Entscheidungsstichwort (Thema)
Mißbräuchliche Untätigkeitsklage, Grenzen der Aussetzung eines Verfahrens wegen Musterprozeß vor dem BVerfG
Leitsatz (NV)
1. Eine Untätigkeitsklage gemäß § 46 Abs. 1 FGO (Anfechtungsklage ohne abgeschlossenes Vorverfahren) ist mißbräuchlich und daher unzulässig, wenn sie zu einem Zeitpunkt erhoben wird, zu dem weder die Rechtsbehelfsbehörde noch das FG eine Entscheidung in der Sache treffen können, weil das Bundesverfassungsgericht eine im Streitfall anzuwendende Norm für verfassungswidrig erklärt, der Gesetzgeber die erforderliche gesetzliche Neuregelung aber noch nicht getroffen hat.
2. Eine Aussetzung eines gerichtlichen Verfahrens wegen eines beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Musterprozesses ist nicht möglich, wenn es in dem Musterprozeß nicht um die Verfassungsmäßigkeit einer im Streitfall anzuwendenden Norm, sondern um die Auslegung dieser Norm durch ein Gericht oder um die Frage des gesetzlichen Richters geht.
Normenkette
AO 1977 § 363; FGO § 46 Abs. 1, §§ 74, 136 Abs. 1, § 236
Verfahrensgang
Gründe
1. Die Beschwerde ist unbegründet.
a) Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung.
Soweit die von den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) aufgeworfenen Rechtsfragen durch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) noch nicht geklärt und daher möglicherweise klärungsbedürftig sind, sind sie in einem späteren Revisionsverfahren nicht klärungsfähig. Der Streitfall weist nämlich derartige Besonderheiten auf, daß sich die von den Klägern aufgeworfenen klärungsbedürftigen Fragen überhaupt nicht stellen.
Die Erhebung der Untätigkeitsklage durch die Kläger war nämlich mißbräuchlich. Der Mißbrauch lag u.a. darin, daß die Klage zu einem Zeitpunkt erhoben worden ist, als weder der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) noch das Finanzgericht (FG) eine Entscheidung in der Sache treffen konnten. Die Klage verfehlte daher den Zweck des § 46 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), bereits vor der außergerichtlichen Rechtsbehelfsentscheidung einen Erfolg in der Sache zu ermöglichen, wenn das FA das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren unangemessen verzögert. Dies hat der Senat in einem ähnlich gelagerten Fall mit Beschluß vom 8. Mai 1992 III B 123/92, BFH/NV 1993, 244 und auch mit dem veröffentlichten Beschluß vom gleichen Tage III B 138/92 (BFHE 167, 303) eingehend begründet. An den in diesen Entscheidungen dargelegten Grundsätzen hält der Senat fest, da neue Gesichtspunkte, die den Senat zur Änderung seiner Rechtsprechung veranlassen könnten, nicht vorgebracht worden sind. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird daher auf die beiden genannten Beschlüsse Bezug genommen.
Im Streitfall wird die Mißbräuchlichkeit der Klageerhebung besonders deutlich, weil die Klage wegen der Höhe des Kinderfreibetrages und des Grundfreibetrages zu einem Zeitpunkt erhoben worden ist, als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Kinderfreibetragsregelung bereits für mit dem Grundgesetz (GG) unvereinbar erklärt, der Gesetzgeber aber noch keine Neuregelung getroffen hatte. Die Klage wurde nämlich mit Schriftsatz vom 14. März 1991, eingegangen beim FG am 26. April 1991, erhoben, während die Neuregelung der Kinderfreibeträge u.a. für das Streitjahr (1985) aufgrund der Entscheidung des BVerfG vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86 (BStBl II 1990, 664) erst am 24. Juni 1991 (BGBl I 1991, 1323) erfolgt ist. Im Zeitpunkt der Klageerhebung konnten weder das FA noch das FG aus zwingenden rechtlichen Gründen eine Entscheidung in der Sache treffen (§ 31 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht - BVerfGG -). Darauf hat das FA die Kläger vorher auch ausdrücklich schriftlich hingewiesen. Die neue Rechtsprechung des BFH, wonach die Einspruchs- und Klageverfahren unter bestimmten Voraussetzungen bereits dann auszusetzen sind, wenn ein Musterverfahren beim BVerfG anhängig ist (vgl. Beschluß des erkennenden Senats vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408), spielt dabei keine Rolle. Selbst wenn nämlich das FA im Streitfall trotz der wegen der Höhe des Grundfreibetrages bereits anhängigen Musterverfahren vor dem BVerfG insoweit eine Entscheidung in der Sache hätte treffen können, war eine Teileinspruchsentscheidung nur über den Grundfreibetrag unter Ausklammerung des Kinderfreibetrages nicht möglich. Denn bei einem Einkommensteuerbescheid läßt sich der Streitgegenstand wegen des Progressionstarifs und der einkommensabhängigen Freibeträge nicht in größenmäßig bestimmte Teile zerlegen (vgl. Sentsbeschluß in BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408). Im Zeitpunkt der Klageerhebung war daher insgesamt keine Sachentscheidung des FA oder des FG möglich. Abgesehen davon haben die Kläger eine solche Teilentscheidung auch nicht begehrt, sondern ihre Untätigkeitsklage ausdrücklich auch wegen des Kinderfreibetrages erhoben.
Die Zulässigkeit einer solchen Untätigkeitsklage zwischen Unvereinbarkeitserklärung einer Norm mit dem GG durch das BVerfG und Neuregelung durch den Gesetzgeber würde nicht nur bedeuten, daß sich alle von der Entscheidung des BVerfG betroffenen Steuerpflichtigen alsbald nach Ergehen der Entscheidung ohne jedes Prozeßrisiko Prozeßzinsen (§ 236 der Abgabenordnung - AO 1977 -) verschaffen könnten. Da die Klage im Falle ihrer Zulässigkeit oder auch nur im Falle ihres Hineinwachsens in die Zulässigkeit wegen der vorausgegangenen Entscheidung des BVerfG zwangsläufig Erfolg haben müßte, könnte sich außerdem der Prozeßbevollmächtigte nach § 136 Abs. 1 FGO auch Prozeßgebühren auf Kosten des FA und damit des Steuerzahlers ohne jegliches Risiko für die Kläger verschaffen.
b) Im übrigen ergeht die Entscheidung gemäß Art.1 Nr.6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vom 20. Dezember 1991 (BGBl I 1991, 2288) ohne Angabe von Gründen.
2. Die von den Klägern begehrte Aussetzung des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens bis zur Entscheidung des BVerfG über die u.a. gegen den Senatsbeschluß vom 8. Mai 1992 III B 123/92 und weitere Parallelfälle erhobenen Verfassungsbeschwerden ist nicht möglich. Nach der o.g. Entscheidung des Senats in BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408 setzt die Aussetzung eines Verfahrens wegen eines beim BVerfG anhängigen Musterverfahrens u.a. voraus, daß sich das Musterverfahren gegen die Verfassungsmäßigkeit einer im Streitfall anzuwendenden Norm richtet. Nach dem Vortrag des Prozeßbevollmächtigten der Kläger geht es bei den von ihm genannten Verfassungsbeschwerden im wesentlichen um die Auslegung des § 46 Abs. 1 FGO durch den Senat und die Frage des gesetzlichen Richters und damit nicht um die Verfassungsmäßigkeit einer im Streitfall anzuwendenden Norm.
Fundstellen
Haufe-Index 418664 |
BFH/NV 1993, 310 |