Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; Glaubhaftmachung
Leitsatz (NV)
1. Die Frage, ob Wiedereinsetzungsgründe glaubhaft gemacht wurden, ist keine Rechtsfrage i. S. des § 110 AO 1977, sondern eine Tatfrage.
2. Zur Notwendigkeit, das Fristenkontrollbuch zur Glaubhaftmachung vorzulegen.
3. Die Tatsache, daß eine eidesstattliche Versicherung vorgelegt wurde, macht nicht zwangsläufig die darin enthaltenen Erklärungen glaubhaft.
4. Wiedereinsetzung ist nicht allein deswegen zu gewähren, weil das FA den Briefumschlag, in dem sich ein fristgebundenes Schreiben befand, nicht aufbewahrt hat.
5. Macht eine Partei als Verfahrensfehler eine überlange Verfahrensdauer geltend, so hat sie auch darzulegen, inwieweit die Entscheidung auf diesem Mangel beruht.
6. Ein Beteiligter kann sich nicht darauf verlassen, daß das FG im Hauptsacheverfahren der Klage stattgibt, weil es bereits einem PKH-Antrag stattgegeben hat.
7. Das Gesetz schreibt bestimmte Fristen, innerhalb derer das Gericht den Sachverhalt aufzuklären hat, nicht vor.
Normenkette
GG Art. 103; AO 1977 § 110; FGO § 115 Abs. 2, § 76; ZPO § 294
Verfahrensgang
Gründe
Die Beschwerde ist als unbegründet zurückzuweisen.
1. Einer Rechtsfrage kommt grundsätzliche Bedeutung i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nur zu, wenn sie klärungsbedürftig und im Streitfall klärungsfähig ist (ständige Rechtsprechung; vgl. z. B. Nachweise bei Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 115 Rdnrn. 8 ff.). Die Frage, ob im Einzelfall ein Steuerpflichtiger sein mangelndes Verschulden an einer Fristversäumnis i. S. des § 110 der Abgabenordnung (AO 1977) glaubhaft gemacht hat, ist grundsätzlich eine Frage der Beweiswürdigung und damit letztlich eine Tat- und keine Rechtsfrage (vgl. z. B. Gräber/Ruban, a. a. O., § 118 Rdnr. 23, m. w. N.). Allgemein gültige Rechtsregeln für die Berücksichtigung einzelner Sachverhaltsaspekte können daher nur im begrenzten Umfang aufgestellt werden. Im einzelnen:
a) Soweit die Klägerin rügt, daß das Finanzgericht (FG) zwar eine schlüssige Darlegung von Wiedereinsetzungsgründen bejaht, die Glaubhaftmachung aber trotz der vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen verneint habe, macht sie Verstöße gegen Denkgesetze geltend. Damit rügt sie die Rechtswidrigkeit der Vorentscheidung, wirft aber keine im Allgemeininteresse klärungsbedürftige Rechtsfrage auf. Ob im Streitfall eine unverschuldete Fristversäumnis glaubhaft gemacht worden ist, hängt wesentlich davon ab, ob das FG der eidesstattlichen Versicherung von Frau S Glauben schenken konnte, wonach das Einspruchsschreiben von ihr am 13. Oktober 1995 zur Post gebracht worden ist, obgleich eine Austragung im Postausgangsbuch fehlte. Dies ist eine Tatfrage.
b) Die Frage, ob eine ordnungsgemäße Fristenkontrolle nur durch Vorlage des Fristenkontrollbuchs nachgewiesen werden könne, oder ob Einzelanweisungen des Prozeßbevollmächtigten genügen, kann im Streitfall nicht geklärt werden. Es ist weder vom Prozeßbevollmächtigten behauptet noch vom FG festgestellt worden, daß eine Einzelanweisung von Frau S erging, das streitige Schreiben noch am selben Tag zur Post zu bringen. In der eidesstattlichen Versicherung erklärte der Prozeßbevollmächtigte lediglich, daß das Schreiben in seinem Beisein zur übrigen Post gegangen und versandt worden sei. Eine Einzelanweisung gegeben zu haben, das Einspruchsschreiben noch am selben Tag bei der Post aufzugeben, wird nicht behauptet.
c) Die Frage, ob die Vorlage eines Fristenkontrollbuchs nötig ist, wenn die Fristversäumnis glaubhaft unverschuldet und daher eine mangelnde Fristenkontrolle nicht für die Versäumnis kausal ist, könnte revisionsrechtlich nicht geklärt werden. Maßgeblich ist vielmehr im Streitfall, ob aufgrund der eidesstattlichen Versicherung von Frau S von einer Glaubhaftmachung der unverschuldeten Fristversäumnis auszugehen ist. Davon, daß eine eidesstattliche Versicherung uneingeschränkt die behauptete Tatsache glaubhaft mache i. S. des § 294 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO), kann nach ständiger Rechtsprechung nicht ausgegangen werden (vgl. z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 8. Oktober 1985 VIII R 224/84, BFH/NV 1986, 226; BFH- Beschlüsse vom 8. Februar 1989 X B 147/88, BFH/NV 1989, 481; vom 9. September 1994 III B 29/94, BFH/NV 1995, 276; vom 23. November 1994 X B 23/94, BFH/NV 1995, 625). Im übrigen hat das FG im Streitfall die Vorlage des Fristenkontrollbuchs letztlich nur im Hinblick darauf verlangt, um die unstreitig fehlende Eintragung im Postausgangsbuch wettzumachen.
d) Die Rechtsfrage, ob Wiedereinsetzung stets zu gewähren ist, wenn das Finanzamt den Briefumschlag, in dem sich ein fristgebundenes Schreiben befindet, nicht zu den Akten nimmt, ist eindeutig zu verneinen (vgl. BFH-Urteil vom 24. August 1990 VI R 178/85, BFH/NV 1991, 140). Klärungsbedarf ergibt sich auch nicht aus einem Widerspruch der BFH-Rechtsprechung zum Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Hamburg vom 18. Februar 1994 Bf IV 17/93 (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht -- Rechtsprechungs-Report 1995, 122). Die Entscheidung des OVG Hamburg beruhte ausdrücklich auf den Besonderheiten des dort entschiedenen Falles. Im Streitfall besteht jedoch kein Anlaß, eine rechtsstaatliche Verfahrensgestaltung zu bezweifeln. Immerhin hatte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) bereits mit Schreiben vom 28. November 1990 das Fristenkontrollbuch angefordert. Dem kam der Prozeßbevollmächtigte bereits damals nicht nach. Wenn ihm das FG noch einmal zur Vorlage Gelegenheit gab, kann dies nicht im Hinblick auf den mittlerweile verstrichenen Zeitraum als treu- und rechtsstaatswidrig betrachtet werden.
2. Das FG ist auch nicht von den Urteilen des BFH vom 7. Dezember 1988 X R 80/87 (BFHE 155, 275, BStBl II 1989, 266) und vom 7. Dezember 1982 VIII R 77/79 (BFHE 137, 221, BStBl II 1983, 229) abgewichen i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO. Es hat nicht den Rechtssatz aufgestellt, daß in jedem denkbaren Fall das Fristenkontrollbuch vorgelegt werden müsse. Es ist lediglich im Streitfall davon ausgegangen, daß dies in Anbetracht der fehlenden Eintragung im Postausgangsbuch notwendig ist. Im übrigen hat auch der BFH a. a. O. den von der Klägerin behaupteten Rechtssatz nicht aufgestellt.
3. Die Klägerin kann auch nicht Verfahrensrügen i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO mit Erfolg geltend machen.
a) Die Rüge überlanger Verfahrensdauer ist schon deswegen erfolglos, weil die Klägerin nicht vorgetragen hat, inwieweit die finanzgerichtliche Entscheidung auf einem solchen Verfahrensfehler beruhen könnte (vgl. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO; vgl. auch z. B. Gräber/Ruban, a. a. O., § 115 Rdnr. 34, § 120 Rdnr. 38). Die Revision ist daher nicht schon deshalb wegen eines Verfahrensfehlers zuzulassen, weil das Verfahren vor dem FG nach Auffassung der Klägerin übermäßig lang gedauert hat (vgl. z. B. auch BFH-Beschluß vom 13. September 1991 IV B 105/90, BFHE 165, 469, BStBl II 1992, 148).
b) Zu Unrecht rügt die Klägerin auch Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 des Grundgesetzes -- GG --). Da das FG in der Ladung zur mündlichen Verhandlung zur Vorlage des Fristenkontrollbuchs aufgefordert hat, mußte die Klägerin bzw. ihr Prozeßbevollmächtigter von der Entscheidungserheblichkeit dieser Unterlage ausgehen. Wie der Niederschrift über die mündliche Verhandlung zu entnehmen ist, ist die Fristenkontrolle auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Auf die für die Klägerin günstige -- gegenteilige -- Rechtsauffassung des FG im Beschluß über das Prozeßkostenhilfeverfahren (PKH) konnte sich die Klägerin spätestens dann nicht mehr verlassen, als das FG erkennbar die ordnungsgemäße Fristenkontrolle in der Kanzlei des Prozeßbevollmächtigten überprüfen wollte. Im übrigen dienten die Ausführungen im PKH-Beschluß nur der Rechtsfrage, ob die Klage hinreichende Erfolgsaussichten habe (vgl. § 114 ZPO; BFH in BFH/NV 1995, 276, m. w. N.), d. h. ob eine gewisse Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen spricht. Der Hauptsacheentscheidung kann und wird im PKH-Verfahren nicht vorgegriffen. Ferner hat auch das FA noch während des Klageverfahrens im Anschluß an den PKH-Beschluß ausdrücklich auf die fehlende Eintragung im Postausgangsbuch hingewiesen. Wenn das FG unter diesen Umständen ausdrücklich noch die Vorlage des Fristenkontrollbuchs verlangte, durfte der Prozeßbevollmächtigte nicht von der Gewährung von Wiedereinsetzung ausgehen.
c) Ebensowenig hat das FG § 76 FGO verletzt, weil es die Vorlage des Fristenkontrollbuchs erst in der mündlichen Verhandlung verlangte. Bestimmte Fristen für die gerichtliche Sachaufklärung schreibt das Gesetz nicht vor.
d) Soweit die Klägerin rügt, das FG hätte die mündliche Verhandlung zur Beschaffung "ggf. vorhandener Unterlagen" unterbrechen müssen, fehlt es schon an der schlüssigen Rüge einer Verletzung des Art. 103 GG. Hierzu gehört die substantiierte Darlegung, wozu sich der Beschwerdeführer nicht habe äußern können und was er bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte (ständige Rechtsprechung; s. Nachweise z. B. bei Gräber/Ruban, a. a. O., § 119 Rdnr. 13). Auf den Streitfall bezogen hätte dies den Vortrag vorausgesetzt, daß den Streitfall betreffende Unterlagen in der Kanzlei des Prozeßbevollmächtigten vorhanden und daß diese zur Glaubhaftmachung fehlenden Verschuldens geeignet seien. Unter diesen Umständen braucht der Senat auf die Frage, ob im finanzgerichtlichen Verfahren die Glaubhaftmachung i. S. des § 110 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 nachgeholt werden kann, nicht einzugehen. Insoweit ergeben sich im Streitfall Bedenken aus § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO, da die Ablehnung der Wiedereinsetzung durch das FA ohne Glaubhaftmachung unverschuldeter Fristversäumnis rechtmäßig ist (Nachholbarkeit bejahend BFH-Beschluß vom 12. Juni 1991 VII B 12/91, nicht veröffentlicht).
Im übrigen ergeht dieser Beschluß gemäß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vom 8. Juli 1975 (BGBl I 1975, 1861, BStBl I 1975, 932) in der Fassung des Gesetzes vom 26. November 1996 (BGBl I 1996, 1810, BStBl I 1996, 1522) ohne Begründung.
Fundstellen
Haufe-Index 422182 |
BFH/NV 1997, 545 |