Entscheidungsstichwort (Thema)
Zurückweisung verspäteten Vorbringens
Leitsatz (NV)
Nach Ablauf einer nach § 79 b Abs. 2 FGO gesetzten Frist ist die Zurückweisung des verspäteten Vorbringens und die Versagung der beantragten PKH durch Entscheidung nach Aktenlage dann nicht gerechtfertigt, wenn der Haftungsschuldner bereits im Einspruchsverfahren darauf hingewiesen hat, daß er seiner Mitwirkungspflicht deshalb nicht nachkommen könne, weil es ihm nicht möglich sei, die beim Konkursverwalter befindlichen Buchführungsunterlagen einzusehen. Denn nach der Rechtsprechung des Senats (Senatsurteil vom 23. August 1994 VII R 134/92, BFH/NV 1995, 570) ist der Haftungsschuldner nicht verpflichtet, den Konkursverwalter aufzusuchen und sich durch Einsicht in die dort befindlichen Buchführungsunterlagen die Möglichkeit zur Erteilung der geforderten Auskünfte zu verschaffen.
Normenkette
AO §§ 69, 34; FGO § 79b Abs. 3, § 142
Tatbestand
Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) wurde als Geschäftsführer einer GmbH, über deren Vermögen die Sequestration angeordnet wurde, vom beklagten Finanzamt (FA) wegen rückständiger Steuern und steuerlicher Nebenleistungen der Gesellschaft für den Zeitraum 1990 bis Mai 1992 gemäß den §§ 69 i. V. m. 34 der Abgabenordnung (AO 1977) als Haftungsschuldner in Anspruch genommen. Der gegen den Haftungsbescheid eingelegte Einspruch führte zu einer Herabsetzung der Haftungsschuld. In einer weiteren Verwaltungsentscheidung wurde die Haftungsschuld auf die bis zur Sequestration fällig gewordenen Steuern und die darauf entfallenden Säumniszuschläge beschränkt.
Zur Begründung der am 10. März 1995 erhobenen Klage setzte der Berichterstatter -- nachdem eine zuvor gesetzte Frist bereits verlängert worden war -- mit Verfügung vom 15. Juni 1995 eine Frist von einem Monat ab Zustellung der Verfügung und forderte den Antragsteller unter Hinweis auf die Präklusionsmöglichkeit nach § 79 b Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf, die Tatsachen anzugeben oder die Beweismittel zu bezeichnen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung er sich beschwert fühle. Ein erneuter Antrag auf Fristverlängerung wurde abgelehnt. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage durch Gerichtsbescheid ab. Es urteilte, der Antragsteller habe seine sich aus § 76 Abs. 1 Satz 2 FGO ergebende Mitwirkungspflicht verletzt, daher sei gemäß § 79 b Abs. 3 Satz 1 FGO nach Aktenlage entschieden worden. Der Antragsteller hat die Durchführung der mündlichen Verhandlung und die Gewährung von Prozeßkostenhilfe (PKH) sowie die Beiordnung des Prozeßbevollmächtigten beantragt.
Das FG lehnte den Antrag auf PKH mit der Begründung ab, das Klageverfahren biete aufgrund der verspäteten Begründung der Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Antragsteller könne nicht mehr damit gehört werden, er habe seine Mitwirkungspflicht bei der Ermittlung der Haftungsquote deshalb nicht verletzt, weil ihm die Buch führungsunterlagen der GmbH nach deren Konkurs nicht mehr zur Verfügung gestanden hätten. Die Berücksichtigung dieses Sachvortrags -- der auch innerhalb der Ausschlußfrist hätte erfolgen können -- würde den Rechtsstreit verzögern. Darüber hinaus sei die Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheids durch den Änderungsbescheid jedenfalls teilweise beseitigt worden.
Mit seiner Beschwerde hält der Antragsteller an seinem PKH-Antrag fest. Er macht geltend, das FG habe schon im Hinblick auf den Änderungsbescheid die Erfolgsaussichten der Klage nicht gänzlich verneinen dürfen. Auch lägen im Streitfall die Voraussetzungen für eine Präklusion des verspäteten Vorbringens nach § 79 b Abs. 3 FGO nicht vor, denn das FG bzw. das FA hätten den Sachverhalt selbst aufklären müssen. So habe der Senat in seinem Urteil vom 23. August 1994 VII R 134/92 (BFH/NV 1995, 570) entschieden, daß ein Haftungsschuldner seine Mitwirkungspflicht nach § 76 Abs. 1 Satz 3 FGO nicht verletze, wenn er auf die beim Konkursverwalter befindlichen Buchführungsunterlagen verweise, weil andere Unterlagen nicht zur Verfügung stünden. Darüber hinaus habe er -- der Antragsteller -- gegen den Änderungsbescheid am 9. April 1996 Einspruch eingelegt, so daß nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) das Verfahren über den ursprünglichen Haftungsbescheid nach § 74 FGO ausgesetzt und erst über die Rechtmäßigkeit des Änderungsbescheids entschieden werden müsse. Nach alledem sei das verspätete Vorbringen nicht geeignet, den Rechtsstreit zu verzögern.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
Nach § 142 FGO i. V. m. § 114 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ist PKH zu bewilligen, wenn der Kläger nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozeßführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann und wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Eine beabsichtigte Rechtsverfolgung verspricht dann hin reichende Aussicht auf Erfolg, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers aufgrund dessen Sachdarstellung und der vorhandenen Unterlagen zumindest für vertretbar hält, in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist und deshalb bei summarischer Prüfung für einen Eintritt des angestrebten Erfolges eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht (vgl. BFH-Beschlüsse vom 16. Dezember 1986 VIII B 115/86, BFHE 148, 215, BStBl II 1987, 217, und vom 15. September 1992 VII B 62/92, BFH/NV 1994, 149).
Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte hätte das FG den Antrag auf PKH nicht allein mit dem Hinweis auf die Präklusion des verspäteten Vorbringens (§ 79 b Abs. 3 FGO) zurückweisen dürfen. Die Schlußfolgerung des FG, daß die Berücksichtigung der verspäteten Klagebegründung zu einer Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits führen würde, trifft der Sache nach nicht zu, so daß die Entscheidung keinen Bestand haben kann.
1. Nach § 79 b Abs. 3 FGO können Erklärungen und Beweismittel nur dann als verspätet zurückgewiesen werden, wenn ihre Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und der über die Folgen der Fristversäumung belehrte Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt. Bei dieser Ermessensentscheidung kann sich das FG von seiner freien Überzeugung leiten lassen. Es ist an starre Regeln nicht gebunden. Doch sind bei der Anwendung der Präklusionsvorschrift die Grundsätze rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung zu berücksichtigen (vgl. Kühn/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 17. Aufl., § 79 b FGO Anm. 4 c). Als Beschwerdeinstanz ist der BFH nicht nur befugt, die angefochtene Entscheidung -- auch unter Berücksichtigung neuen Vorbringens -- in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu überprüfen, sondern er darf auch eigenes Ermessen ausüben (vgl. BFH-Beschluß vom 24. März 1981 VII B 64/80, BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475).
Im Streitfall gelangt der Senat zu der Überzeugung, daß die Zulassung der im Schriftsatz vom 7. Dezember 1995 verspätet vorgetragenen Klagebegründung nicht zu einer Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits führen kann. Wie der Antragsteller in der Beschwerdebegründung zutreffend ausführt, hat er bereits im Einspruchsverfahren darauf hingewiesen, daß er nicht in der Lage sei, seiner Mitwirkungspflicht nachzukommen, da sich die Buchführungsunterlagen beim Konkursverwalter befänden. Nach der Rechtsprechung des Senats (BFH/NV 1995, 570) ist der Mitwirkungspflicht des Haftungsschuldners mit dem Hinweis auf die beim Konkursverwalter befindlichen Buchführungsunterlagen jedoch Genüge getan. Insbesondere ist der Haftungsschuldner nicht dazu verpflichtet, den Konkursverwalter aufzusuchen und sich durch Einsicht in die dort befindlichen Buchführungsunterlagen die Möglichkeit zur Erteilung der geforderten Auskünfte über die finanzielle Situation der GmbH im maßgebenden Zeitraum zu verschaffen. Diese Grundsätze hätte das FA bereits bei seiner Einspruchsentscheidung berücksichtigen und zu diesem Zeitpunkt eigene Ermittlungen zur objektiven Pflichtverletzung und zum Nachweis des Verschuldens des Antragstellers (vgl. hierzu Tipke/Kruse, Ab gabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 69 AO 1977 Tz. 11) anstellen können. Auch das FG hätte bei seiner Entscheidung nach Aktenlage das Vorbringen des Antragstellers im außergerichtlichen Vorverfahren beachten müssen. In seiner Klagebegründung hat der Antragsteller nochmals auf die für ihn nachteilige Situation hingewiesen und dargelegt, daß er sich weder gesundheitlich noch finanziell in der Lage sehe, eine weite Anreise auf sich zu nehmen und die Unterlagen im Büro des Konkursverwalters einzusehen. Bei dieser -- seit der Einspruchsentscheidung unverändert gebliebenen -- Sachlage kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Berücksichtigung der gegen die vom FG und FA angenommene Nichterfüllung der Mitwirkungspflicht gerichteten Einwände die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde. Auch bei rechtzeitigem Vortrag hätte sich an der bereits zuvor bestehenden Aufklärungspflicht des FA nichts geändert.
2. Da bereits aus den vorstehenden Gründen die Anwendung der Präklusionsvorschrift des § 79 b Abs. 3 FGO durch das FG unzulässig war und zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses führt, braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob auch die durch den Änderungsbescheid herbeigeführte neue Verfahrenslage -- einschließlich der vom Antragsteller vorgetragenen Möglichkeit einer Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO -- der Annahme einer Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits bei Berücksichtigung der verspäteten Klagebegründung entgegenstehen würde.
3. Der Senat hält es für angebracht, die Sache unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§§ 132, 155 FGO i. V. m. § 575 ZPO). Dies ist auch im Hinblick auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes geboten, weil dem Antragsteller bei abschließender Entscheidung des Senats über den PKH- Antrag eine Instanz genommen würde. Das FG wird nunmehr neben den Erfolgsaussichten in bezug auf die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids auch darüber zu befinden haben, ob die übrigen für die Bewilligung von PKH erforderlichen Voraussetzungen des § 114 ZPO vorliegen.
Fundstellen
Haufe-Index 421835 |
BFH/NV 1997, 514 |