Entscheidungsstichwort (Thema)
NZB; Zur Verletzung des rechtlichen Gehörs
Leitsatz (NV)
Werden aufgrund eines Zuständigkeitswechsels mehrere Spruchkörper des Gerichts mit einer Streitsache befasst ‐ hier der jeweils zuständige konsentierte Berichterstatter als Einzelrichter ‐ und will der zuletzt zuständige Spruchkörper eine andere Rechtsauffassung als der früher damit befasste Spruchkörper einnehmen, bedarf dies nicht in jedem Fall eines Hinweises an die Beteiligten, um ihnen erneut rechtliches Gehör zu gewähren. Sind die maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte, auf die sich das Urteil stützt, bereits Gegenstand des umfassenden mündlichen und schriftlichen Vorbringens der Beteiligten gewesen, ist das finanzgerichtliche Urteil keine "Überraschungsentscheidung".
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 3 S. 3
Tatbestand
I. Mit ihrer Beschwerde begehrt die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) die Zulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts (FG), mit dem ihre Klage gegen den Bescheid vom … 1999 durch den Richter am FG A als Berichterstatter nach § 79a Abs. 3, 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) abgewiesen wurde. Sie stützt ihre Nichtzulassungsbeschwerde darauf, dass es sich bei der Entscheidung um eine Überraschungsentscheidung gehandelt habe. Das Urteil beruhe auf einem Verfahrensmangel, denn sie habe aufgrund der im Erörterungstermin vom 29. September 2000 geäußerten Rechtsmeinung des damals noch zuständigen Richters am FG E davon ausgehen können, dass ihrer Klage stattgegeben werde. Überraschenderweise habe sich Richter am FG A in der angefochtenen Entscheidung von der bisherigen Betrachtungsweise des Richters am FG E abgewandt und sich weitgehend der von der Finanzverwaltung vertretenen Ansicht angeschlossen. In der Urteilsbegründung seien die im Erörterungstermin vorgetragenen rechtlichen Hinweise überraschenderweise nicht berücksichtigt worden. Das Urteil stehe zudem, da eine Anspruchsgrundlage aus § 278 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) bejaht worden sei, im Gegensatz zu den Ergebnissen des Erörterungstermins.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unzulässig. Die Klägerin hat den geltend gemachten Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) nicht entsprechend den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt.
Gemäß § 155 FGO i.V.m. § 278 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO) darf das Gericht seine Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt, den ein Beteiligter erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es ihm Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat (Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 25. November 1992 II B 169/91, BFH/NV 1993, 258, m.w.N.). Rechtliches Gehör wird den Beteiligten dadurch gewährt, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem Sachverhalt zu äußern, der einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden soll. Inwieweit diese Gelegenheit wahrgenommen wird, ist Sache der Beteiligten (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 96 FGO Tz. 112, m.w.N.). Das Recht auf Gehör bezieht sich vor allem auf Tatsachen und Beweisergebnisse. Doch folgt aus § 93 Abs. 1 FGO, wonach der Vorsitzende in der mündlichen Verhandlung die Streitsache tatsächlich und rechtlich zu erörtern hat, dass die Beteiligten auch in rechtlicher Hinsicht vor Überraschungen bewahrt werden sollen. Deshalb kommt in besonders gelagerten Fällen eine Verletzung des Rechts auf Gehör in Betracht, wenn das Gericht die Beteiligten nicht auf eine Rechtsauffassung hinweist, die es seiner Entscheidung zugrunde legen will (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juli 1997 1 BvR 1934/93, Neue Juristische Wochenschrift 1997, 2305). Das ist z.B. der Fall, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen (oder tatsächlichen) Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (BFH-Beschlüsse vom 19. Juli 1996 VIII B 37/95, BFH/NV 1997, 124, und vom 31. Juli 1997 III B 31/95, BFH/NV 1998, 325).
Werden aufgrund eines Zuständigkeitswechsels mehrere Spruchkörper des Gerichts mit einer Streitsache befasst ―hier der
jeweils zuständige konsentierte Berichterstatter als Einzelrichter― und will der zuletzt zuständige Spruchkörper eine andere Rechtsauffassung als der früher damit befasste Spruchkörper einnehmen, bedarf dies nicht in jedem Fall eines Hinweises an die Beteiligten, um ihnen erneut rechtliches Gehör zu gewähren. Sind die maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte, auf die sich das Urteil stützt, bereits Gegenstand des umfassenden mündlichen und schriftlichen Vorbringens der Beteiligten gewesen, ist das finanzgerichtliche Urteil keine "Überraschungsentscheidung" (BFH-Urteil vom 23. Mai 1996 IV R 87/93, BFHE 180, 396, BStBl II 1996, 523).
Für die Beteiligten war vorliegend von Anfang an klar, dass es für den Rechtsstreit darauf ankommen würde, ob der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) die Inanspruchnahme der Klägerin zu Recht auf § 278 Abs. 2 AO 1977 gestützt hat. Insoweit hatten die Beteiligten ausreichend Gelegenheit, sich zu der Streitsache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu äußern. Sie konnten zu den einzelnen, im Urteil zugrunde gelegten tatsächlichen Verhältnissen Stellung nehmen und sich auf die möglichen rechtlichen Folgerungen durch das Gericht einstellen. Der Klägerin wurde außerdem rechtliches Gehör durch einen Erörterungstermin gewährt, in dem die streitigen Sach- und Rechtsfragen besprochen wurden. Das FG durfte danach und nach dem Verzicht der Beteiligten auf mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren auch durch Urteil entscheiden. In der Bewertung der Sach- und Rechtsfragen war es frei, auch wenn der zunächst zuständige Berichterstatter im Erörterungstermin angedeutet haben sollte, dass er die Sach- und Rechtsfragen in einem für die Klägerin günstigen Sinne bewerte. Dadurch wird aber die Entscheidungskompetenz des nachfolgenden Berichterstatters nicht berührt (vgl. BFH-Beschluss vom 11. November 1997 X B 233/96, BFH/NV 1998, 605).
Im Übrigen hat die Klägerin auch nicht vorgetragen, dass sie den Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nur wegen des richterlichen Hinweises, die Inanspruchnahme der Klägerin sei ermessensfehlerhaft, erklärt und aus diesem Grund von weiteren Äußerungen abgesehen habe. Schließlich hätte die Klägerin im Einzelnen darlegen müssen, wozu sie sich nicht hat äußern können und was sie bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte. Außerdem hätte in der Beschwerde dargelegt werden müssen, in welcher Beziehung bei Berücksichtigung des ihr versagten Vortrages das angegriffene Urteil hätte anders ausfallen können.
Fundstellen
Haufe-Index 639738 |
BFH/NV 2001, 1580 |