Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Ein Rechtsstreit, in dem die Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs erneut geprüft werden soll, weil die Finanzverwaltungen nicht nach den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs verfahren, ist im allgemeinen von grundsätzlicher Bedeutung, insbesondere, wenn rechtliche Gesichtspunkte vorgetragen werden, die der Bundesfinanzhof bisher nicht berücksichtigt hat.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Kinderfreibeträgen für die beiden Kinder der Steuerpflichtigen (Stpfl.), die seit 1947 von ihrem Ehemann geschieden ist. Beide Kinder, die in den Jahren 1938 und 1939 geboren wurden, befanden sich im Streitjahr in der Berufsausbildung. Die Stpfl. und ihr geschiedener Ehemann trugen zusammen die Kosten des Unterhalts und der Ausbildung beider Kinder. Wenn auch die Stpfl. wesentlich mehr aufgewendet hat als ihr früherer Ehemann, so trug sie nach der Auffassung des Finanzgerichts (FG) diese Kosten doch nicht "im wesentlichen". Das FG hat ihr aber unter Bezugnahme auf das Urteil des Senats VI 171/63 U vom 26. Juni 1964 (BFH 80, 197, BStBl III 1964, 546) für jedes Kind einen halben Kinderfreibetrag zugestanden.
Da der Streitwert für die Revision unter 1.000 DM liegt und das FG die Revision nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat, hat die OFD als Vertreter des zuständigen FA gegen die Nichtzulassung der Revision Beschwerde eingelegt. Zur Begründung weist sie darauf hin, daß im Schrifttum gegen das angeführte Urteil VI 171/63 U (a. a. O.) Bedenken erhoben werden, und daß die Steuerverwaltungsbehörden durch gleichlautende Ländererlasse angewiesen worden seien, es bis auf weiteres nicht anzuwenden, weil eine erneute Prüfung der Rechtsfrage durch den BFH unter Beteiligung des BdF angestrebt werde. Durch die Aufteilung des Kinderfreibetrags auf geschiedene Ehegatten würden diese entgegen dem bürgerlichen Recht noch im gewissen Sinn als Einheit behandelt. Es treffe auch nicht zu, wie in der Begründung des Urteils VI 171/63 U ausgeführt werde, daß der Gesetzgeber derartige Fälle nicht in seine Erwägungen einbezogen habe; denn § 33 a Abs. 1 EStG biete die Möglichkeit, die Aufwendungen jedes Elternteils steuerlich zu berücksichtigen. Bei unterschiedlicher Beteiligung der geschiedenen Eltern an den Kosten des Unterhalts und der Berufsausbildung ihrer Kinder führe außerdem die Gewährung des halben Kinderfreibetrags an jeden von ihnen zu einer ungleichmäßigen Besteuerung. Schließlich ergäben sich auch Schwierigkeiten bei steuerlichen Vergünstigungen, die von der Gewährung eines Kinderfreibetrags abhingen, z. B. beim Höchstbetrag für begrenzt abzugsfähige Sonderausgaben oder bei der Ermittlung der zumutbaren Eigenbelastung.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet. Der Senat hat die streitige Rechtsfrage in der Entscheidung VI 171/63 U (a. a. O.) ebenso beurteilt wie das FG in der vorliegenden Sache. Wenn das Urteil eines FG mit der Rechtsprechung des BFH übereinstimmt, ist zwar im allgemeinen die streitige Rechtsfrage nicht von grundsätzlicher Bedeutung, es sei denn, es werden neue rechtliche Gesichtspunkte geltend gemacht, die die Rechtsprechung des BFH bisher nicht berücksichtigt hat. über die Zubilligung von Kinderfreibeträgen an geschiedene Eheleute besteht bisher keine ständige Rechtsprechung. Es liegt lediglich das Urteil VI 171/63 U (a. a. O.) vor, das nicht als Grundsatzurteil im Sinne von § 64 der Reichsabgabenordnung a. F. veröffentlicht wurde. Da die Finanzverwaltungsbehörde nicht nach den Grundsätzen dieses Urteils verfährt, besteht keine einheitliche Rechtsauffassung in Rechtsprechung und Verwaltungspraxis. Das FA trägt zudem in seiner Beschwerde rechtliche Gesichtspunkte vor, zu denen der Senat im Urteil VI 171/63 U (a. a. O.) noch nicht Stellung genommen hat. Die Rechtsfrage hat infolge der ab 1962 geänderten Fassung des § 32 Abs. 2 Ziff. 2 Buchst. a, aa EStG zwar nicht mehr dieselbe Bedeutung wie vorher. Gleichwohl ist sie nicht gegenstandslos; denn nach den Ausführungen der OFD beabsichtigt der BdF, dem Rechtsstreit nach § 122 Abs. 2 FGO beizutreten. Unter diesen Umständen dient die erneute Prüfung der Rechtsfrage der einheitlichen Handhabung und der Fortentwicklung des Rechts, so daß sie im Sinne von § 115 Abs. 2 Ziff. 1 FGO von grundsätzlicher Bedeutung ist.
Fundstellen
Haufe-Index 412464 |
BStBl III 1967, 340 |
BFHE 1967, 157 |
BFHE 88, 157 |