Entscheidungsstichwort (Thema)
Frist für Nachholung der Beschwerdebegründung nach Gewährung von PKH; Entscheidung über zulässige Klage durch Prozessurteil als Verfahrensmangel; keine Aufrechterhaltung eines lediglich im Ergebnis richtigen Gerichtsbescheids; Voraussetzungen einer öffentlichen Zustellung
Leitsatz (amtlich)
1. Mit der Zustellung eines Beschlusses über die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision beginnt die Frist für die Nachholung der Begründung der Beschwerde. Sie beträgt zwei Monate.
2. Es stellt einen Verfahrensmangel dar, wenn über eine zulässige Klage durch Prozessurteil entschieden wird.
3. Hat das FG auf einen zu Unrecht als verspätet angesehenen Antrag auf mündliche Verhandlung entschieden, sein klageabweisender Gerichtsbescheid wirke als Urteil, kann diese Entscheidung vom Revisionsgericht nicht als im Ergebnis richtig aufrechterhalten werden, weil die Abweisung der Klage in dem Gerichtsbescheid zu Recht erfolgt sei.
4. Eine öffentliche Zustellung ist auch dann wirksam, wenn die Zustellungsbehörde durch unrichtige Auskünfte Dritter zu der unrichtigen Annahme verleitet wird, der Adressat der Zustellung sei unbekannten Aufenthaltsortes, sofern sie auf die Richtigkeit der ihr erteilten Auskunft vertrauen durfte.
5. Ein einmaliger Fehlschlag der Zustellung an eine Adresse, die der Adressat angegeben hat und unter der er gemeldet ist, berechtigt im Allgemeinen nicht zur öffentlichen Zustellung.
Normenkette
FGO §§ 56, 115 Abs. 2 Nr. 3, §§ 116, 126 Abs. 4, § 142; VwZG § 15 Abs. 1 Buchst. a
Verfahrensgang
Niedersächsisches FG (Entscheidung vom 21.06.2001; Aktenzeichen 11 K 349/96) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt ―FA―) auf Haftung für Lohnsteuern und Nebenleistungen einer GmbH in Anspruch genommen worden. Der Kläger war Geschäftsführer dieser GmbH. Die gegen die Haftungsinanspruchnahme erhobene Klage hat das Finanzgericht (FG) durch Gerichtsbescheid der Berichterstatterin vom 16. Juni 1997 als unzulässig abgewiesen, weil der Kläger der ―öffentlich zugestellten― Aufforderung des Gerichts, den Gegenstand des Klagebegehrens binnen bestimmter Frist zu bezeichnen, nicht nachgekommen sei. Die entsprechende Verfügung war mit dem Vermerk des Zustellers zurückgekommen "Empfänger wohnt nicht unter der Anschrift". Die nämliche Anschrift hatte der Kläger in seinem Schriftverkehr mit dem FG angegeben und unter ihr offenbar auch die Einspruchsentscheidung des FA erhalten. Eine Anfrage des FG beim Einwohnermeldeamt und beim FA hatte ergeben, dass diese Anschrift richtig sei.
Der rund fünf Monate nach jener fehlgeschlagenen Zustellung ergangene Gerichtsbescheid ist ebenfalls öffentlich zugestellt worden. Ein halbes Jahr später hat der Kläger Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt. Über diesen hat das FG durch Urteil dahin entschieden, der Gerichtsbescheid wirke als Urteil.
Der beschließende Senat hat dem Kläger auf dessen Antrag Prozesskostenhilfe (PKH) für das Verfahren der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil bewilligt, welches einleiten zu wollen dieser ankündigte (Beschluss des Senats vom 16. Mai 2002 VII S 22/01 (PKH), BFH/NV 2002, 1167). Dieser Beschluss ist dem Kläger am 27. Juni 2002 zugestellt worden.
Durch am 4. Juli 2002 beim Bundesfinanzhof (BFH) eingegangenen Schriftsatz hat der Kläger, nunmehr anwaltlich vertreten, die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem am 9. Juli 2001 zugestellten Urteil des FG erhoben. Die Begründung der Beschwerde, so heißt es in der Beschwerdeschrift, erfolge in einem gesonderten Schriftsatz innerhalb der gesetzlichen Frist. Die Begründung ist am 24. Juli 2002 beim BFH eingegangen. Mit ihr wird auf der Grundlage des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geltend gemacht, die öffentliche Zustellung des vorgenannten Gerichtsbescheides sei unwirksam gewesen.
Das FA tritt der Beschwerde entgegen und meint sinngemäß, die Klage sei vom FG im Ergebnis mit Recht als unzulässig abgewiesen worden, weil der Kläger die ihm wirksam gesetzte Ausschlussfrist zur Bezeichnung des Gegenstandes des Klagebegehrens ungenutzt habe verstreichen lassen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde führt zur Aufhebung des Urteils des FG und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung.
1. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des FG ist wirksam eingelegt und fristgerecht begründet worden.
a) Wird die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil eines FG nach § 116 Abs. 1 FGO durch Beschwerde angefochten, so ist die Beschwerde nach § 116 Abs. 2 FGO innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem BFH einzulegen und nach § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Beide Fristen sind im Streitfall nicht gewahrt worden. Was die Frist zur Einlegung der Beschwerde angeht, ist dem Kläger allerdings nach § 56 Abs. 1 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Denn wer selbst nicht über die nach § 62a FGO für ein Auftreten vor dem BFH erforderliche besondere fachliche Qualifikation verfügt und nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen gemäß § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO), der im finanzgerichtlichen Verfahren nach § 142 FGO sinngemäß anzuwenden ist, die Kosten für die Beauftragung einer zum Auftreten vor dem BFH nach § 62a FGO befugten Person nicht aufbringen kann und deshalb die Frist für die Einlegung einer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision in einem Urteil des FG verstreichen lassen muss, tut dies, ohne dass ihm daraus i.S. des § 56 Abs. 1 FGO ein Schuldvorwurf gemacht werden kann, sofern er innerhalb der Frist des § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO alles in seiner Macht Stehende unternimmt, damit für ihn durch eine entsprechend § 62a FGO qualifizierte Person oder Gesellschaft das Rechtsmittel eingelegt werden kann, nachdem ihm nach § 142 FGO, § 114 ZPO PKH gewährt worden ist.
Der Kläger hat diesen Anforderungen genügt. Er hat innerhalb der Frist des § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO einen zulässigen und begründeten PKH-Antrag gestellt, aufgrund dessen ihm PKH gewährt worden ist. Mit der Zustellung des diesbezüglichen Beschlusses des beschließenden Senats ist das Hindernis weggefallen, das den Kläger zunächst an der Einlegung der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision hinderte und das für die Versäumnis der Frist des § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO verantwortlich ist.
b) Ist wie im Falle des Klägers das für die Einhaltung einer gesetzlichen Frist verantwortliche Hindernis weggefallen, so ist nach § 56 Abs. 2 FGO binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Der Kläger hat auch dieser Anforderung insoweit entsprochen, als er in der vorgenannten Frist die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt hat.
Anders verhält es sich mit der ―ebenfalls ohne Verschulden des Klägers versäumten― Frist für die Begründung der Beschwerde gemäß § 116 Abs. 3 FGO. Eine Beschwerdebegründung ist beim BFH erst am 24. Juli 2002 eingegangen, also kurz vor Ablauf des ersten Monats nach Zustellung des PKH-Beschlusses des Senats, durch den das Hindernis für die Wahrung der in § 116 FGO vorgeschriebenen Fristen ausgeräumt worden ist. Folglich könnte dem Kläger Wiedereinsetzung in die Frist des § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO nach § 56 Abs. 2 FGO nicht gewährt werden.
Die Frist für die Nachholung der Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde, derentwegen dem Kläger zunächst mit Rücksicht auf § 62a FGO PKH gewährt werden musste, beträgt nicht ―wie der Kläger möglicherweise meint― einen Monat nach Zustellung des PKH-Beschlusses. Denn für eine dahin gehende Fristbemessung bietet weder § 56 FGO noch § 116 FGO irgend einen Anhaltspunkt. Die Frist für die Nachholung der Begründung einer verspätet eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde beträgt auch nicht ―und zwar auch nicht nach Gewährung von PKH für das Beschwerdeverfahren― einen Monat nach Einlegung der Beschwerde; denn der Lauf der Beschwerdebegründungsfrist ist nach § 116 Abs. 3 FGO von dem Zeitpunkt der Einlegung der Beschwerde ebenso wie von dem Lauf der Frist für die Einlegung der Beschwerde gänzlich unabhängig. Allenfalls könnte unbeschadet dieser Unabhängigkeit der Beschwerdebegründungsfrist von dem Lauf der Beschwerdefrist in Betracht kommen, einem Kläger, dem wegen der Versäumung der Beschwerdeeinlegungsfrist Wiedereinsetzung gewährt worden ist, in Fortentwicklung der den Fristvorschriften des § 116 FGO zugrunde liegenden Rechtsgedanken im Anschluss an die Zustellung des Beschlusses, durch den dieses geschehen ist, eine Frist von einem weiteren Monat für die Begründung der Beschwerde einzuräumen (so Bundesverwaltungsgericht ―BVerwG―, Beschluss vom 18. März 1992 5 B 29.92, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht ―NVwZ― 1992, 974; Bundesarbeitsgericht ―BAG―, Beschluss vom 19. September 1983 5 AZN 446/83, BAGE 43, 297; Bundessozialgericht ―BSG―, Beschluss vom 20. Oktober 1977 1 BA 55/77, SozR 1500 § 164 Nr. 9; Pietzner in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, § 133 Rdnr. 62). Das kann aber hier dahinstehen, weil dem Kläger nicht ―durch gesonderten Beschluss― Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der versäumten Beschwerdeeinlegungsfrist gewährt worden ist, durch welche Entscheidung eine solche richterrechtlich begründete Frist allenfalls hätte in Lauf gesetzt werden können (vgl. insoweit BVerwG, Beschluss vom 17. April 2002 3 B 137.01, Deutsches Verwaltungsblatt ―DVBl― 2002, 1050).
Aufgrund ähnlicher Überlegungen, wie sie dieser Rechtsprechung zugrunde liegen, hat aber das BVerwG in der vorgenannten Entscheidung in DVBl 2002, 1050 angenommen, dass dann, wenn ein Wiedereinsetzungsbeschluss hinsichtlich der Beschwerdeeinlegungsfrist nicht ergeht, einem im PKH-Verfahren erfolgreichen Rechtsmittelführer die vollständige Begründungsfrist ―d.h. eine Frist von zwei Monaten― verbleiben müsse, wobei diese Frist mit der Zustellung des PKH-Beschlusses zu laufen beginne. Der Beschwerdeführer könne eine solche Frist beanspruchen, um keinen unzulässigen Nachteil gegenüber bemittelten Rechtsbehelfsführern zu erleiden; denn anders als bei der Einlegung der Beschwerde binnen einer, wie oben ausgeführt, nur zweiwöchigen Frist nach Zustellung des PKH-Beschlusses sei es einem nach PKH-Gewährung zugezogenen Rechtsanwalt nicht zumutbar, die für die Beschwerdebegründung erforderlichen Überlegungen und Beratungen und das Abfassen derselben innerhalb einer solchen kurzen Frist vorzunehmen; ihm sei vielmehr hierfür die gleiche Frist zuzubilligen, wie sie sonst einem Bevollmächtigten nach Kenntnisnahmemöglichkeit von den Gründen der angefochtenen Entscheidung nach deren Zustellung zustehe, nämlich eine Frist von zwei Monaten nach dem vorbezeichneten Zeitpunkt.
Der beschließende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung für den Anwendungsbereich der FGO an. Die Entscheidung des BVerwG ist allerdings zu einer Verfahrensordnung ergangen, in der die Frist für die Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde nicht verlängert werden kann (vgl. § 133 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung ―VwGO―). Im Verfahren nach der FGO kann hingegen die Beschwerdebegründungsfrist gemäß § 116 Abs. 3 Satz 4 FGO auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag um einen Monat verlängert werden. Das kommt indes einem aufgrund der Gewährung von PKH hinzugezogenen Prozessvertreter im Ergebnis nicht in der Weise zugute, dass er statt innerhalb des Laufes der Frist nach § 56 Abs. 2 FGO ―d.h. innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des PKH-Beschlusses― die versäumte Prozesshandlung nachzuholen, die Beschwerde also zu begründen, die Möglichkeit hätte, gemäß § 116 Abs. 3 Satz 4 FGO eine Verlängerung der Frist um einen Monat zu beantragen.
Dies ergibt sich aus Folgendem:
Nach dem Beschluss des Großen Senats des BFH vom 1. Dezember 1986 GrS 1/85 (BFHE 148, 414, BStBl II 1987, 264) kann Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist nur erlangt werden, wenn innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist die Revisionsbegründung eingereicht wird; diese Prozesshandlung könne nicht durch die Anbringung eines Antrags auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist ersetzt werden. Der Große Senat hat dazu sinngemäß ausgeführt, Wiedereinsetzung könne nur durch eine gerichtliche Entscheidung gewährt werden, aufgrund deren eine versäumte und nachgeholte Prozesshandlung als rechtzeitig fingiert werde. Diese Entscheidung könne aber erst getroffen werden, wenn die versäumte Rechtshandlung nachgeholt worden ist. Hingegen sei es nicht möglich, vor Nachholung der Prozesshandlung Wiedereinsetzung mit der Folge zu gewähren, dass die erst später vorgenommene Prozesshandlung zulässig wird. Die FGO kenne keinen isolierten Wiedereinsetzungsantrag; Wiedereinsetzung könne vielmehr nur in Zusammenhang mit einer nachgeholten Prozesshandlung beantragt und bewilligt werden. Deshalb könne im Revisionsverfahren die versäumte Begründungsfrist nicht mittels einer wiedereinsetzenden Gerichtsentscheidung wiedereröffnet und gegebenenfalls noch zugunsten des Revisionsführers verlängert werden.
Der beschließende Senat hat diese Rechtsprechung bereits in seinem Beschluss vom 16. Dezember 2002 VII B 99/02 (BStBl II 2003, 316) in einem Fall der Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist des § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO übernommen, welche deshalb eingetreten war, weil ein Fristverlängerungsantrag den BFH ohne Verschulden des Antragstellers nicht rechtzeitig erreicht hatte. Die Entscheidung des Großen Senats beansprucht aber Geltung auch für den hier gegebenen Fall, dass die Beschwerdebegründungsfrist deshalb versäumt wird, weil der Beschwerdeführer sich erst mittels eines PKH-Antrages in die Lage versetzen musste, einen nach § 62a FGO zum Auftreten vor dem BFH befugten Vertreter beauftragen zu können, der für ihn die Beschwerde wirksam einlegt und begründet. Denn welches Hindernis zur Versäumung der Frist geführt hat, ist für die Schlussfolgerung des Großen Senat ersichtlich ohne Bedeutung. Demnach könnte ein Beschwerdeführer, der die Beschwerdebegründungsfrist verstreichen lassen musste, weil über seinen (innerhalb derselben gestellten) PKH-Antrag noch nicht entschieden und er daher zur Beauftragung eines nach § 62a FGO vor dem BFH postulationsfähigen Vertreters (wirtschaftlich) noch nicht in der Lage war, innerhalb der durch die Zustellung des PKH-Beschlusses des BFH nach § 56 Abs. 2 FGO in Lauf gesetzten Frist einen Fristverlängerungsantrag nach § 116 Abs. 3 Satz 4 FGO nicht mit Aussicht auf Erfolg stellen, so dass er insoweit im Ergebnis nicht anders steht als ein Beschwerdeführer nach § 133 Abs. 3 VwGO. Die zu dieser Vorschrift ergangene Rechtsprechung des BVerwG ist folglich trotz der nach der FGO gegebenen Möglichkeit einer Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist aufgrund eines in offener Frist gestellten Antrages auch hier einschlägig; denn die Frist ist, wie ausgeführt, nach ihrem Ablauf auch für einen der PKH bedürftigen Beschwerdeführer nicht mehr offen, sondern könnte nur durch eine Entscheidung des BFH wiedereröffnet werden, welche indes das Vorliegen der Beschwerdebegründung voraussetzte und, wie der Große und der beschließende Senat a.a.O. ebenfalls bereits entschieden haben, nicht dahin getroffen werden könnte, dass dem Rechtsmittelführer eine Frist zur Nachholung eines Fristverlängerungsantrages wiedereröffnet wird.
Nach alledem ist es zur Verwirklichung der Rechtsschutzgewährleistungsgarantie, welche dem mittellosen Rechtsbehelfsführer Rechtsschutz zu zumutbaren Bedingungen verspricht, erforderlich, dem mittellosen Beschwerdeführer für die Begründung der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des FG eine Frist von zwei Monaten ab Zustellung des PKH gewährenden Beschlusses des BFH einzuräumen.
2. Die nach alledem zulässige Beschwerde ist begründet. Das FG hat den Antrag auf mündliche Verhandlung zu Unrecht als verspätet angesehen und folglich zu Unrecht festgestellt, der Gerichtsbescheid wirke als Urteil. Denn die öffentliche Zustellung des Gerichtsbescheides war unwirksam, weil die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Buchst. a des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) nicht vorlagen, der Aufenthaltsort des Klägers also nicht im Sinne dieser Vorschrift "unbekannt" war. Der Antrag auf mündliche Verhandlung ist also rechtzeitig gestellt worden, der Gerichtsbescheid gilt als nicht ergangen.
Wie der beschließende Senat zuletzt in seinem Urteil vom 6. Juni 2000 VII R 55/99 (BFHE 192, 200, BStBl II 2000, 560) im Anschluss an die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung hervorgehoben hat, ist die öffentliche Zustellung nur als letztes Mittel der Bekanntgabe einer Entscheidung dann zulässig, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, dem Empfänger ein Schriftstück in anderer Weise zu übermitteln. Ob diese Möglichkeiten tatsächlich ausgeschöpft sind, bedarf in jedem Einzelfall einer sorgfältigen und gründlichen Prüfung unter Zuhilfenahme aller dafür in Betracht kommenden Erkenntnismittel. Denn die öffentliche Zustellung des betreffenden Schriftstückes hat, wie auch der Streitfall zeigt, in aller Regel zur Folge, dass der Empfänger von ihm erst nach geraumer Zeit und zufällig oder überhaupt nicht Kenntnis erhält und dadurch der Möglichkeit beraubt wird, sich gegen eine in ihm enthaltene Entscheidung fristgerecht und damit erfolgversprechend zu wehren.
Wenn man dies berücksichtigt, durfte das FG bei Zustellung des Gerichtsbescheides im Juni 1997 nicht davon ausgehen, dass der Aufenthaltsort des Klägers "unbekannt" sei. Dem FG war eine ―vom Kläger selbst angegebene und insbesondere vom FA erfolgreich benutzte― Wohnanschrift des Klägers bekannt. Sowohl das FA als auch das Einwohnermeldeamt hatten die Richtigkeit dieser Anschrift noch im Januar 1997 bestätigt. Wenn das FG gleichwohl im Juni 1997, anlässlich der Zustellung des Gerichtsbescheides, zu der Auffassung kam, der Kläger wohne dort nicht, so konnte diese Annahme nur darauf gestützt werden, dass ein Zustellungsversuch am 8. Januar 1997 in der eben geschilderten Weise fehlgeschlagen war. Die vom FG offensichtlich aus diesem Fehlschlag gezogene Schlussfolgerung, der Kläger sei, und zwar bereits spätestens Anfang Januar 1997, von seinem bisherigen Aufenthaltsort an einen unbekannten neuen Aufenthaltsort weggezogen, war indes in hohem Maße unsicher. Erfahrungsgemäß konnte die fehlgeschlagene Zustellung wenigstens ebenso gut darauf beruhen, dass der Postzusteller die Zustellung nur unsorgfältig ausgeführt hat oder aus irgendeinem ihm nicht vorzuwerfenden Grund den Kläger an der angegebenen Adresse nicht gefunden hat, obwohl dieser dort wohnte. So soll es sich nach dem bislang unwiderlegten Vortrag des Klägers tatsächlich verhalten haben. Zwar ist eine öffentliche Zustellung auch dann wirksam, wenn die Zustellbehörde durch unrichtige Auskünfte Dritter, die sie nicht durchschauen konnte, zu der Annahme verleitet wird, der Adressat der Zustellung sei unbekannten Aufenthaltsortes (vgl. BFH-Beschluss vom 17. Mai 1990 X S 2/90, BFH/NV 1991, 13); sie muss dann allerdings ―anders als es hier der Fall ist― Anlass haben, auf die Richtigkeit der ihr erteilten Auskunft zu vertrauen bzw. bar jeder Möglichkeit sein, diese ―hier etwa durch zumindest einmalige Wiederholung des Zustellversuchs― zu überprüfen.
Selbst wenn im Übrigen dem FG unbeschadet der mutmaßlichen Folgen einer öffentlichen Zustellung des Gerichtsbescheides sollte gestattet werden müssen, allein aus dem Fehlschlag der Zustellung den Schluss zu ziehen, der Kläger habe im Januar 1997 an der von ihm angegebenen Adresse nicht mehr gewohnt, wäre es unverständlich und nicht hinzunehmen, dass das FG nicht vor öffentlicher Zustellung des Gerichtsbescheides erneut bei dem Einwohnermeldeamt nachgefragt hat, ob sich der Kläger nunmehr von seiner bisherigen Adresse abgemeldet und eine neue Adresse angegeben hat. Das musste umso mehr nahe liegen, als seit der letzten Anfrage über fünf Monate vergangen waren. Wäre das FG so verfahren, hätte es mit großer Wahrscheinlichkeit eine zustellungsfähige Anschrift des Klägers in Erfahrung bringen können; denn dieser hat sich offenbar am 20. Juni 1997, also zwei Tage nach Ausfertigung des Gerichtsbescheides seitens des FG, die am 18. Juni 1997 erfolgt ist, bei der Meldebehörde für eine neue Wohnung angemeldet, in der er anscheinend in den folgenden Wochen auch gewohnt hat; auf eine vom FG am 18. Juni 1997 an die Meldebehörde abgesandte Wohnsitzanfrage hätte diesem die neue Adresse mitgeteilt werden können.
Das FG hat es indes unterlassen, solche Vorkehrungen zu treffen; es hat zwar zugleich mit der Verfügung, es solle öffentlich zugestellt werden, erneut bei der Meldebehörde angefragt, die erst sehr viel später ergangene Antwort jedoch nicht abgewartet und offenbar auch nicht angemahnt. Es durfte allein auf Grund seiner aus den Vorgängen im Januar 1997 gewonnenen Mutmaßungen über den Aufenthalt des Klägers die öffentliche Zustellung des Gerichtsbescheides nicht verfügen. Dass eine Zustellung des Gerichtsbescheides unter der vom Kläger angegebenen Adresse möglicherweise nicht zum Erfolg geführt hätte, weil der Kläger nach seinen eigenen Angaben im Mai 1997 die dortige Wohnung verlassen hatte, ist für die Anwendung des § 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG ohne Bedeutung. Es ist überdies ungewiss, ob nicht ein erneuter Zustellungsversuch an dieser Adresse zumindest in einer Weise auf die Spur des Klägers geführt hätte ―etwa durch Auskünfte bisheriger Nachbarn oder aufgrund der Kenntnis des (jetzigen) Postzustellers―, die eine Zustellung an der neuen Adresse des Klägers ermöglicht hätte.
3. Nach der ständigen Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes stellt es einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar, wenn über eine in Wahrheit zulässige Klage nicht zur Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird (vgl. u.a. Entscheidungen des BFH vom 1. Februar 2002 VII B 202/99, BFH/NV 2000, 960; vom 16. November 1993 VIII R 7/93, BFH/NV 1994, 891; vom 15. Januar 1992 IV B 168/90, BFH/NV 1992, 613, und vom 24. September 1985 IX R 47/83, BFHE 145, 299, BStBl II 1986, 268; Beschlüsse des BVerwG vom 31. August 1999 3 B 57.99, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht-Rechtsprechungs-Report ―NVwZ-RR― 2000, 259, und vom 4. Juli 1968 8 B 110.67, BVerwGE 30, 111). Das Urteil des FG leidet an einem solchen Verfahrensmangel.
4. Das Urteil des FG ist nach § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen. Die Beschwerde kann nicht deshalb in entsprechender Anwendung des § 126 Abs. 4 FGO trotz des dem FG unterlaufenen Verfahrensfehlers zurückgewiesen werden, weil das Urteil des FG im Ergebnis richtig und die Klage ungeachtet des angeblich verspäteten Antrages auf mündliche Verhandlung zu Recht als unzulässig abgewiesen worden ist.
Obgleich die Wirkung des angegriffenen Urteils unbeschadet der Fassung seines Tenors in der Abweisung der Klage als unzulässig besteht, kann der beschließende Senat anders als das FA offenbar meint nur prüfen, ob der Gerichtsbescheid als Urteil wirkt oder infolge eines rechtzeitig gestellten Antrages auf mündliche Verhandlung als nicht ergangen anzusehen ist, nicht auch, ob es trotz des Antrages bei der Abweisung der Klage bleiben muss, weil der Kläger den Gegenstand des Klagebegehrens nicht innerhalb einer ihm wirksam gesetzten Ausschlussfrist bezeichnet hat. Denn wenn der Antrag rechtzeitig war, hat der Kläger Anspruch auf eine mündliche Verhandlung, auch wenn die Abweisung der Klage in dem Gerichtsbescheid zu Recht erfolgt sein mag. Diese ist dem Kläger zu Unrecht vorenthalten worden. Das schließt die Anwendung des § 126 Abs. 4 FGO aus (vgl. BFH-Urteil vom 6. Februar 1992 V R 38/85, BFH/NV 1993, 102; BFH-Beschluss vom 8. April 1998 VIII R 32/95, BFHE 186, 102, BStBl II 1998, 676, mit Nachw.). § 126 Abs. 4 FGO will lediglich verhindern, dass der BFH ein Urteil des FG aufheben und die Sache zurückverweisen muss, obwohl aufgrund des Ergebnisses des (fehlerfrei durchgeführten) Verfahrens des ersten Rechtsganges von vornherein feststeht, dass das FG im zweiten Rechtsgang im Ergebnis ―wenn auch möglicherweise mit einer anderen Begründung― genauso entscheiden muss wie es bereits entschieden hat oder wenn das Urteil des FG zwar auf einem fehlerhaften Verfahren beruht, aber mit einer von dem Verfahrensfehler unbeeinflussten anderen Begründung als der vom FG gegebenen Bestand haben kann. Hier geht es aber um ein Urteil, zu dessen Grundlagen in einer mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen und seinen Rechtsstandpunkt ―vorrangig freilich zunächst zur Zulässigkeit seiner Klage― vorzutragen der Kläger bislang keine Gelegenheit hatte. Dieses Recht dürfte ihm auch dann nicht genommen werden, wenn das Revisionsgericht nach Aktenlage davon überzeugt sein sollte, dass die Klage unzulässig ist.
Im Übrigen ist ―auch im Hinblick auf den zweiten Rechtsgang (§ 126 Abs. 5 FGO)― zu bemerken, dass die Zustellung der vorgenannten Verfügung der Berichterstatterin nach dem bislang festgestellten Sachverhalt ebenso unwirksam gewesen ist wie die des Gerichtsbescheides. Denn auch im Januar 1997 hatte das FG keinen hinreichenden Anhaltspunkt für die Annahme, der Kläger wohne nicht an der von ihm angegebenen, früher auch (vom FA) erfolgreich benutzten und bei der Meldebehörde registrierten Adresse, sondern sei unbekannt verzogen. Der einmalige Fehlschlag eines Zustellversuchs an dieser Adresse (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Brandenburg, Urteil vom 31. Mai 2000 4 A 74/99; hingegen Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 13. März 2000 L 10 AL 1429/97, beide unveröffentlicht) rechtfertigte dies, wie ausgeführt, nicht. Dass ausnahmsweise Erkenntnisse vorlagen, die einen Fehler des Zustellers ausgeschlossen erscheinen lassen konnten, ist nicht festgestellt und dürfte nach Lage der Dinge auch nicht ernstlich in Betracht kommen.
Fundstellen
Haufe-Index 935953 |
BFH/NV 2003, 1007 |
BStBl II 2003, 609 |
BFHE 2003, 425 |
BFHE 201, 425 |
BB 2003, 1219 |
DStRE 2003, 887 |
HFR 2003, 785 |
NWB 2003, 1727 |
NVwZ-RR 2004, 461 |
AO-StB 2003, 224 |
StSem 2004, 0 |
stak 2003, 0 |