Leitsatz (amtlich)
1. Beantragt ein Steuerpflichtiger die Aussetzung der Vollziehung eines angefochtenen Steuerbescheids, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit bestehen, so darf das Gericht im Aussetzungsverfahren die streitigen Sach- und Rechtsfragen nur darauf prüfen, ob mit einiger Wahrscheinlichkeit wichtige Gründe gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheids sprechen. Es darf aber im Aussetzungsverfahren nicht abschließend entscheiden.
2. Das Gericht kann einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stattgeben, wenn die Gesetzeslage unklar ist, die streitige Rechtsfrage vom Bundesfinanzhof noch nicht entschieden ist, im Schrifttum Bedenken gegen die Rechtsauslegung des Finanzamts erhoben werden und die Finanzverwaltung die Zweifelsfrage in der Vergangenheit nicht einheitlich beurteilt hat.
2. Es ist bei summarischer Prüfung ernstlich zweifelhaft, ob im Lohnsummensteuer-Meßbescheid die Arbeitnehmerfreibeträge nach § 19 Abs. 2 EStG von der Lohnsumme abgezogen werden dürfen.
Normenkette
FGO § 69; GewStG 1965 §§ 23-24; EStG 1965 § 19 Abs. 2
Tatbestand
Die steuerpflichtige KG beschäftigte im Streitjahr 1966 148 Arbeitnehmer. Sie verlangte, bei der Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrags nach der Lohnsumme (§§ 23 ff. GewStG) die Summe der an die Arbeitnehmer gezahlten Vergütungen um 35 280 DM für die den Arbeitnehmern zustehenden Freibeträge nach § 19 Abs. 2 EStG zu kürzen, weil diese Freibeträge nicht zur Lohnsumme gehörten. Das FA lehnte die beantragte Kürzung ab. Die Stpfl. hat gegen den Lohnsummensteuermeßbescheid des FA Sprungklage erhoben, über die das FG noch nicht entschieden hat.
In dem vorliegenden Verfahren beantragte die Stpfl., die Vollziehung des angefochtenen Meßbescheids in Höhe von 2 v. Tausend von 35 280 DM = 70,56 DM auszusetzen. Das FG gab dem Antrag der Stpfl. statt: der Beschluß ist in EFG 1967, 524 veröffentlicht. Nach der Ansicht des FG bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Lohnsummensteuermeßbescheids. Das FG führt aus, die Abzugsfähigkeit der Arbeitnehmerfreibeträge sei bestritten. Die Finanzverwaltung lasse zwar seit einiger Zeit den Abzug der Freibeträge allgemein nicht mehr zu. Einige Länder hätten jedoch ursprünglich die gegenteilige Ansicht vertreten, z. B. die OFD Hamburg, die in ihrer Verfügung vom 12. September 1966 zunächst die Abzugsfähigkeit der Arbeitnehmerfreibeträge bejaht habe. Die SPD-Fraktion habe am 13. Juni 1967 einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, durch den die zweifelhafte Rechtslage geklärt werden solle. Die Rechtsansicht des FA entspreche im übrigen nicht dem geltenden Recht. Zu den lohnsteuerfreien Vergütungen gehörten nicht nur der Weihnachtsfreibetrag, die Heiratsbeihilfen, Geburtsbeihilfen, Jubiläumsgeschenke usw., sondern auch der Arbeitnehmerfreibetrag nach § 19 Abs. 2 EStG. Bei der Ermittlung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit werde der Arbeitnehmerfreibetrag wie der Weihnachtsfreibetrag vorweg als steuerfrei abgezogen. Beide Freibeträge seien im Abschn. II des EStG enthalten, der mit dem Wort "Einkommen" überschrieben sei. Der Arbeitnehmerfreibetrag sei keine auf die Lohnsteuer beschränkte Tarifvorschrift. Der Gesetzgeber habe bei der Einführung des Arbeitnehmerfreibetrages im EStG 1965 nur übersehen, den § 24 Abs. 2 GewStG, der auf § 19 Nr. 1 EStG Bezug nimmt, entsprechend zu ändern.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Beschwerde des FA ist unbegründet.
Streitig ist in dem beim FG anhängigen Hauptverfahren, ob der angefochtene Lohnsummensteuermeßbescheid 1966 rechtswidrig ist, weil das FA die den Arbeitnehmern nach § 19 Abs. 2 EStG 1965 zustehenden Freibeträge bei der Berechnung der Lohnsumme nicht zum Abzug zugelassen hat. Das FG hat in dem angefochtenen Beschluß ausgeführt, es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids. In dem Beschluß hat es aber zugleich mit eingehender Begründung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids bejaht. Eine solche Entscheidung durfte das FG im Aussetzungsverfahren nicht erlassen. Wie der Senat in den Beschlüssen VI S 2/66 vom 15. Februar 1967 (BFH 87, 602, BStBl III 1967, 256) und VI B 53/66 vom 8. März 1967 (BFH 88, 537, BStBl III 1967, 469) ausgeführt hat, ist das Aussetzungsverfahren ein selbständiges Verfahren neben dem Hauptverfahren. Es ist nach eigenen prozessualen Regeln abzuwickeln und ist nach Ziel und Inhalt vom Hauptverfahren verschieden. Begehrt ein Steuerpflichtiger, wie im Streitfall, die Änderung eines Steuerbescheids, so muß das Gericht im Hauptverfahren entscheiden, ob der Steuerbescheid rechtswidrig und der Steuerpflichtige durch den Steuerbescheid in seinen Rechten verletzt ist (§§ 40, 100 FGO). Im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung soll dem Steuerpflichtigen nur ein vorläufiger Rechtsschutz vor Zwangsmaßnahmen der Verwaltung gewährt werden, bis das Gericht über die Hauptsache entschieden hat. Die Aussetzung der Vollziehung ist auf Antrag des Steuerpflichtigen anzuordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheids bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (§ 69 Abs. 3 Satz 1 FGO i. V. m. Abs. 2 Satz 2). Das Aussetzungsverfahren ist ein summarisches Verfahren. Zweifel rechtlicher oder tatsächlicher Art können in diesem Verfahren nicht abschließend geklärt werden, da das Gericht sonst der Entscheidung im Hauptverfahren vorgreifen würde. Dies ist schon deshalb unzulässig, weil das Gericht bei der Entscheidung in der Hauptsache, die im Urteilsverfahren ergeht, anders besetzt sein muß als bei einer Entscheidung im Aussetzungsverfahren, die im Beschlußverfahren erlassen wird (§§ 4 Abs. 3, 10 Abs. 3, 16, 69 Abs. 3, 113 FGO). Kulla vertritt die Ansicht (Der Betrieb 1967 S. 1287), im Aussetzungsverfahren solle dem Steuerpflichtigen eine Art "Vorentscheidung" über seinen anhängigen Rechtsstreit gegeben werden, damit er sich an Hand der rechtlichen Begründung des Beschlusses im Aussetzungsverfahren überlegen könne, welche Gesichtspunkte bei der Entscheidung in der Hauptsache voraussichtlich eine Rolle spielen würden und ob es nicht zweckmäßiger sei, das Rechtsmittel zurückzunehmen. Diese Auffassung verkennt den Sinn und Zweck des Aussetzungsverfahrens. In jedem Rechtsstreit nehmen die Beteiligten die Gefahr auf sich, daß ein Urteil zu ihren Ungunsten ergeht. Das Prozeßrisiko kann und darf das Gericht den Beteiligten nicht dadurch abnehmen, daß es im Aussetzungsverfahren schon mehr oder weniger endgültig die Entscheidung im Hauptverfahren vorwegnimmt.
Wenn unter diesen rechtlichen Gesichtspunkten auch Bedenken gegen den Beschluß des FG bestehen mögen, so konnte das FG doch ohne Rechtsverstoß annehmen, daß gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Lohnsummensteuermeßbescheids ernstliche Zweifel bestünden. Die Behandlung der Arbeitnehmerfreibeträge bei der Anwendung des § 19 Abs. 2 EStG ist nicht ausdrücklich geregelt. Der BFH hat zu dieser Frage noch nicht Stellung genommen. Er hat zwar im Urteil I 262/54 U vom 28. Februar 1956 (BFH 62, 350, BStBl III 1956, 130) ausgeführt, daß die in der Lohnsteuertabelle eingearbeiteten Freibeträge nach dem Familienstand und Pauschbeträge für Werbungskosten und Sonderausgaben sowie die auf den Lohnsteuerkarten der Arbeitnehmer nach § 41 EStG 1951 (jetzt § 40 EStG 1965) besonders eingetragenen Freibeträge für erhöhte Werbungskosten und Sonderausgaben sowie für außergewöhnliche Belastungen nicht zur Kürzung der steuerpflichtigen Lohnsumme berechtigen. Maßgebend war für den BFH damals die Überlegung, daß in diesen Fällen nicht ein Teil des Bruttoarbeitslohns sachlich von der Lohnsteuer befreit ist, sondern daß nur zur Steuerberechnung ziffernmäßig bestimmte Beträge unberücksichtigt bleiben sollen. Das FG hat zutreffend dargelegt, daß das Schrifttum teilweise in den Arbeitnehmerfreibeträgen keine derartige Tarifvergünstigung und keine "bloße Steuerberechnungsmodalität" sieht, sondern einen lohnsteuerbefreiten Teil des Arbeitslohns (z. B. Meyer-Arndt, Der Betrieb 1967 S. 875; Hoven, Kommunale Steuer-Zeitschrift 1967 S. 54; Thiele, Neue Wirtschafts-Briefe Fach 5, S. 677 und Heyde, Der Betriebs-Berater 1967 S. 712; a. A. Loberg, Kommunale Steuer-Zeitschrift 1967 S. 9 u. a. ). Auch die Finanzverwaltung hat diese Rechtsfrage ursprünglich verschieden beurteilt. Unter diesen Umständen konnte das FG, solange die Frage in der Rechtsprechung nicht geklärt ist, im summarischen Aussetzungsverfahren annehmen, daß es ernstlich zweifelhaft sei, ob der angefochtene Lohnsummensteuermeßbescheid, der diesen Abzug nicht zuließ, rechtmäßig war.
Fundstellen
Haufe-Index 412770 |
BStBl II 1968, 37 |
BFHE 1968, 253 |