AdV zur neuen Grundsteuer im sogenannten Bundesmodell

Die Bewertungsvorschriften der §§ 218 ff. BewG i.d.F. des Grundsteuer-Reformgesetzes vom 26.11.2019 (BGBl I 2019, 1794) sind bei der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung verfassungskonform dahin auszulegen, dass auf der Ebene der Grundsteuerwertfeststellung im Einzelfall der Nachweis eines niedrigeren (gemeinen) Werts erfolgen kann.

Hierfür ist regelmäßig der Nachweis erforderlich, dass der Wert der wirtschaftlichen Einheit den festgestellten Grundsteuerwert derart unterschreitet, dass sich der festgestellte Wert als erheblich über das normale Maß hinausgehend erweist.

Hintergrund: Feststellung des Grundsteuerwerts nach den Vorschriften des BewG

Nach den Regelungen des BewG im sog. Bundesmodell, das in zahlreichen Bundesländern Anwendung findet, wird die Bemessungsgrundlage für die Grundsteuer, die ab dem 1. 1. 2025 von den Gemeinden erhoben werden wird, ganz wesentlich durch die Feststellung des Grundsteuerwerts auf den 1.1.2022 beeinflusst. Die Wertfeststellung erfolgt durch einen eigenständigen Grundlagenbescheid, sodass Einwände gegen die Höhe der Bemessungsgrundlage der ab 2025 zu erhebenden Grundsteuer insofern nur gegen diese Grundsteuerwertbescheide vorgebracht werden können.

Der BFH hat nun in 2 inhaltsgleichen AdV-Beschlüssen – Az. II B 78/23 (AdV) und II B 79/23 (AdV) – zu der Frage Stellung genommen, ob die Möglichkeit besteht, dass Steuerpflichtige einen unter dem festgestellten Grundsteuerwert liegenden Wert ihres Grundstücks nachweisen können.

Sachverhalt Beschluss II B 78/23 (AdV)

Die Antragstellerin ist Eigentümerin eines mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks. Der Bodenrichtwert für das 351 qm große und mit einem Einfamilienhaus bebaute Grundstück betrug zum 1.1.2022 125 EUR pro qm.

In ihrer Erklärung zur Feststellung des Grundsteuerwerts gab die Antragstellerin als Art des Grundstücks "Einfamilienhaus" an, das erstmals vor 1949 bezugsfertig gewesen sei und über eine Wohnung mit einer Wohnfläche von 72 qm verfüge.

Mit Bescheid vom 28.12.2022 stellte der Antragsgegner und Beschwerdeführer (Finanzamt ‑FA‑) den Grundsteuerwert der wirtschaftlichen Einheit zum 1.1.2022 auf 91.600 EUR fest. Diesen Betrag ermittelte das FA gemäß § 250 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1, § 252 Satz 1, § 230 BewG aus der Summe des kapitalisierten Reinertrags des Grundstücks und des abgezinsten Bodenwerts.

Gegen den Bescheid vom 28.12.2022 legte die Antragstellerin Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV). Den Antrag auf AdV lehnte das FA ab. Den gegen die Ablehnung der AdV eingelegten Einspruch wies es mit Einspruchsentscheidung als unbegründet zurück, da der festgestellte Grundsteuerwert und der Grundsteuermessbetrag zutreffend nach den gesetzlichen Regelungen ermittelt worden seien. Bei der Bewertung für Grundsteuerzwecke handele es sich um eine typisierte Bewertung, die keine individuelle Verkehrswertermittlung in Bezug auf das Objekt darstelle.

FG hat die Vollziehung des Grundsteuerwertbescheids ausgesetzt

Die Antragstellerin stellte daraufhin einen Antrag auf AdV beim Finanzgericht (FG), den sie im Wesentlichen damit begründete, dass seit dem Baujahr des Einfamilienhauses im Jahr 1880 keine wesentlichen Renovierungen vorgenommen worden seien. Der festgestellte Grundsteuerwert sei daher gemessen am Wert des Hauses zu hoch.

Das FG Rheinland-Pfalz hat mit Beschluss vom 23.11.2023 (4 V 1295/23) die Vollziehung des Grundsteuerwertbescheids ausgesetzt und die Beschwerde gegen seine Entscheidung zugelassen, die vom FA auch eingelegt wurde.

Entscheidung: BFH hält die Beschwerde des Finanzamts für unbegründet

Der BFH hat entschieden, dass die Beschwerde des FA unbegründet ist. Zu Recht hat das FG den angefochtenen Feststellungsbescheid über den Grundsteuerwert von der Vollziehung ausgesetzt, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Hierzu führen die Richter u.a. Folgendes aus:

  • Der BFH hat einfachrechtliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 28.12.2022 in Bezug auf die Höhe des festgestellten Grundsteuerwerts. Die Zweifel ergeben sich daraus, dass dem Steuerpflichtigen bei verfassungskonformer Auslegung der Bewertungsvorschriften die Möglichkeit eingeräumt werden muss, bei einer Verletzung des Übermaßverbots einen niedrigeren gemeinen Wert nachzuweisen.
  • Bei der Neuregelung der Grundsteuer hat der Gesetzgeber allein an das Innehaben von Grundbesitz und die damit verbundene (abstrakte) Leistungskraft angeknüpft, ohne dass es auf die persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen, die Ausdruck seiner subjektiven Leistungsfähigkeit sein können, ankommt. Belastungsgrund ist nach der gesetzgeberischen Vorstellung die durch den Grundbesitz vermittelte Möglichkeit einer ertragsbringenden Nutzung, die sich im Sollertrag widerspiegelt und eine objektive Leistungsfähigkeit vermittelt (BT-Drs. 19/11085, S. 84).
  • Eine dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügende und das daraus folgende Übermaßverbot beachtende Besteuerung ist wegen dieser Belastungsgrundentscheidung des Gesetzgebers daher grundsätzlich nur dann gewährleistet, wenn sich das Gesetz auf der Bewertungsebene am gemeinen Wert als dem maßgeblichen Bewertungsziel orientiert und den Sollertrag mittels einer verkehrswertorientierten Bemessungsgrundlage bestimmt (vgl. auch BT-Drs. 19/11085, S. 90).
  • Soweit sich im Einzelfall ein Unterschied zwischen dem gemäß §§ 218 ff. BewG ermittelten Wert und dem gemeinen Wert ergibt, ist dies aufgrund der typisierenden und pauschalierenden Wertermittlung des Bewertungsgesetzes, die notwendigerweise mit Ungenauigkeiten verbunden ist, grundsätzlich hinzunehmen.
  • Verfassungsgemäß ist solch eine typisierende Regelung aber nur solange, wie ein Verstoß gegen das Übermaßverbot im Einzelfall entweder durch verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift oder durch eine Billigkeitsmaßnahme abgewendet werden kann.
  • Das Übermaßverbot kann insbesondere dann verletzt sein, wenn sich der festgestellte Wert als erheblich über das normale Maß hinausgehend erweist. Nach der bisherigen Rechtsprechung setzt dies regelmäßig voraus, dass der vom FA festgestellte Wert den nachgewiesenen niedrigeren gemeinen Wert um 40 % oder mehr übersteigt.
  • Der BFH hat zu verschiedenen typisierenden Bewertungsnormen entschieden, dass bei Ausschluss von Billigkeitsmaßnahmen in verfassungskonformer Auslegung der betreffenden Vorschriften der Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das grundgesetzliche Übermaßverbot zuzulassen ist, wenn der Gesetzgeber einen solchen Nachweis nicht ausdrücklich geregelt hat.
  • Besteht die Möglichkeit einer solchen verfassungskonformen Auslegung, sind die pauschalierenden und typisierenden Bewertungsvorschriften nicht verfassungswidrig. Vielmehr ist dem Einwand möglicher verfassungswidriger Überbewertungen durch Anwendung dieser Vorschriften grundsätzlich der Boden entzogen.
  • Diese Rechtsprechungsgrundsätze sind bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen und zugleich ausreichenden summarischen Prüfung auf die Bewertung nach dem Siebenten Abschnitt des Bewertungsgesetzes, die eine abweichende Wertfeststellung aus Billigkeitsgründen nicht vorsieht (vgl. § 220 Satz 2 BewG), zu übertragen, sodass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung im konkreten Einzelfall der Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts in verfassungskonformer Auslegung der §§ 218 ff. BewG im Hauptsacheverfahren gelingt.
  • Vor diesem Hintergrund erscheint es bei summarischer Prüfung im Streitfall zumindest möglich, dass der im angefochtenen Grundsteuerwertbescheid nach dem typisierten Bewertungsverfahren festgestellte Wert erheblich von dem gemeinen Wert der wirtschaftlichen Einheit abweicht und ein entsprechender Nachweis dieser Abweichung – beispielsweise durch ein Sachverständigengutachten – geführt werden kann.

Hinweis: Keine abschließende Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit

Da nach den oben dargestellten Grundsätzen bereits ernstliche Zweifel an der einfach-rechtlichen Rechtmäßigkeit des angefochtenen Feststellungsbescheids im konkreten Einzelfall bestehen, musste der BFH im vorliegenden Verfahren nicht mehr zu prüfen, ob die AdV auch wegen der vom FG geäußerten weiteren verfassungsrechtlichen Zweifel an der Gültigkeit der dem Bescheid zugrunde liegenden Bewertungsvorschriften zu gewähren ist. Eine abschließende Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des neuen Bewertungsrechts ist damit nicht verbunden.

BFH, Beschlüsse v. 27.5.2024, II B 78/23 (AdV) sowie inhaltsgleicher Beschluss II B 79/23 (AdV); beide veröffentlicht am 13.6.2024

Alle am 13.6.2024 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen