Leitsatz (amtlich)
Im Sinne des allgemeinen Abgabenrechts gehört die Umsatzsteuer nicht zu den Verbrauchsteuern, sondern zu den anderen (übrigen) Steuern. Für sie beträgt die Festsetzungsfrist daher vier Jahre (§ 169 Abs.2 Nr.2 AO 1977).
Orientierungssatz
Zwar findet sich weder in der AO 1977 noch sonst im Abgabenrecht eine Legaldefinition des Begriffs der Verbrauchsteuern oder ein Kriterium für ihre Abgrenzung zu anderen Steuern (BFH-Urteil vom 27.6.1973 II R 179/71), doch gibt das Gesetz im Rahmen der Regelung der örtlichen Zuständigkeit (§§ 21, 23 AO 1977) zu erkennen, daß es die Umsatzsteuer mit Ausnahme der Einfuhrumsatzsteuer nicht zu den Verbrauchsteuern zählt, eine Klassifizierung, die durch § 21 Abs. 1 UStG 1967 bestätigt wird. Die allgemeine abgabenrechtliche Einteilung der Steuern in zwei Gruppen wird durch die Verjährungsregelung ebenso untermauert wie durch die hiermit zusammenhängende Regelung über die Bestandskraft (§ 172 Abs. 1 Nrn. 1, 2 AO 1977).
Normenkette
AO 1977 §§ 21, 23, 169 Abs. 2 Nrn. 1-2, § 172 Abs. 1 Nrn. 1-2; UStG 1967 § 21 Abs. 1
Tatbestand
I. In dem Rechtsstreit vor dem Finanzgericht (FG) ging es darum, ob der angefochtenen Änderung des Umsatzsteuerbescheids für 1977 vom 25.März 1983 die für Zölle und Verbrauchsteuern geltende einjährige Verjährungsfrist des § 169 Abs.2 Nr.1 der Abgabenordnung 1977 (AO 1977) entgegenstand.
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) war vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) mit Bescheid vom 26.Juli 1979 bestandskräftig (ohne Vorbehalt oder Vorläufigkeitsvermerk) zur Umsatzsteuer 1977 herangezogen worden.
Im Rahmen einer im Jahre 1982 durchgeführten Außenprüfung wurde u.a. festgestellt, daß bestimmte Lieferungen und sonstige Leistungen sowie Eigenverbrauch versehentlich nicht berücksichtigt worden waren.
Dies veranlaßte das FA dazu, unter Berufung auf § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 einen Änderungsbescheid zu erlassen.
Einspruch und Klage blieben erfolglos.
Die gegen die Nichtzulassung der Revision erhobene Beschwerde wird auf § 115 Abs.2 Nr.1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gestützt, wobei der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache darin erblickt, daß durch die anzufechtende Entscheidung des FG die praktisch überaus bedeutsame Frage nach der Qualifikation der Umsatzsteuer als Verkehrsteuer oder Verbrauchsteuer und damit außerdem die Frage nach der Geltung des Rechts der Europäischen Gemeinschaften (EG) im innerstaatlichen Bereich aufgeworfen würden.
Der Kläger beantragt, die Revision gegen das Urteil des FG zuzulassen.
Das FA beantragt, die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs.2 Nr.1 FGO. Es besteht kein über den Einzelfall hinausgehendes allgemeines (abstraktes) Interesse daran, aus Gründen der Rechtsklarheit, der Rechtseinheitlichkeit und/oder der Rechtsentwicklung eine höchstrichterliche Entscheidung des Streitfalles herbeizuführen (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 20.April 1977 I B 65/76, BFHE 122, 119, BStBl II 1977, 608, 609, und vom 27.Juni 1985 I B 23/85, BFHE 144, 133, BStBl II 1985, 605, 606; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12.Aufl., 1965/86, § 115 FGO Tz.53 m.w.N.), und zwar deshalb, weil die Rechtslage eindeutig ist (BFH-Beschluß vom 11.Juli 1972 IV B 61/71, BFHE 106, 276, BStBl II 1972, 792, 793).
Die Umsatzsteuer aus Lieferungen, sonstigen Leistungen und Eigenverbrauch im Sinne des Umsatzsteuergesetzes 1967 (UStG) und der insoweit gleichlautenden späteren Gesetzesfassungen unterliegt nicht --wie der Kläger meint-- der Festsetzungsfrist des § 169 Abs.2 Nr.1 AO 1977, sondern derjenigen des § 169 Abs.2 Nr.2 AO 1977. Diese hier allein streitige Zuordnung ist eindeutig.
Die Festsetzungsfrist, nach deren Ablauf eine Steuerfestsetzung, deren Aufhebung oder Änderung gemäß § 169 Abs.1 Satz 1 AO 1977 nicht mehr zulässig ist, beträgt für Zölle, Verbrauchsteuern, Zollvergütungen und Verbrauchsteuervergütungen ein Jahr (§ 169 Abs.2 Nr.1 AO 1977), für alle anderen Steuern (die "übrigen Steuern") und Steuervergütungen vier Jahre (§ 169 Abs.2 Nr.2 AO 1977). Das Gesetz kennt nur zwei Gruppen von Abgaben, begnügt sich mit der positiven Benennung der ersten und grenzt die zweite nur negativ von der erstgenannten ab.
Daß die Umsatzsteuer aus Lieferungen und sonstigen Leistungen sowie aus Eigenverbrauch nicht zu den Verbrauchsteuern im Sinne dieser Regelung, sondern zu den "anderen Steuern" gehört, folgt aus dem Wortsinn, dem Gesetzeszusammenhang, der Entstehungsgeschichte und dem Zweck dieser Regelung.
Zwar findet sich weder in der AO 1977 noch sonst im Abgabenrecht eine Legaldefinition des Begriffs der Verbrauchsteuern oder ein Kriterium für ihre Abgrenzung zu anderen Steuern (BFH-Urteil vom 27.Juni 1973 II R 179/71, BFHE 110, 213, BStBl II 1973, 807, 808), doch gibt das Gesetz an anderer Stelle, im Rahmen der Regelung der örtlichen Zuständigkeit (vgl. § 21 AO 1977 einerseits und § 23 AO 1977 andererseits), zu erkennen, daß es die Umsatzsteuer mit Ausnahme der hier nicht in Frage stehenden Einfuhrumsatzsteuer (§ 1 Abs.1 Nr.4 UStG 1967; desgleichen die späteren Gesetzesfassungen) nicht zu den Verbrauchsteuern zählt (vgl. die entsprechende Regelung nach den §§ 71 Abs.1, 73 Abs.1 und Abs.4 sowie 76 Nr.8 der Reichsabgabenordnung --RAO 1931-- vom 22.Mai 1931, RGBl I 1931, 161), eine Klassifikation, die im übrigen durch § 21 Abs.1 UStG bestätigt wird.
Daß dieser allgemeinen abgabenrechtlichen Einteilung der Steuern in zwei Gruppen ein durchgängiges System zu Grunde lag und zu Grunde liegt, wird durch die hier in Frage stehende Verjährungsregelung ebenso untermauert wie durch die hiermit zusammenhängende Regelung über die Bestandskraft, die für Zölle und Verbrauchsteuern (bis zum Ablauf der einjährigen Festsetzungsfrist) ohne weiteres, für alle anderen Steuern dagegen nur unter besonderen Voraussetzungen durchbrochen werden darf (§ 172 Abs.1 Nr.1 AO 1977 einerseits und § 172 Abs.1 Nr.2 AO 1977 andererseits). Dies entspricht --wie die einschlägigen früheren Vorschriften (§§ 76 Nr.1 und 2, 121 Satz 1 1.Halbsatz der Reichsabgabenordnung vom 13.Dezember 1919 --RAO 1919--, RGBl 1919, 1993; bzw. §§ 94 Abs.1 Nr.1 und Nr.2, 144 Abs.1 Satz 1 RAO 1931) verdeutlichen-- allgemeiner abgabenrechtlicher Tradition, deren erkennbares systematisches Konzept darin besteht, daß für das allgemeine Abgabenrecht nicht so sehr die Eigenart der Steuern als vielmehr die Art ihrer Festsetzung und ihrer sonstigen verwaltungstechnischen Behandlung entscheidend ist: Schon im Geltungsbereich der RAO 1919 wurde der rechtfertigende Grund für die unterschiedliche Behandlung von Zöllen bzw. Verbrauchsteuern einerseits und den übrigen Steuern andererseits darin gesehen, daß die erstgenannten Abgaben mehr summarisch, rechnerisch und oft durch untergeordnete Stellen, bei fehlender bzw. unerheblicher Mitwirkung des Betroffenen, die anderen Steuern dagegen im Rahmen eines formalisierten, unter weitgehender Mitwirkung des Steuerpflichtigen auf erschöpfende Sachverhaltsermittlung ausgerichteten Veranlagungsverfahrens ermittelt werden (vgl. dazu vor allem: Enno Becker, Reichsabgabenordnung, 7.Aufl., 1930, § 1 Anm.10; § 76 Anm.2 sowie § 121 Anm.1).
An dieser Einteilung und systematischen Rechtfertigung hat sich im Zuge späterer Gesetzesänderungen nichts Wesentliches geändert (vgl. z.B. Riewald, Reichsabgabenordnung und Steueranpassungsgesetz, 8.Aufl., 1941, § 94 Anm.1 a und 1 d, § 144 Anm.1 sowie die amtliche Begründung zu den §§ 23, 25, 150 und 153 des AO-Entwurfs 1974, BTDrucks VI/1982, 107, 150 und 152), und zwar auch nicht anläßlich der Änderung des Umsatzsteuergesetzes durch das UStG 1967, so daß es für das Verhältnis der Umsatzsteuer zum allgemeinen Abgabenrecht, insbesondere für die den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes untergeordnete Verjährungsregelung, um die es hier geht, auch heute noch nicht so sehr auf die Beantwortung der Frage ankommt, warum letztlich ein bestimmter Sachverhalt besteuert wird, sondern darauf, wie diese Besteuerung nach den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften durchgeführt wird.
Eine solche Differenzierung ist auch weiterhin systemgerecht: Es erweist sich nämlich noch immer als durchaus sinnvoll, daß die einem formalistischen und gründlichen Festsetzungs- bzw. Veranlagungsverfahren zugewiesenen übrigen Steuern i.S. des § 169 Abs.2 Nr.2 AO 1977 einerseits --eben weil auf Richtigkeit, Vollständigkeit und Dauerhaftigkeit hier angelegt-- längere Zeit hindurch für eine (zutreffende) endgültige Regelung offengehalten werden, andererseits aber, wenn eine bestandskräftige Regelung getroffen wurde, stärkeren Vertrauens- und Bestandsschutz genießen (vgl. Nr.1 gegenüber Nr.2 in § 172 Abs.1 Satz 1 AO 1977) als Zölle und die ihnen in der Abgabenverwaltung gleichgestellten Verbrauchsteuern, die einem an einfacher und zügiger Massenbewältigung ausgerichteten Abfertigungsverfahren unterworfen sind, in dem die rasche, in engen zeitlichen Grenzen auch noch leicht korrigierbare Verwaltungsentscheidung beiderseits ebenso gefragt ist wie ein relativ rasch garantierter Rechtsfrieden (durch kurze Festsetzungsverjährungsfristen - vgl. in diesem Zusammenhang auch die §§ 8 Abs.2, 12 Abs.2 und 17 Abs.2 des Finanzverwaltungsgesetzes --FVG-- sowie zu alledem grundsätzlich außerdem zuvor Zitierten: Tipke/Kruse, a.a.O., Tz.2 vor § 169 AO 1977 sowie § 169 AO 1977 Tz.3 und Philipowski, Umsatzsteuer-Kongreßbericht 1985 S.183 f., 203 ff.).
Die Richtigkeit dieses Ergebnisses wird selbst von denjenigen nicht bezweifelt, die für das Verständnis rein umsatzsteuerrechtlicher Normen den Verbrauchsteuercharakter der Umsatzsteuer betonen (vgl. vor allem: Söhn, Betriebs-Berater --BB-- 1975, 219; Steuer und Wirtschaft --StuW-- 1975, 1, 6 ff. und 16; 1976, 8 ff.; Tipke, Steuerrecht, 16.Aufl. 1985, S.416 ff.; Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 1972, 2, 3 f.; Deutsches Steuerrecht --DStR-- 1983, 595; Tipke/Kruse, a.a.O., § 3 AO 1977 Tz.38 und Tz.42, sowie § 169 AO 1977 Tz.3; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8.Aufl., 1951/86, § 21 Tz.1, § 23 Tz.1 f. und § 169 Tz.23), so daß für die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Rechtsfrage Meinungsverschiedenheiten in Literatur oder Rechtsprechung nicht erkennbar sind.
Auch aus der Problematik der Auswirkungen des EG-Rechts auf das nationale Umsatzsteuerrecht (vgl. z.B. die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 19.Januar 1982, UR 1982, 70, und vom 5.Mai 1982, UR 1982, 242, 243 einerseits und andererseits das Urteil des erkennenden Senats vom 25.April 1985 V R 123/84, BFHE 143, 383 sowie Seeger, Umsatzsteuer-Kongreßbericht 1985, 33 ff.) kann ein allgemeines Interesse im oben umschriebenen Sinne an einer höchstrichterlichen Entscheidung der Rechtssache nicht hergeleitet werden, weil die hier allein interessierende Frage, wann Umsatzsteueransprüche i.S. des § 1 Abs.1 Nr.1 und Nr.2 UStG (bzw. der späteren Gesetzesfassungen) verjähren, bzw. wie derartige Ansprüche i.S. der §§ 118, 155 und 157 AO zu regeln sind und welchen Bestandsschutz schließlich derartige Regelungen genießen sollen (§§ 172 ff. AO 1977), vom EG-Recht nicht tangiert wird.
Fundstellen
Haufe-Index 61176 |
BStBl II 1987, 95 |
BFHE 148, 10 |
BFHE 1987, 10 |
BB 1987, 49 |
BB 1987, 49 (ST) |
DB 1987, 567-567 (S) |
HFR 1987, 175-176 (ST) |