Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine unzulässige Überraschungsentscheidung bei Abweichung des Senats von der Rechtsauffassung des Berichterstatters
Leitsatz (NV)
- Eine Verletzung des Rechts auf Gehör kann vorliegen, wenn das Gericht die Beteiligten nicht auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt hinweist, den es seiner Entscheidung zugrunde legen will.
- Auch wenn der Berichterstatter vor der Entscheidung des Senats seine Rechtsansicht zu erkennen gegeben hat, braucht der in seiner Entscheidung freie Vollsenat in der mündlichen Verhandlung die Beteiligten nicht darauf hinzuweisen, dass er möglicherweise eine hiervon abweichende Rechtsansicht vertrete.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 76 Abs. 2, § 96 Abs. 2
Gründe
Die Beschwerde ist unzulässig. Zulassungsgründe sind nicht i.S. des § 116 der Finanzgerichtsordnung (FGO) dargelegt.
1. Aus dem klägerischen Vortrag ergibt sich ―seine Richtigkeit unterstellt― nicht die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung des rechtlichen Gehörs.
a) Rechtliches Gehör wird den Beteiligten dadurch gewährt, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem Sachverhalt zu äußern, der einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden soll. Das rechtliche Gehör bezieht sich vor allem auf Tatsachen und Beweisergebnisse (vgl. § 96 Abs. 2 FGO); darüber hinaus darf das Finanzgericht (FG) seine Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt nur stützen, wenn die Beteiligten zuvor Gelegenheit hatten, dazu Stellung zu nehmen (§ 278 Abs. 3 der Zivilprozessordnung ―ZPO― i.d.F. bis 2001; jetzt: § 139 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 155 FGO; vgl. auch § 93 Abs. 1 FGO; Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 15. Juni 2001 VII B 45/01, BFH/NV 2001, 1580).
Deshalb kann eine Verletzung des Rechts auf Gehör vorliegen, wenn das Gericht die Beteiligten nicht auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt hinweist, den es seiner Entscheidung zugrunde legen will (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juli 1997 1 BvR 1934/93, Neue Juristische Wochenschrift 1997, 2305). Dies kann z.B. der Fall sein, wenn ein bisher nicht erörterter Gesichtspunkt zur Grundlage der Entscheidung gemacht wird, der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht hat rechnen müssen (BFH-Beschluss in BFH/NV 2001, 1580).
b) Derartige Umstände hat die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) nicht vorgetragen und sind im Streitfall auch nicht gegeben.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) war bereits während der Betriebsprüfung und des Einspruchsverfahrens der Ansicht, es lägen drei Gewerbebetriebe vor. Der Hinweis der Berichterstatterin im Schreiben vom …, die Auffassung der Klägerin, es läge nur ein Gewerbebetrieb vor, sei "zumindest vertretbar", zeigt, dass es für den Ausgang des Verfahrens auf die Zahl der anzunehmenden Gewerbebetriebe ankam. Zudem war das Thema in der mündlichen Verhandlung erörtert worden. Die Klägerin hatte ausweislich des Protokolls ihre berufliche Tätigkeit geschildert und nochmals ausgeführt, dass ihre verschiedenen Arbeitsbereiche jeweils selbständige Betriebe darstellten. Auch wenn die Berichterstatterin zuvor ihre Rechtsansicht zu erkennen gegeben hatte, brauchte der in seiner Entscheidung freie Vollsenat in der mündlichen Verhandlung die Klägerin nicht darauf hinzuweisen, dass er möglicherweise eine hiervon abweichende Rechtsansicht vertrete. Eine Darlegung in den Urteilsgründen, wie es zu dem von der Auffassung der Berichterstatterin abweichenden Entschluss des Senats gekommen ist, war ebenfalls nicht geboten und wegen des Beratungsgeheimnisses (vgl. § 43 des Deutschen Richtergesetzes) auch nicht zulässig. Im Urteil sind lediglich die Gründe für die Rechtsansicht des Senats zu erörtern. Da alle maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte vor Erlass des Urteils angesprochen waren und die Klägerin sich hierzu ausreichend hatte äußern können, ist das finanzgerichtliche Urteil keine unzulässige "Überraschungsentscheidung" (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2001, 1580, und vom 23. Mai 1996 IV R 87/93, BFHE 180, 396, BStBl II 1996, 523).
2. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Alternative 2 FGO (Erfordernis einer BFH-Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung) hat die Klägerin ebenfalls nicht ausreichend dargelegt.
Ihre Ausführungen lassen nicht erkennen, dass das FG in einer Rechtsfrage von dem BFH-Urteil vom 18. Dezember 1996 XI R 63/96 (BFHE 182, 369, BStBl II 1997, 573) abgewichen ist. Sie trägt lediglich vor, die Schlussfolgerungen, die das FG aus diesem Urteil ziehe, seien nicht unbedingt nachzuvollziehen.
Mit dem Vortrag der Klägerin, ihrer Ansicht nach hätte das FG aufgrund dieses BFH-Urteils den Sachverhalt anders würdigen müssen, wird auch nicht schlüssig dargetan, dass das FG-Urteil auf schwerwiegenden Fehlern bei der Auslegung und Anwendung des materiellen Rechts beruhe, die das Vertrauen in die Rechtsprechung schädigen könnten (vgl. BFH-Beschluss vom 28. Februar 2002 III B 155/01, BFH/NV 2002, 804, 805) oder dass es sich gar um eine willkürliche, jeglicher gesetzlicher Grundlage entbehrenden Entscheidung handle (vgl. BFH-Beschluss vom 14. Februar 2002 VII B 141/01, BFH/NV 2002, 798, 799, m.w.N.).
3. Von der Darstellung des Sachverhalts und einer weiteren Begründung seiner Entscheidung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.
Fundstellen