Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung bei ungeklärtem Abgangsdatum und ungeklärter Versendungsart
Leitsatz (NV)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nur gewährt werden, wenn sowohl der tatsächliche Abgang des Schriftstückes als auch die Versendungsart glaubhaft gemacht werden.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung von Betriebsausgaben im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung der Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) im Streitjahr 1983. Durch Urteil vom . . . gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt und ließ durch Beschluß . . . die Revision zu. Der Beschluß wurde den Beteiligten am 3. April zugestellt. Mit Schriftsatz vom 19. April legte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) Revision ein. Die Revisionsbegründung vom 23. Mai ging am 4. Juni in einem nicht frankierten und von der Post nicht abgestempelten Umschlag beim Bundesfinanzhof (BFH) ein. Am 13. Juni beantragte das FA wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und führte zur Begründung aus, die Revisionsbegründungsschrift sei am Freitag, dem 24. Mai zur Post gegeben worden. Dies ergebe sich aus einem Aktenvermerk der Kanzleikraft. Ein derartiger Vermerk werde an Freitagen nur dann als Absendetermin auf der Verfügung festgehalten, wenn nach vorangegangener Absprache mit der Postausgangsstelle sichergestellt sei, daß das betreffende Schriftstück an diesem Tage zur Post gegeben werde. Aus dem Vermerk müsse gefolgert werden, daß die Kanzlei das Schriftstück am 24. Mai zur Post gegeben habe. Der verspätete Eingang beruhe deshalb auf einer überlangen Briefbeförderungsdauer. Das FA hat zur Glaubhaftmachung eine eidesstattliche Versicherung seiner Kanzleivorsteherin vom 27. August vorgelegt, auf deren Inhalt Bezug genommen wird.
Auf Anfrage hat das FA mitgeteilt, es bestehe die Möglichkeit, daß die Revisionsbegründungsschrift zusammen mit anderer Post des FA in einem weiteren Umschlag an den BFH gesandt worden sei; eine persönliche Abgabe des Umschlags beim BFH sei nicht erfolgt.
Entscheidungsgründe
Die Revision war als unzulässig zu verwerfen (§§ 124, 126 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), weil sie nicht rechtzeitig begründet worden ist (§ 120 Abs. 1 FGO). Die Frist für die Begründung der Revision lief am 3. Juni ab; die Begründungsschrift ist jedoch erst am 4. Juni beim BFH eingegangen. Der Schriftsatz ist an diesem Tage in der Posteingangsstelle des BFH abgestempelt worden.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann dem FA nicht gewährt werden, da es nicht dargelegt und glaubhaft gemacht hat, daß es ohne Verschulden gehindert war, die Frist einzuhalten (§ 56 Abs. 1 und 2 FGO). Diese Voraussetzungen liegen nur dann vor, wenn das FA unter Berücksichtigung der gewählten Zustellungsart davon ausgehen konnte, die Begründungsschrift werde vor Fristablauf beim Gericht eingehen.
Es läßt sich nicht feststellen, auf welchem Wege die Begründungsschrift an den BFH gelangt ist. Die Versendungsart ist vom FA nicht vermerkt worden. Das FA geht von einer Einzelversendung auf dem Postwege aus, hält jedoch auch eine Versendung mit anderen Schriftstücken in einem Sammelumschlag für möglich. Beide Versendungsarten sind nach Lage der Dinge wenig wahrscheinlich. Eine Zusendung durch Einzelbrief erscheint als ausgeschlossen, da der bei den Akten befindliche Umschlag weder frankiert noch abgestempelt ist. Wird ein unfrankierter Brief bei der Post eingeliefert, gibt diese die Sendung an den Absender zurück oder fordert das Porto beim Empfänger ein. Bemerkt sie die fehlende Frankierung nicht, wird die Sendung abgestempelt und zugestellt. Eine Versendung mit anderer Post in einem Sammelumschlag ist ebenfalls wenig wahrscheinlich, weil bei Posteingang in dieser Form der Sammelumschlag beim BFH aufgehoben wird und den einzelnen in ihm enthaltenen Schriftstücken Beizettel angefügt werden, die auf den Sammelumschlag hinweisen. Auch dies ist im Streitfall nicht geschehen. Daß von dieser ständigen, auf einer Dienstanweisung des Präsidenten des BFH beruhenden Übung im vorliegenden Fall ausnahmsweise abgewichen worden wäre, kann nicht unterstellt werden. Außerdem hat das FA keinerlei Hinweise auf Verfahren gegeben, in denen zusammen mit der fraglichen Revisionsbegründungsschrift Schriftsätze zum BFH gesandt worden sein können. Wegen der geringen Zahl der vom FA beim BFH geführten Verfahren wäre ein solcher Vortrag möglich gewesen.
Obwohl das FA lediglich diese beiden Zustellungsarten für möglich hält, ist nach Lage der Dinge auch eine Übersendung durch Boten, als Inhalt einer Paketsendung - etwa mit Akten anderer Verfahren - oder auf dem Behördenweg nicht auszuschließen.
Es steht auch nicht fest, an welchem Tag der Schriftsatz abgesandt worden ist. Ein Postausgangsbuch wird beim FA nicht geführt. Die Verfügung der Kanzleikraft in den Steuerakten vom 23. Mai enthält zwar einen von der Kanzleikraft abgezeichneten Vermerk ,,abges. 24. Mai", doch bedeutet dies lediglich, daß das Schriftstück durch die Kanzleikraft nach Unterzeichnung durch den Bearbeiter am 24. Mai der Postausgangsstelle des FA zur Versendung an den BFH zugeleitet worden ist. Dies wird durch die eidesstattliche Versicherung der Kanzleivorsteherin bestätigt.
Der Senat geht aufgrund der Darlegungen des FA davon aus, daß in der Postausgangsstelle erfahrene Bedienstete tätig sind und seit 1989 in monatlichen Abständen vorgenommene Stichproben des Postausgangs keine Beanstandungen ergeben haben. Dies reicht jedoch nicht aus, die Fristversäumnis als unverschuldet anzusehen. Die Versendungsart der Begründungsschrift steht - wie oben ausgeführt - nicht fest. Da auch eine Versendung außerhalb des Postweges nicht auszuschließen ist, kann sich das FA auf eine Verzögerung der Postlaufzeit nicht berufen (BFH-Beschluß vom 16. April 1986 IX R 62/82, BFH / NV 1986, 618). Das FA trägt die Darlegungslast für den tatsächlichen Zeitpunkt der Absendung eines Schriftstücks. Ein bloßer Aktenvermerk der Kanzlei genügt nicht, um diesen Zeitpunkt glaubhaft zu machen, weil sonst Steuerpflichtige den ihnen regelmäßig nicht möglichen ,,Gegenbeweis" führen müßten (BFH-Urteil vom 26. April 1989 I R 86/88, BFHE 157, 19, BStBl II 1989, 695). Vielmehr müssen zur Rechtfertigung eines Wiedereinsetzungsantrags Tatsachen vorgetragen und glaubhaft gemacht werden, die eine Grundlage dafür bieten, nicht nur die fristgerechte Bearbeitung, sondern auch die rechtzeitige Versendung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen (BFH-Beschluß vom 20. Juli 1983 II R 211/81, BFHE 139, 15, BStBl II 1983, 681).
Diesen Voraussetzungen entspricht der Vortrag des FA nicht. Der rechtzeitige Abgang des Schriftstücks ist nicht glaubhaft gemacht, insbesondere fehlt eine Benennung desjenigen Bediensteten, der die Absendung vorgenommen hat. Dies wäre aber mangels anderer Nachweismöglichkeiten im Streitfall erforderlich, um den Zeitpunkt der Absendung und die gewählte Versendungsart hinreichend zu klären (BFH-Beschlüsse in BFH / NV 1986, 616 und vom 13. November 1986 IX R 84/86, BFH / NV 1987, 108).
Da hinsichtlich der Sorgfaltspflichten bei der Wahrung prozessualer Pflichten grundsätzlich gegenüber den Finanzbehörden die gleichen Maßstäbe anzulegen sind wie gegenüber Parteien und Prozeßbevollmächtigten (BFH-Beschluß vom 1. Oktober 1981 IV R 100/80, BFHE 134, 220, BStBl II 1982, 131), ist vom FA eine wirksame Überwachung des Postausgangs fristwahrender Schriftsätze zu verlangen. Der Abgangsvermerk einer Kanzleikraft, die den Schriftsatz an die Postausgangsstelle weiterleitet, reicht nicht aus, weil das Schriftstück auf dem Weg zur Poststelle fehlgeleitet oder von letzterer nicht sachgerecht oder unpünktlich auf den Weg gebracht werden kann. Vielmehr erfordert eine angemessene Behandlung derartiger Schriftstücke, daß entweder - wie bei Rechtsanwälten üblich - ein Postausgangsbuch geführt wird, daß das Schriftstück in irgendeiner geeigneten Form als fristgebunden gegenüber der Poststelle kenntlich gemacht wird (Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 18. März 1987, 9 b RU 8/86, Die Öffentliche Verwaltung - DÖV - 1987, 786) oder daß die mit der Ausfertigung betraute Kanzleibedienstete die Postausgangsstelle auf die besondere Bedeutung des Schriftstücks und die zu wahrende Frist ausdrücklich hinweist (BFH-Beschlüsse in BFHE 134, 220, BStBl II 1982, 131; vom 7. Dezember 1982 VIII R 77/79, BFHE 137, 221, BStBl II 1983, 229; vom 9. April 1987 V B 111/86, BFHE 149, 146, BStBl II 1987, 441; vom 9. Juni 1988 VII R 125/87, BFH / NV 1989, 180).
Daß die Kanzleibedienstete die Postausgangsstelle des FA auf die am 3. Juni ablaufende Begründungsfrist aufmerksam gemacht hat, hat das FA nicht vorgetragen. Dies wäre, da fristwahrende Schriftstücke als solche beim FA nicht kenntlich gemacht werden, erforderlich gewesen, um eine unverzügliche und einen sicheren und pünktlichen Zugang des Schriftstücks bei Gericht bewirkende Bearbeitung durch die Poststelle zu gewährleisten.
Auch daß die Kanzleivorsteherin an Eides Statt versichert hat, daß beim FA Freitage nur dann als Absendetag vermerkt werden, wenn durch Rücksprache mit der Postausgangsstelle ,,sichergestellt" sei, daß das Schriftstück noch an diesem Tag zur Post gegeben werde, ist nicht geeignet, eine ausreichende Wahrscheinlichkeit dafür zu erzeugen, daß die mit der Sache betraute Kanzleikraft die Poststelle des FA im obigen Sinne unterrichtet hätte. Zum einen ist, da eine entsprechende Erklärung der Kanzleikraft nicht vorgelegt worden ist, nicht auszuschließen, daß die Revisionsbegründungsschrift in diesem Fall ohne eine derartige Rücksprache zur Poststelle weitergeleitet worden ist. Zum anderen ist nicht dargelegt, durch welche Hinweise oder Anweisung diese ,,Sicherstellung" des Postabgangs noch am 24. Mai erfolgt sein soll. Da nach § 56 Abs. 2 FGO sämtliche eine Wiedereinsetzung rechtfertigende Tatsachen mit dem Wiedereinsetzungsantrag vorzutragen sind (BFH-Beschlüsse vom 28. Februar 1985 VIII R 261/84, BFH / NV 1986, 30; vom 28. Januar 1986 VIII R 9/84, BFH / NV 1986, 417), kann ein weiterer Tatsachenvortrag des FA nicht mehr erfolgen. Der Aktenvermerk der Kanzleikraft, die ungeklärte und verspätete Zustellung an den BFH und das Fehlen einer Bestätigung der Kanzleikraft und des Poststellenbediensteten über eine etwaige Unterrichtung hinsichtlich der Fristgebundenheit des Schriftstücks sprechen im übrigen sehr dafür, daß die Begründungsschrift vom FA wie normale Post behandelt worden ist. Dies hat zur Folge, daß die Fristversäumung nicht als unverschuldet angesehen werden kann. Die Revision ist deshalb unzulässig.
Parallelfall: zur Umsatzsteuer XI R 20/91 v. 12. 2. 92)
Fundstellen
Haufe-Index 418274 |
BFH/NV 1992, 534 |