Leitsatz (amtlich)

Gemäß Art. 177 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wird dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Gibt Art. 177 Abs. 2 des genannten Vertrages den nichtletztinstanzlichen Gerichten ein in Jeder Hinsicht unbeschränktes Recht zu einer Vorlage an den Gerichtshof oder läßt er entgegenstehende innerstaatliche Normen unberührt, die das Gericht an die rechtliche Beurteilung des im Instanzenzuge übergeordneten Gerichts binden?

 

Normenkette

EWGVtr Art. 177 Abs. 2

 

Tatbestand

Die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel – EVSt Getr –) widerrief mit Bescheid vom 7. Dezember 1966 die der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) in Form abschöpfungsfreier Einfuhr gewährten Erstattungen für in der Zeit vom 30. Dezember 1964 bis 16. Dezember 1965 ausgeführte Gerstengraupen und Hartweizengrieß. Der Widerruf wurde damit begründet, daß die bei ihr durchgeführte Marktordnungsprüfung ergeben habe, daß sie die Ausfuhren abweichend von den Angaben in den Anträgen auf Erstattungszusagen und den Ausfuhrbescheinigungen nicht in dritte Länder, sondern in Mitgliedstaaten der EWG durchgeführt habe. Einspruch und Klage blieben erfolglos.

Während des Revisionsverfahrens legte der Bundesfinanzhof (BFH) dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EGH) außer der Frage, wie der Begriff „Ausfuhr nach dritten Ländern” in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 19/62 – VO (EWG) 19/62 – vom 4., April 1962 auszulegen und gegenüber dem Begriff „Ausfuhr nach einem Mitgliedstaat” im Sinne des Art. 19 Abs. 2 a. a. O. abzugrenzen sei, zwei weitere Fragen hinsichtlich der Gültigkeit der VO (EWG) 162/64 vom 29. Oktober 1964 und der Auslegung der VO (EWG) 164/64 vom selben Tage zur Vorabentscheidung vor. Nach Ergehen dieser Entscheidung wies er die Revision der Klägerin zum Teil zurück, hob aber im übrigen das Urteil des Finanzgerichts (FG) auf und verwies zurück. Er entschied dabei u. a., daß ein Widerruf der Ausfuhrerstattung nicht bedeute, daß auch eine bei einer Ausfuhr nach dem wirklichen Verbrauchsland zu gewährende Erstattung entfalle.

Im zweiten Rechtsgang legte das FG durch Beschluß vom 7. Mai 1973 dem EGH die Frage vor, ob Art. 177 Abs. 2 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) so auszulegen sei, daß ein Gericht, dessen Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, eine Zweifelsfrage des Europäischen Rechts dem EGH nur dann zur Vorabentscheidung vorlegen könne, wenn es erstmals mit der Sache belaßt sei, oder ob eine Vorlage auch dann zulässig sei, wenn sich die Sache nach Aufhebung eines Urteils des erstinstanzlichen Gerichts durch ein höchstrichterliches Gericht im zweiten Rechtsgang befinde. Ferner legte es dem EGH zwei Fragen betreffend die Auslegung der Art. 19 und 20 der VO (EWG) 19/62 in Verbindung mit Art. 14 und 15 der VO (EWG) 141/64 vor.

Diesen Beschluß focht die Klägerin mit der Beschwerde an, über die der BFH in diesem Verfahren zu entscheiden hat.

 

Entscheidungsgründe

II.

Wie der erkennende Senat in seinem Beschluß vom heutigen Tage VII B 53/73 (BFHE 110, 12) entschieden hat, ist gegen einen Vorlagebeschluß des FG nach Art. 177 Abs. 2 EWGV die Beschwerde nach § 128 Abs. 1 und 2 FGO gegeben. Die Vorlage als solche bedeutet jedoch, wie der Senat in dem genannten Beschluß dargelegt hat, in der Regel noch keine Beschwer. Nur wenn aus besonderen Gründen die Vorlage selbst schon den Eintritt eines rechtlichen Nachteils herbeiführt, enthält sie eine Beschwer, so daß diese notwendige Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels vorliegt. Auf die Gründe jenes Beschlusses wird verwiesen.

Soweit der Senat das Urteil des FG im ersten Rechtsgang aufgehoben und die Sache an dieses zu erneuter Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen hat, ist das FG an die dieser Entscheidung zugrunde liegende rechtliche Beurteilung nach § 126 Abs. 5 FGO gebunden, wie das bei Zurückverweisungen auch in anderen Gerichtsbarkeiten auf Grund entsprechender Verfahrensvorschriften der Fall ist (vgl. § 565 Abs. 2 ZPO, § 144 Abs. 6 der VerwaltungsgerichtsordnungVwGO –, § 72 Abs. 3 des Arbeitsgerichtsgesetzes – ArbGG – und § 170 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –). Da der BFH im Revisionsverfahren selbst eine Vorabentscheidung des EGH eingeholt hatte, ist aus seiner Entscheidung u. a. auch zu entnehmen, daß er eine weitere Anrufung des EGH, zu der er nach Art. 177 Abs. 3 EWGV verpflichtet gewesen wäre, nicht für erforderlich hielt. Bei § 126 Abs. 5 FGO handelt es sich um eine wesentliche Norm des Verfahrensrechts. Die in ihr ausgesprochene Bindung an die Entscheidung eines Gerichts gilt im übrigen in entsprechender Weise auch im Gemeinschaftsrecht, denn die Entscheidung des EGH ist in dem Fall, in dem er angerufen worden ist, für die innerstaatlichen Gerichte bindend (vgl. dazu EGH-Urteil vom 27. März 1963 Rs 28 bis 30/62, EGHE IX (1963), 63 [817]; ferner Beschluß des Bundesverfassungsgerichts – BVerfG – vom 9. Juni 1971 2 BvR 225/69, BVerfGE 31, 145 [174]); andernfalls würde einer Vorabentscheidung nur die Bedeutung eines unverbindlichen Gutachtens zukommen, das den Zweck, eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts herbeizuführen nicht erfüllen könnte. Nach innerstaatlichem Recht aber ist sogar nicht nur das Gericht gebunden, an das zurückverwiesen wird, sondern auch das zurückverweisende Gericht selbst, es sei denn, daß es seine Rechtsauffassung vor seiner erneuten Entscheidung geändert und dies bekanntgegeben hat (vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 6. Februar 1973 GmS OGB 1/72, Neue Juristische Wochenschrift 1973 S. 1273 – NJW 1973, 1273 –). Mit der sich aus § 126 Abs. 5 FGO ergebenden Bindung steht der Vorlagebeschluß des FG nicht im Einklang; denn er bedeutet nichts anderes, als daß er die Bindung des vorlegenden Gerichts an das zurückverweisende Urteil in Frage stellt, während er eine anderweitige Bindung durch eine Entscheidung des EGH herbeizuführen sucht. Da damit die Möglichkeit eröffnet wird, daß dies zu einer für die Klägerin ungünstigeren Entscheidung des Ausgangsverfahrens führt, als sie sich auf Grund der Beurteilung durch den BFH ergeben würde, liegt darin bereits ein Rechtsnachteil für die Klägerin. Daher ist das Vorliegen einer Beschwer und damit die Zulässigkeit der Beschwerde zu bejahen.

III.

Der Senat kann jedoch noch nicht sachlich über die Beschwerde entscheiden.

Nach Art. 177 Abs. 2 EWGV kann ein Gericht, wenn ihm eine Frage der Auslegung von Gemeinschaftsrecht gestellt wird, diese Frage dem EGH zur Entscheidung vorlegen. Auf der anderen Seite ist es im Falle einer vorherigen Zurückverweisung – wie im Streitfall – nach der innerstaatlichen Norm des § 126 Abs. 5 FGO an die rechtliche Beurteilung des zurückverweisenden Urteils gebunden. Die Frage, ob die Vorlage des FG an den EGH gleichwohl zulässig ist, hängt daher davon ab, ob Art. 177 Abs. 2 EWGV dahin auszulegen ist, daß er den Gerichten ein in jeder Hinsicht uneingeschränktes Recht gibt, den EGH anzurufen, ein Recht also, das jeglicher Bindung nach innerstaatlichem Recht vorgeht, oder ob er ihnen zwar die Möglichkeit der Anrufung einräumt, jedoch Bindungen nach innerstaatlichem Recht unberührt läßt, so daß ihnen durch eine vom innerstaatlichen Gericht auszulegende Norm verwehrt sein kann, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Die vorrangige Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Norm des Art. 177 Abs. 2 EWGV kann der BFH nicht selbst vornehmen, denn er ist nach Art. 177 Abs. 3 EWGV verpflichtet, Fragen der Auslegung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und anderen Gemeinschaftsrechts dem EGH vorzulegen.

Der BFH kann im Streitfall von einer eigenen Vorlage an den EGH nicht etwa deshalb absehen, weil die erste der vom FG vorgelegten Fragen bei Berücksichtigung der Gründe des FG-Beschlusses trotz anderer Fassung bereits auf die vom BFH erstrebte Auslegung des Art. 177 Abs. 2 EWGV hinausläuft. Solange nämlich lediglich die Vorlage des FG schwebt, besteht für den EGH kein Anlaß, von einer Entscheidung darüber auch nur vorläufig abzusehen. Entscheidet er aber die Vorlage des FG, wird das beim BFH anhängige Beschwerdeverfahren, in dem über die Zulässigkeit der Vorlage des FG zu entscheiden ist, gegenstandslos. Der BFH muß daher auch von sich aus den EGH anrufen, damit dieser von der Abhängigkeit des Beschwerdeverfahrens Kenntnis erhält und in die Lage versetzt wird, diese zu berücksichtigen, indem er zunächst durch die vom BFH begehrte Auslegung des Art. 177 Abs. 2 EWGV diesem die Möglichkeit gibt, über die Zulässigkeit der Vorlage des FG zu entscheiden.

Für ein Nebeneinander des Vorlageverfahrens vor dem EGH und des Beschwerdeverfahrens vor dem nationalen Gericht ist zwar Raum, wenn letzteres nach innerstaatlichem Recht über die Rechtmäßigkeit des Vorlagebeschlusses (jederzeit) entscheiden kann (vgl. EGH-Urteil vom 6. April 1962 Rs 13/61, EGHE VIII (1962), 97 [110]). Von einem derartigen Falle unterscheidet sich aber der Streitfall gerade dadurch, daß die Zulässigkeit der Vorlage nach innerstaatlichem Recht – wie dargelegt – von der vorherigen Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Norm abhängt, die der BFH als innerstaatliches Gericht nicht selbst vornehmen kann.

 

Fundstellen

Haufe-Index 514631

BFHE 1974, 14

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