen der Kostengrundentscheidung ist im Kostenfestsetzungsverfahren - außer in den Fällen des § 107 Abs. 1 FGO - nicht zulässig. Geschieht dies dennoch, ist die Verfahrensweise des FG dann nicht schlechthin unvereinbar mit dem Gesetz, wenn durch die Entscheidung im Ergebnis materielles Unrecht vermieden wird.
3) Ein unstatthaftes Rechtsmittel wird nicht dadurch statthaft, daß es auf die Behauptung der Verletzung des rechtlichen Gehörs gestützt wird (vgl. BVerfG-Beschluß vom 2. März 1982 2 BvR 869/81, BverfGE 60, 96; BFH-Beschluß vom 26. Mai 1977 V B 7/77, BFHE 122, 256, BStBl II 1977, 628 m.w.N.; BGH-Beschluß vom 14. Dezember 1989 - IX ZB 40/89, NJW 1990, 1794; BAG-Beschluß vom 21. April 1998 2 AZB 4/98, MDR 1998, 983).
Normenkette
FGO § 107 Abs. 1, §§ 113, 128 Abs. 4, § 149 Abs. 1
Tatbestand
Der Beschwerdegegner (das Finanzamt -FA-) erließ im Juni 1991 gegen die Grundstücksgemeinschaft S-D GbR einen Abrechnungsbescheid, mit dem das FA ein Umsatzsteuerguthaben der GbR mit Rückständen aus einem an die Gesellschafter S und D gerichteten Haftungsbescheid aufrechnete. Der gegen den Abrechnungsbescheid eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg. Auf die Klage "der Gesellschafter in der GbR" änderte das FA im Hauptsacheverfahren vor dem Finanzgericht -FG- den Abrechnungsbescheid entsprechend dem Klagebegehren. Die Beteiligten erklärten daraufhin übereinstimmend die Hauptsache für erledigt. Mit Beschluß vom 1. April 1997 legte das FG dem FA die Kosten des Verfahrens auf. Im Rubrum des Beschlusses sind die beiden Gesellschafter S und D als Kläger genannt. Auf den Kostenfestsetzungsantrag der Beschwerdeführer vom 17. April 1997 setzte der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des FG am 31. Juli 1997 die vom FA an die Beschwerdeführer zu erstattenden Kosten auf ... DM fest. Auf die Erinnerungen des FA und der Beschwerdeführer setzte das FG die zu erstattenden Aufwendungen auf ... DM herab und stellte unter Änderung des Rubrums fest, daß die Klage von der GbR erhoben worden sei und es sich deswegen nur um einen Kläger gehandelt habe. Damit scheide eine Gebührenerhöhung wegen mehrerer Auftraggeber gemäß § 6 der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO) aus. Die gegen den Beschluß des FG vom 28. April 1998 erhobene Gegenvorstellung der Beschwerdeführer wies das FG mit Beschluß vom 23. Juli 1998 zurück. Es führte unter anderem aus, daß das Gericht davon ausgehen konnte, daß die Beteiligten wußten, daß trotz der anderen Bezeichnung im Kostenbeschluß tatsächliche Klägerin im Hauptsacheverfahren die GbR als angeblich vorsteuerberechtigte Unternehmerin gewesen sei. Aus arbeitsökonomischen Gründen habe das FG von der Berichtigung des Kostenbeschlusses gemäß § 107 der Finanzgerichtsordnung (FGO) abgesehen. Hiergegen richtet sich die außerordentliche Beschwerde. Sie wird im wesentlichen damit begründet, daß der Beschluß des FG greifbar gesetzeswidrig sei, weil eine Auswechselung der Partei im Erinnerungsverfahren nicht zulässig sei. Außerdem seien die Beteiligten vor Erlaß der Entscheidung des FG nicht angehört worden.
Die Beschwerdeführer beantragen, unter Abänderung des Beschlusses des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 28. April 1998, die zu erstattenden Aufwendungen auf ... DM festzusetzen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde gegen den Beschluß des FG vom 28. April 1998 ist nicht statthaft und deshalb als unzulässig zu verwerfen, weil die Beschwerde in Streitigkeiten über Kosten gemäß § 128 Abs. 4 FGO (vgl. Senatsbeschluß vom 7. Mai 1996 VII B 17/96, BFH/NV 1996, 777) nicht gegeben ist.
Ausgehend von den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts -BVerfG- (vgl. Beschlüsse vom 28. März 1985 1 BvR 1245, 1254/84, BVerfGE 69, 233, und vom 28. September 1982 2 BvR 125/82, BVerfGE 61, 119) ist in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) anerkannt, daß eine Beschwerde ausnahmsweise dann in Betracht kommen kann, wenn die angefochtene Entscheidung, die nach den gesetzlichen Vorschriften unanfechtbar ist, jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und mit der Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist (vgl. BFH-Beschluß vom 20. Oktober 1997 VI B 244/95, BFH/NV 1998, 485, m.w.N.). Es reicht allerdings nicht aus, daß sich die angefochtene Entscheidung lediglich als fehlerhaft erweist (vgl. Senatsbeschluß vom 25. September 1990 VII B 134/90, BFH/NV 1991, 470). Auch die Nichtbeachtung wesentlicher Verfahrensvorschriften rechtfertigt allein noch nicht die außerordentliche Anfechtung solcher Entscheidungen, die nach der gesetzlichen Regelung keinem Rechtsmittel unterliegen (Beschluß des Bundesgerichtshofs -BGH- vom 12. Oktober 1989 VII ZB 4/89, BGHZ 109, 41). Bei der Entscheidung muß es sich um einen wirklich krassen Ausnahmefall handeln; sie muß also "greifbar gesetzeswidrig" sein.
Eine solche "greifbare Gesetzeswidrigkeit" liegt im Streitfall nicht vor. Die Entscheidung des FG ist nicht schlechthin unvereinbar mit dem Gesetz. Der Beschluß des FG vom 28. April 1998, mit dem es die zu erstattenden Aufwendungen herabgesetzt hat, ist zwar unter Verstoß gegen kostenrechtliche Grundsätze ergangen; im Ergebnis entspricht er jedoch der materiellen Rechtslage.
Nach § 149 Abs. 1 FGO werden auf Antrag die den Beteiligten zu erstattenden Aufwendungen von dem Urkundsbeamten des Gerichts des ersten Rechtszuges festgesetzt. Dieses Kostenfestsetzungsverfahren ist ein dem Erlaß der Kostengrundentscheidung folgendes Verfahren, das die Erstattung von Kosten zwischen den Beteiligten betrifft und nicht dazu dient, Fehler, die in der Kostenentscheidung gemacht worden sind, zu korrigieren (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, § 149 Anm. 1). Mit der Erinnerung gegen die Festsetzung der zu erstattenden Aufwendungen durch den Urkundsbeamten können demnach nur Einwendungen erhoben werden, die sich gegen den Kostenfestsetzungsbeschluß selbst richten (vgl. Senatsbeschluß vom 13. Januar 1994 VII E 15/93, BFH/NV 1994, 818, m.w.N.). Einwendungen, die ihre Grundlage nicht im Kostenrecht haben, können mit der Erinnerung nicht zur Geltung gebracht werden (vgl. Senatsbeschluß vom 9. August 1988 VII E 4/88, BFHE 154, 307, BStBl II 1989, 46). Damit war auch das FG bei der Entscheidung über die Erinnerung gegen die Kostenfestsetzung an die vorher getroffene Kostenentscheidung gebunden, insbesondere was die Anzahl der dort genannten Erstattungsgläubiger anging. Die Beschwerde rügt zu Recht, daß sich das FG mit seinem Beschluß vom 28. April 1998 hieran nicht gehalten und zu Unrecht das Aktivrubrum abgeändert hat, indem es dort anstelle der beiden Erstattungsgläubiger die GbR eingesetzt hat. Aufgrund dieser Verfahrensweise kam das FG -aus seiner Sicht folgerichtig- zu dem unter Berücksichtigung der Kostenentscheidung unzutreffenden Ergebnis, daß eine Gebührenerhöhung gemäß § 6 BRAGO nicht in Betracht komme, da es sich bei der GbR nur um einen Auftraggeber gehandelt habe.
Diese Verfahrensweise des FG -Änderung des Aktivrubrums und der dadurch bedingten Herabsetzung von Gebühren- entbehrt nach Ergehen der Kostengrundentscheidung einer rechtlichen Grundlage und kann insbesondere nicht auf § 107 FGO gestützt werden.
Nach § 107 Abs. 1 FGO sind Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten in Urteilen und Beschlüssen (§ 113 i.V.m. § 107 FGO) jederzeit vom Gericht zu berichtigen. Offenbar unrichtig i.S. von § 107 FGO ist eine Entscheidung mit einem Erklärungsmangel, der mit dem Erklärungswillen des Gerichts erkennbar nicht übereinstimmt und sich unmittelbar aus der Entscheidung selbst ergibt (vgl. BFH-Beschluß vom 31. Juli 1991 II B 152/90, BFH/NV 1992, 477).
Ob es ausreicht, daß sich die Unrichtigkeit erst aus anderen Vorgängen (wenn sich etwa ein Kostenbeschluß nur im Zusammenhang mit anderen Vorgängen erklären läßt) ergibt, kann im Streitfall dahingestellt bleiben. Denn auch bei Heranziehung von anderen Vorgängen ist eine versehentliche Abweichung der gerichtlichen Willenserklärung zum eigentlich Gewollten beim Beschluß des FG vom 1. April 1997 zur Kostenverteilung nicht erkennbar, weil das FG bis zur Entscheidung über die Erinnerung am 28. April 1998 zu keinem Zeitpunkt hat erkennen lassen, daß es die GbR als Klägerin oder Antragstellerin (beim AdV-Verfahren) angesehen hat.
Sowohl Klage als auch AdV-Verfahren sind entsprechend der vom Prozeßbevollmächtigten gewählten Beteiligtenbezeichnung registriert worden. Daran hat sich in der Folge nichts geändert, was sowohl die Kostenentscheidung als auch die Entscheidung des Urkundsbeamten über die Festsetzung der zu erstattenden Aufwendungen verdeutlicht. Beide Entscheidungen sind nämlich mit der vom Prozeßbevollmächtigten gewählten Bezeichnung getroffen worden. Anhaltspunkte dafür, daß das FG die Klageschrift in einem anderen Sinn ausgelegt und die GbR als Klägerin angesehen hat, sind den vorliegenden Akten nicht zu entnehmen.
Bis zur Entscheidung des FG über die Erinnerung bestand für die Beschwerdeführer kein Anlaß daran zu zweifeln, daß das FG sie als Streitgenossen ansah. Insbesondere im AdV-Beschluß hat das FG mehrmals (im Rubrum, im Tenor, beim Antrag und in den Entscheidungsgründen) die zwei Antragsteller erwähnt und keinen Raum für die Annahme gelassen, es habe sich hierbei lediglich um die fehlerhafte Registrierung bei der Aufnahme des Verfahrens gehandelt. Die fehlerhafte Beteiligtenbezeichnung im Beschluß vom 1. April 1997 stand folglich nicht erkennbar in Widerspruch zu dem Erklärungswillen des FG. Im übrigen würde die Berichtigung der Beteiligtenbezeichnung gemäß § 107 FGO auch voraussetzen, daß die Identität der Partei gewahrt bliebe (vgl. zur wortgleichen Vorschrift des § 319 der Zivilprozeßordnung: Zöller/Vollkommer, Zivilprozeßordnung, 21. Aufl., § 319 Rz. 14; Thomas/Putzo, Zivilprozeßordnung, 21. Aufl., § 319 Rz. 3). Eine Berichtigung nach § 107 FGO kam deshalb auch wegen der fehlenden Identität zwischen der GbR und den einzelnen Gesellschaftern nicht in Betracht.
Da andere Vorschriften zur Berichtigung der Kostenentscheidung nicht herangezogen werden können, war ein Austausch der Erstattungsgläubiger im Festsetzungsverfahren nicht mehr möglich.
Die rechtsfehlerhafte Entscheidung des FG ist gleichwohl nicht schlechthin unvereinbar mit dem Gesetz, weil der Beschluß im Ergebnis der materiellen Rechtslage entspricht.
Die Frage, wer Kläger und im Falle des Obsiegens im anschließenden Kostenfestsetzungsverfahren Erstattungsgläubiger ist, richtet sich zunächst nach dem Wortlaut der Klageschrift (§ 65 FGO), die als Prozeßerklärung der Auslegung zugänglich ist. Bei der vom Prozeßbevollmächtigten eingereichten Klageschrift der "Gesellschafter S und D in der GbR" war eine Auslegung im Hinblick auf den Adressaten des Abrechnungsbescheids -die GbR- möglich und zulässig. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Einspruchsentscheidung ebenfalls fehlerhaft an "die Gesellschafter S und D in der GbR" adressiert war. Eine andere Auslegung der Klageschrift hätte eine Abweisung der Klage gegen den Abrechnungsbescheid zur Folge gehabt und es verhindert, dem FA nach der Aufhebung des Abrechnungsbescheids und der Erledigungserklärung der Beteiligten die gesamten Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Auch die Beschwerdeführer räumen ein, daß die GbR als Unternehmerin nach § 2 des Umsatzsteuergesetzes Steuerrechtssubjekt und zu Recht Adressat des Abrechnungsbescheids geworden ist. Klagebefugt war danach nur die GbR, vertreten durch die beiden Beschwerdeführer als Gesellschafter. Eine Klage der beiden Gesellschafter gegen den Abrechnungsbescheid wäre demnach unzulässig gewesen. Das FG hat mit seinem fehlerhaften Beschluß vom 28. April 1998 somit keine Entscheidung getroffen, die sich als krasses Unrecht darstellt. Der Beschluß des FG beruht nicht auf Willkür, sondern berücksichtigt, daß dem FA die Kosten des Verfahrens nur dann vollständig auferlegt werden konnten, wenn man den Klageschriftsatz unter Berücksichtigung der Einspruchsentscheidung im vorgenannten Sinne auslegt. Das FG hat folglich mit der Herabsetzung der zu erstattenden Aufwendungen kein krasses Unrecht geschaffen, sondern eine Entscheidung getroffen, die bei verständiger Würdigung einen sachgerechten Abschluß des gesamten streitigen Verfahrens bildet. Es ist mit der Rechtsordnung nicht schlechthin unvereinbar, wenn mit einer verfahrensfehlerhaft ergangenen Entscheidung im Ergebnis materielles Unrecht vermieden wird.
Der Senat konnte es schließlich dahingestellt sein lassen, ob eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darin zu sehen ist, daß das FG bei seiner Entscheidung über die Erinnerung einen anderen rechtlichen Standpunkt eingenommen hat und dies für die Beteiligten eine Überraschungsentscheidung war, da ein unstatthaftes Rechtsmittel nicht dadurch statthaft wird, daß es auf die Behauptung der Verletzung des rechtlichen Gehörs gestützt wird (vgl. BVerfG-Beschluß vom 2. März 1982 2 BvR 869/81, BVerfGE 60, 96; BFH-Beschluß vom 26. Mai 1977 V B 7/77, BFHE 122, 256, BStBl II 1977, 628, m.w.N.; BGH-Beschluß vom 14. Dezember 1989 IX ZB 40/89, Neue Juristische Wochenschrift 1990, 1794; Beschluß des Bundesarbeitsgerichts vom 21. April 1998 2 AZB 4/98, Monatsschrift für Deutsches Recht 1998, 983).
Fundstellen
Haufe-Index 170942 |
BFH/NV 1999, 1107 |