Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewissheitsgrad im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes und Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK; Richterablehnung
Leitsatz (NV)
Die Tatsache, dass das FG einen Antrag des Klägers auf Aussetzung der Vollziehung mit der Begründung als unbegründet zurückgewiesen hat, es habe keine ernstlichen Zweifel am Vorliegen einer Steuerhinterziehung, rechtfertigt nicht die Ausschließung oder Ablehnung des Gerichts in der gleichen Zusammensetzung für die spätere Entscheidung der Hauptsache.
Normenkette
FGO §§ 51, 69; EMRK Art. 6 Abs. 2
Nachgehend
Tatbestand
Mit Beschluss vom 24. Januar 2000 hat das Finanzgericht (FG) die Aussetzung der Vollziehung der gegen die Klägerin, Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ergangenen Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1987 bis 1995 bis auf geringe Beträge für die Jahre 1987 bis 1991 abgelehnt.
Mit Schriftsatz vom 26. Februar 2000 lehnte die Klägerin die Richter, die am Beschluss vom 24. Januar 2000 mitgewirkt hatten, für ihre weiteren Verfahren wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Zugleich beantragte sie, den Beschluss vom 24. Januar 2000 wegen Mitwirkung der abgelehnten Richter aufzuheben.
Das FG hielt das Befangenheitsgesuch für missbräuchlich und wies es in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung unter Mitwirkung der abgelehnten Richter zurück.
Hiergegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
I. Es kann dahinstehen, ob das FG in der richtigen Besetzung über das Befangenheitsgesuch der Klägerin entschieden hat.
1. Für die Ablehnung der Gerichtspersonen gelten gemäß § 51 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) die Vorschriften der §§ 41 bis 49 der Zivilprozeßordnung (ZPO) sinngemäß. Aus §§ 45 Abs. 1 und 47 ZPO folgt, dass in der Regel der abgelehnte Richter bei der Entscheidung über das Ablehnungsgesuch nicht mitwirkt. Eine Ausnahme hiervon besteht nur dann, wenn das Ablehnungsgesuch offensichtlich unzulässig ist (Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 2. Juli 1976 III R 24/74, BFHE 119, 227, BStBl II 1976, 627). Von einer solchen Ausnahme ist das FG im angefochtenen Beschluss ausgegangen. Selbst wenn man dem FG in diesem Ausgangspunkt nicht folgen wollte, würde dies jedoch nicht dazu führen, dass der Senat die Sache wegen eines Verfahrensfehlers an das FG zurückverweisen müsste.
2. Als zur Ermittlung des Sachverhalts und dessen Würdigung auch in tatsächlicher Hinsicht befugtes Beschwerdegericht darf der Senat vielmehr in der Sache selbst entscheiden (ständige Rechtsprechung; vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 26. September 1989 VII B 75/89, BFH/NV 1990, 514, unter Hinweis auf Entscheidungen anderer oberer Bundesgerichte; BFH-Beschluss vom 25. Juli 1997 VI B 68/97, BFH/NV 1998, 61; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, § 51 Anm. 67; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 51 FGO, Tz. 48).
II. Von dieser Befugnis, in der Sache selbst zu entscheiden, macht der Senat Gebrauch, da das Ablehnungsgesuch sofern nicht offensichtlich unzulässig, so doch jedenfalls offensichtlich unbegründet ist.
1. Das FG hat zutreffend ausgeführt, dass das Richterablehnungsverfahren nicht gegen (angeblich) unrichtige Rechtsansichten des Richters und im Übrigen auch nicht gegen eine (angeblich) unzutreffende oder unzureichende Ermittlung des Sachverhalts durch den Richter schützt. Nur bei leicht feststellbarer und gravierender Fehlerhaftigkeit, die den Schluss auf unsachliche Erwägungen oder eine unsachliche Einstellung des Richters erlaubt, kann ausnahmsweise die Besorgnis der Befangenheit gerechtfertigt sein (BFH-Beschluss vom 27. Juli 1992 VIII B 59/91, BFH/NV 1993, 112). Das FG hat überzeugend dargelegt, dass diese Voraussetzungen im Streitfall nicht vorliegen. Der Senat nimmt insoweit auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses Bezug (§ 113 Abs. 2 Satz 3 FGO).
2. Das Beschwerdevorbringen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin gibt keine Veranlassung zu einer anderweitigen Beurteilung.
a) Indem das FG die Anträge der Klägerin auf Aussetzung der Vollziehung weitestgehend abgelehnt hat, hat es nicht gegen das Gebot der Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (MRK) verstoßen.
aa) Insbesondere kann den Richtern des FG nicht der Vorwurf gemacht werden, sie hätten sich, noch ehe eine Beweisaufnahme oder Verhandlung stattgefunden habe, auf die Schuld der Klägerin festgelegt. Da die Klägerin Anträge auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 FGO gestellt hatte, musste das FG über diese Anträge entscheiden. Es handelt sich dabei um ein summarisches Verfahren, in dem die ―ihrer Natur nach vorläufige― Entscheidung nur auf den Akteninhalt oder präsente Beweismittel gestützt wird (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BFH-Beschlüsse vom 14. Februar 1989 IV B 33/88, BFHE 156, 167, BStBl II 1989, 516, und vom 21. Juli 1994 IX B 78/94, BFH/NV 1995, 116). Eine mündliche Verhandlung ist nicht erforderlich, eine förmliche Beweisaufnahme kommt abgesehen von dem hier nicht relevanten Fall, dass Zeugen gestellt werden, nicht in Betracht. Der summarische Charakter des Verfahrens hat indessen nicht ―wie die Klägerin zu meinen scheint― zur Folge, dass das FG einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung in jedem Fall stattgeben muss, wenn die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung ―etwa wegen der Frage der Verjährung― davon abhängt, ob Steuern hinterzogen worden sind. Auch in einem solchen Fall muss das Gericht den Antrag ablehnen, wenn es bei summarischer Prüfung keine ernstlichen Zweifel i.S. des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verwaltungsakte hat (BFH-Beschluss vom 5. März 1979 GrS 5/77, BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570). Ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK ist hierin ebenso wenig zu sehen wie in anderen vorläufigen Maßnahmen - etwa der Anordnung von Untersuchungshaft.
bb) Die Tatsache, dass das FG einen Antrag der Klägerin auf Aussetzung der Vollziehung als sachlich unbegründet zurückgewiesen hat, rechtfertigt nicht die Ausschließung oder Ablehnung des Gerichts in der gleichen Zusammensetzung für die spätere Entscheidung in der Hauptsache (BFH-Beschlüsse vom 12. März 1971 III B 54/70, BFHE 101, 352, BStBl II 1971, 333, und vom 4. Oktober 1994 X B 168/94, BFH/NV 1995, 528). Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn das Gericht den Aussetzungsantrag aus unsachlichen Gründen abgelehnt hätte. Das ist hier nicht der Fall. Die Klägerin beanstandet die Formulierung, in der das FG ausführt, es sei nach seiner Meinung ―entgegen dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin― ausgeschlossen, dass das Strafgericht später lediglich eine leichtfertige Steuerverkürzung annehmen werde, da die der Klägerin vorgeworfenen Manipulationen ihrer Einnahmen und Ausgaben schon ihrer Art nach nur vorsätzlich erfolgt sein könnten. Diese Formulierung ist logisch nachvollziehbar und schon deshalb nicht unsachlich. Aus ihr kann nicht geschlossen werden, dass sich das FG für das Verfahren der Hauptsache festgelegt habe, etwa indem es auch dann bei seiner Auffassung bleiben werde, wenn sich herausstellen sollte, dass die Klägerin die ihr vorgeworfenen Manipulationen nicht vorgenommen hat. Abgesehen davon wäre das FG an die Beurteilung der Strafgerichte nicht gebunden (Senatsurteil vom 8. September 1994 IV R 6/93, BFH/NV 1995, 573, m.w.N.).
b) Mit dem Vorwurf, die Akten seien trotz Anforderung nicht an die Staatsanwaltschaft zurückgegeben worden, soll offenbar die Voreingenommenheit des Berichterstatters ―nicht des ganzen Senats― gerügt werden. Der Vorwurf ist jedoch nicht nachvollziehbar. Das FA hatte mit Schreiben vom 8. Februar 2000 um Rückgabe der Akten gebeten mit dem nicht näher erläuterten Hinweis, diese würden wieder von der Staatsanwaltschaft benötigt. Der Berichterstatter antwortete darauf am 10. Februar 2000, das FG benötige die Akten noch für das Verfahren der Hauptsache, ihre Entbehrlichkeit sei nicht absehbar. Wie sich aus dem angefochtenen Beschluss ergibt, lagen dem FG damals keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Staatsanwaltschaft beabsichtigte, das Strafverfahren gegen die Klägerin einzustellen. Auch der Senat kann solche Anhaltspunkte aus den Akten des FG nicht entnehmen. Gegen eine Voreingenommenheit des Berichterstatters spricht auch, dass er die Akten am 12. Mai 2000 an die Staatsanwaltschaft übersandte, nachdem diese mitgeteilt hatte, dass sie die Akten zur Bearbeitung von Beschwerden der Klägerin benötige.
c) Die Voreingenommenheit des Senats des FG soll sich der Beschwerdebegründung zufolge auch aus folgendem im Beschluss vom 24. Januar 2000 enthaltenen Satz ergeben: "Daher ist für die Feststellung der Steuerhinterziehung kein höherer Grad von Gewissheit erforderlich als für die Feststellung anderer Tatsachen, für die das FA die objektive Beweislast trägt." Auch insoweit handelt es sich um eine rechtliche Erwägung des FG, die lediglich dann den Vorwurf der Befangenheit begründen könnte, wenn sie unsachlich wäre (s.o. unter II. 2. a, bb). Das ist indessen nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um die Wiedergabe der Rechtsauffassung des Großen Senats des BFH in seinem Beschluss in BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570. Sie entspricht seitdem der ständigen Rechtsprechung des BFH (vgl. zuletzt Senatsbeschluss vom 17. Februar 1999 IV B 66/98, BFH/NV 1999, 1188). Offenbar will die Klägerin auch insoweit rügen, dass der Beschluss des FG vom 24. Januar 2000 ohne mündliche Verhandlung und ohne Beweisaufnahme erging. Das liegt jedoch nicht daran, dass im finanzgerichtlichen Verfahren an den Nachweis einer Steuerstraftat geringere Voraussetzungen zu stellen wären als im Strafverfahren, sondern daran, dass der Beschluss ―auf Antrag der Klägerin― im summarischen Verfahren ergangen ist (s.o. unter II. 2. a, aa).
Fundstellen
Haufe-Index 447451 |
BFH/NV 2001, 202 |