Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung einer Rücknahmeerklärung; keine Teilrücknahme einer Beschwerde
Leitsatz (NV)
1. Die Rücknahme eines Rechtsmittels kann nur dann angenommen werden, wenn dies in der Prozesserklärung hinreichend deutlich zum Ausdruck gekommen ist.
2. Im Beschwerdeverfahren kann der Beschwerdeführer seinen Antrag grundsätzlich ändern. Das Beschwerdegericht ist nicht auf eine rechtliche Nachprüfung beschränkt, sondern hat auch neuen Tatsachenvortrag zu berücksichtigen.
3. Der Streitgegenstand des Beschwerdeverfahrens darf entsprechend dem Zweck des Beschwerdeverfahrens indes nicht so weitgehend geändert werden, dass er nicht mehr mit dem des erstinstanzlichen Verfahrens identisch ist.
4. Die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO stellt eine Ermessensentscheidung dar, deren Rechtmäßigkeit sich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung durch das FG richtet.
5. Ergeht während des Beschwerdeverfahrens ein diesen Sachverhalt in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht verändernder Änderungsbescheid und entsteht nunmehr dadurch ein völlig neuer Streitpunkt, führt dies zu einer wesentlichen Änderung des Verfahrensgegenstandes.
6. Die teilweise Rücknahme einer Beschwerde ohne teilbaren Streitgegenstand ist unwirksam.
Normenkette
AO § 361 Abs. 2; FGO § 69 Abs. 2, § 72 Abs. 1 S. 1, §§ 74, 128 Abs. 1
Verfahrensgang
Sächsisches FG (Urteil vom 06.03.2007; Aktenzeichen 2 K 196/06) |
Tatbestand
I. Das Finanzgericht (FG) hat das Klageverfahren 2 K 196/06 wegen Einkommensteuer 1999 und gesonderter Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer zum 31. Dezember 1999 im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 6. September 2006 XI R 26/04 (BStBl II 2007, 167; Az. beim Bundesverfassungsgericht --BVerfG-- 2 BvL 59/06) wegen verfassungswidriger mangelnder Normenklarheit des § 2 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 (StEntlG 1999/2000/2002) auf Antrag des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) mit Beschluss vom 6. März 2007 2 K 196/06 ausgesetzt.
Der dagegen vom Kläger gleichwohl eingelegten Beschwerde hat das FG nicht abgeholfen.
Der Kläger begründete seine Beschwerde ursprünglich damit, er könne sich mit einem "Ruhen des Verfahrens" nur dann einverstanden erklären, wenn der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) die Aussetzung der Vollziehung (AdV) gewähre. Er werde letztlich rechtsschutzlos gestellt, wenn das FA während der Verfahrensaussetzung weiterhin vollstrecke.
Unter dem 14. Mai 2007 erließ das FA für das Streitjahr 1999 einen geänderten Einkommensteuerbescheid, in welchem die so genannte Mindestbesteuerung nach § 2 Abs. 3 Satz 2 EStG a.F. nicht mehr angewendet wird. Die Verluste der entsprechenden negativen Einkünfte sind nach Ansicht des FA --außer dem Verlust aus dem privaten Veräußerungsgeschäft gemäß § 23 Abs. 3 Satz 8 EStG-- vollständig ausgeglichen, so dass die Voraussetzungen gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht mehr vorlägen.
Der Kläger erwidert, die Änderung des Einkommensteuerbescheides sei zu Unrecht erfolgt, weil die Einkünfte aus Kapitalvermögen erhöht worden seien. Nunmehr werde erstmals über diese Frage gestritten. Hingegen trete die Frage der Mindestbesteuerung in den Hintergrund.
Die Beschwerde werde "insoweit" zurückgenommen.
Entscheidungsgründe
II. Das Verfahren ist nach wirksamer Rücknahme der Beschwerde durch den vertretenen Kläger entsprechend § 125 Abs. 1 FGO einzustellen.
1. Die Erklärung des Prozessvertreters im Schriftsatz vom 22. Mai 2007 bringt die Absicht des Klägers, das Rechtsmittel zurückzunehmen, hinreichend deutlich zum Ausdruck (vgl. zu diesem Erfordernis BFH‐Beschlüsse vom 17. Dezember 1998 III R 26/98, juris; vom 17. August 1995 VIII R 64/94, BFH/NV 1996, 218; vom 1. Juni 1995 VII R 13/95, BFH/NV 1996, 140).
Die Rücknahmeerklärung enthält zwar den Zusatz, die Beschwerde werde "insoweit" zurückgenommen. Der Senat versteht diesen Zusatz indes nicht als Einschränkung der Rücknahmeerklärung.
Ein Beschwerdeführer kann grundsätzlich seinen Antrag im Beschwerdeverfahren ändern. Das Beschwerdegericht ist nicht auf eine Nachprüfung in rechtlicher Hinsicht beschränkt. Es hat auch einen neuen Tatsachenvortrag zu berücksichtigen (BFH‐Beschluss vom 16. März 1995 VIII B 158/94, BFH/NV 1995, 680).
Jedoch darf dies nicht zu einer so wesentlichen Änderung führen, dass der Streitgegenstand des Beschwerdeverfahrens nicht mehr mit dem des erstinstanzlichen Verfahrens identisch ist; denn dann würde der auf Überprüfung einer bereits ergangenen Entscheidung des FG gerichtete Zweck des Beschwerdeverfahrens verfehlt (vgl. BFH‐Beschluss vom 23. August 1988 VII B 76/88, BFHE 154, 29, BStBl II 1988, 952).
Die Entscheidung über die AdV nach § 74 FGO stellt eine Ermessensentscheidung dar (vgl. z.B. BFH‐Urteil vom 14. Juli 1992 V R 91/85, BFH/NV 1995, 836), deren Rechtmäßigkeit sich nach dem im Zeitpunkt der Entscheidung durch das FG zu beurteilenden Sachverhalt richtet. Ergeht erst während des Beschwerdeverfahrens ein diesen Sachverhalt in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht verändernder Änderungsbescheid --wie im Streitfall-- und entsteht nunmehr dadurch ein völlig neuer Streitpunkt, so liegt eine wesentliche Änderung des Verfahrensgegenstandes vor.
Eine nur teilweise Rücknahme der Beschwerde wäre zudem mangels eines teilbaren Streitgegenstandes nicht nur unwirksam (vgl. BFH‐Urteile vom 9. Dezember 2003 VI R 148/01, BFH/NV 2004, 527; vom 16. Juli 1969 I R 81/66, BFHE 96, 510, BStBl II 1970, 15; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 72 Rz 13), sondern angesichts der vorstehend ausgeführten wesentlichen Änderung des Streitgegenstandes auch sinnlos.
Vor diesem Hintergrund wertet der Senat die Erklärung des vertretenen Klägers als umfassende und damit prozessual wirksame Rücknahme der Beschwerde.
2. Der Kläger wird in seinen Rechtschutzmöglichkeiten dadurch auch nicht unangemessen beschränkt; denn er kann zum einen die Aufhebung der Aussetzung des Verfahrens beantragen (BFH‐Beschluss vom 20. August 1999 V B 95/99, BFH/NV 2000, 213; Gräber/Koch, a.a.O., § 74 Rz 11), zum anderen kann er trotz rechtskräftig gewordener Ablehnung der ursprünglich beantragten AdV durch das FG bei einer wesentlichen Änderung des Sachverhaltes --hier durch eine vom Kläger behauptete Erhöhung der Einkünfte aus Kapitalvermögen durch den erst während des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ergangenen Einkommensteueränderungsbescheides für 1999-- gegebenenfalls einen erneuten Antrag auf AdV gemäß §§ 361 Abs. 2 der Abgabenordnung, 69 Abs. 2 FGO beim FA stellen.
Fundstellen
Haufe-Index 1779195 |
BFH/NV 2007, 1911 |