Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum Begriff der Überraschungsentscheidung
Leitsatz (NV)
1. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der alle oder einzelne Beteiligte nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht rechnen mussten.
2. Es gibt keine allgemeine Hinweispflicht des Gerichts, auch dann nicht, wenn es den Sachverhalt anders beurteilt als ein Beteiligter.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2, §§ 76, 96 Abs. 2
Verfahrensgang
FG Düsseldorf (Urteil vom 15.09.2005; Aktenzeichen 15 K 3437/02 U,F) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist von Beruf Bäcker und war in den Streitjahren nichtselbständig beschäftigt. Daneben hatte der Kläger beim Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) Umsatzsteuererklärungen für ein Dienstleistungsunternehmen mit dem Geschäftsgegenstand "Vermittlung von Feuerschutz- und sicherheitstechnischen Anlagen" abgegeben. Das FA folgte zunächst den Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre (1993 bis 1995). Im Anschluss an eine beim Kläger durchgeführte steuerliche Betriebsprüfung ging das FA davon aus, dass der Kläger nichtunternehmerisch tätig geworden sei, setzte die vom Kläger in Rechnungen offen ausgewiesene Umsatzsteuer nach § 14 Abs. 3 des Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG) fest und versagte den Vorsteuerabzug.
Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Finanzgericht (FG) im Wesentlichen aus, der Kläger sei zwar Unternehmer, die Steuerfestsetzung durch das FA erweise sich gleichwohl im Ergebnis als zutreffend. Die vom Kläger geltend gemachten Vorsteuerbeträge seien mit Ausnahme der Kraftfahrzeug- und Raumkosten sowie der Bewirtungsaufwendungen zu versagen, weil ein Bezug für das Unternehmen nicht erkennbar sei. So sei nicht klar, in welchem Zusammenhang die Anmietung von Containern mit seinem Vermittlungsunternehmen stehe. Die Leistungsbezüge im Jahr 1993 seien überhaupt nicht näher bezeichnet. Deshalb könnten in Anlehnung an die Verhältnisse in den Folgejahren nur 2 503 DM als Vorsteuerbeträge aus Kraftfahrzeug- und Raumkosten sowie Bewirtungsaufwendungen anerkannt werden. Außerdem schulde der Kläger die gegenüber AB in Rechnungen ausgewiesenen Steuern nach § 14 Abs. 3 UStG, weil diesen Rechnungen tatsächlich keine Leistungen zugrunde gelegen hätten. Steuerfestsetzungen auf dieser Grundlage kämen in jedem einzelnen Streitjahr zu einer deutlich höheren Umsatzsteuer als sie vom FA in den angefochtenen Bescheiden festgesetzt sei.
Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger Verfahrensmängel geltend. Das FG habe den Sachverhalt nicht ordnungsgemäß ermittelt sowie ausdrücklich angebotene und sich aus dem Sachvortrag ergebende Beweismittel nicht herangezogen. Insbesondere hätte AB als Zeuge vernommen werden müssen. Außerdem sei die Entscheidung verfahrensfehlerhaft, weil es sich um eine Überraschungsentscheidung handele. Es sei immer nur die Frage der Unternehmereigenschaft problematisiert worden.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Nach § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Revision zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfordert (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Die Nichtzulassung kann mit der Beschwerde angefochten werden (§ 116 Abs. 1 FGO). In der Beschwerdebegründung müssen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO dargelegt werden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
Der Kläger rügt das Vorliegen von Verfahrensmängeln ohne Erfolg. Verfahrensmängel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO sind Verstöße des FG gegen Vorschriften des Verfahrensrechts. Hierzu gehört auch die Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) und die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundsgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO).
a) Sowohl die Verletzung der Pflicht zur Sachaufklärung als auch das Nichtberücksichtigen von Beweisanträgen gehören zu den verzichtbaren Verfahrensmängeln (BFH-Beschlüsse vom 4. Mai 1993 V B 13/93, BFH/NV 1994, 181; vom 19. Februar 2001 VI B 236/00, BFH/NV 2001, 935). Wird die Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht, auf deren Beachtung der Betroffene verzichten kann, geht das Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem FG verloren, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge. Der Kläger hätte deshalb vortragen müssen, dass er den Verstoß in der Vorinstanz gerügt habe bzw. aus welchen entschuldbaren Gründen er an einer solchen Rüge vor dem FG gehindert gewesen sei (BFH-Beschlüsse vom 17. März 2000 VII B 1/00, BFH/NV 2000, 1125; vom 25. November 1992 II B 169/91, BFH/NV 1993, 258). Das ist nicht geschehen.
b) Es liegt auch keine Überraschungsentscheidung vor. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der alle oder einzelne Beteiligte nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht rechnen mussten. Das Gericht ist aber weder verpflichtet, die maßgebenden Rechtsfragen umfassend mit den Beteiligten zu erörtern noch seine vorläufige Beweiswürdigung oder das Ergebnis einer Gesamtwürdigung einzelner Umstände offen zu legen. Es gibt auch keine allgemeine Hinweispflicht des Gerichts, auch dann nicht, wenn es den Sachverhalt anders beurteilt als ein Beteiligter (BFH-Beschlüsse vom 27. April 2005 X B 130/04, BFH/NV 2005, 1596; vom 26. Juni 2003 IV B 195/01, BFH/NV 2003, 1437; vom 3. Juni 2003 X B 102/02, BFH/NV 2003, 1209; vom 10. September 2003 X B 132/02, BFH/NV 2004, 495).
Selbst wenn ein derartiger Verfahrensfehler vorliegen würde, könnte das Urteil nicht darauf beruhen. Der Kläger trägt vor, dem FG habe es sich aufdrängen müssen, AB als Zeugen zu hören. Dieser hätte im Fall seiner Vernehmung die streitigen Zahlungsflüsse zwischen ihm, dem Kläger, und AB bestätigt. Dieser Vortrag führt nicht zur Zulassung der Revision, weil nicht dargelegt ist, inwiefern sich daraus eine andere Entscheidung des FG hätte ergeben können. Das FG ist aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger Leistungen an die Firmen X-GmbH, Y GmbH und Z ausgeführt und diesen gegenüber abgerechnet hat. Der Kläger hat nach den den Senat bindenden Feststellungen über dieselben Leistungen zugleich dem AB Rechnungen mit gesondertem Steuerausweis erteilt. Ob insoweit Zahlungen an AB geflossen sind, ist sowohl für die Unternehmereigenschaft des Klägers und für die Höhe der Steuerfestsetzung unbeachtlich.
Fundstellen
Haufe-Index 1621612 |
BFH/NV 2007, 62 |