Entscheidungsstichwort (Thema)
Bindung des BFH an die Weitergeltungsanordnung einer mit der Verfassung unvereinbaren Vorschrift durch das BVerfG; kein Leistungsanspruch aufgrund von Art. 8 und 14 EMRK
Leitsatz (NV)
1. Hat das BVerfG in seiner Entscheidungsformel ein Gesetz - hier steuerrechtliche Vorschriften zur steuermindernden Berücksichtigung von kindbedingten Betreuungskosten und Haushaltsfreibeträgen für Alleinstehende - für unvereinbar mit der Verfassung erklärt, aber dessen befristete Weitergeltung angeordnet, ist der BFH an diese Entscheidung gebunden.
2. Ehepaare können nicht unter Berufung auf die in Art. 8 und 14 EMRK verankerten Menschenrechte erreichen, dass ihnen die für unvereinbar mit der Verfassung erklärten steuerlichen Vergünstigungen für Alleinstehende ebenfalls zugesprochen werden.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6, 59; BVerfGG § 13 Nr. 8a, § 31 Abs. 1; EMRK Art. 8, 14; EStG § 32 Abs. 3-4, 7, §§ 33c, 32 Abs. 6; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
FG München (Urteil vom 26.01.2005; Aktenzeichen 9 K 317/03) |
Tatbestand
I. Die zur Einkommensteuer zusammen veranlagten Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) machten in den Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre 1993 bis 2000 für ihre vier während dieses Zeitraums geborenen Kinder Kosten für kindbedingten Erziehungs- und Betreuungsbedarf geltend.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte die Aufwendungen in den Einkommensteuerbescheiden 1993 bis 1999 nicht, da nach § 33c des Einkommensteuergesetzes (EStG) nur Alleinstehende Betreuungsaufwendungen in bestimmtem Umfang als außergewöhnliche Belastung abziehen konnten. Im Einkommensteuerbescheid 2000 berücksichtigte das FA die Betreuungsaufwendungen nur in Höhe des Betreuungsfreibetrags nach § 32 Abs. 6 EStG i.d.F. ab 2000 in Höhe von 3 024 DM je Kind. Die Einsprüche waren erfolglos.
Mit der Klage beantragten die Kläger, den Erziehungs- und Betreuungsbedarf für 1993 in Höhe von 10 000 DM, für 1994 bis 1996 jeweils in Höhe von 18 000 DM, für 1997 und 1998 jeweils in Höhe von 26 000 DM sowie für 1999 und 2000 jeweils in Höhe von 34 000 DM steuermindernd zu berücksichtigen. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde berufen sich die Kläger auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Die bisher gewährten Kinder- und Betreuungsfreibeträge genügten nicht den Vorgaben der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK).
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe in seinem Beschluss vom 10. November 1998 2 BvR 1057/91 u.a. (BStBl II 1999, 182) die auf Alleinstehende beschränkte Abzugsmöglichkeit für Kinderbetreuungskosten und den entsprechend gewährten Haushaltsfreibetrag für verfassungswidrig und unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) erklärt. Zwar habe das BVerfG die entsprechenden gesetzlichen Regelungen nicht für nichtig befunden, sondern die verfassungswidrigen einkommensteuerrechtlichen Vorschriften bis zu einer verfassungskonformen gesetzlichen Neuregelung vorübergehend weiterhin für anwendbar erklärt.
Diese Vorgehensweise verletze die in Art. 8 EMRK (Schutz des Privat- und Familienlebens) und Art. 14 EMRK (Allgemeines Diskriminierungsverbot) verankerten Menschenrechte. Die Unterscheidung in der Besteuerung von Ehepaaren und alleinerziehenden Elternteilen verstoße jedenfalls gegen Art. 8 und Art. 14 EMRK. Diese Menschenrechte seien von allen Gerichten und Behörden der Vertragsstaaten als vorrangig geltendes Völkerrecht zu beachten und zu prüfen. Es sei bislang ungeklärt, ob die vom BVerfG aus fiskalischen Erwägungen getroffene Weitergeltungsanordnung verfassungswidriger Vorschriften, die nach § 31 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) Gesetzeskraft habe, mit den in der EMRK enthaltenen Vorgaben vereinbar sei.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und wird daher zurückgewiesen (§ 132 FGO).
Die von den Klägern aufgeworfene Rechtsfrage ist nicht grundsätzlich bedeutsam i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, weil es an der Klärungsbedürftigkeit fehlt. Denn die Rechtsfrage lässt sich eindeutig aus den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften beantworten (vgl. Senatsbeschluss vom 25. Januar 2002 III B 127/01, BFH/NV 2002, 645, m.w.N.).
1. Nach § 31 Abs. 1 BVerfGG binden die Entscheidungen des BVerfG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Wenn das BVerfG im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde ein Gesetz als mit dem GG vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt, hat die Entscheidung Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 13 Nr. 8a BVerfGG).
Das BVerfG hat in seiner im BGBl I 1999, 143 veröffentlichten Entscheidungsformel § 33c Abs. 1 bis 4 EStG, der nur für Alleinstehende den Abzug von Kinderbetreuungskosten vorsah, sowie § 32 Abs. 3 und 4 EStG a.F. und § 32 Abs. 7 EStG a.F., der nur Alleinstehenden einen Haushaltsfreibetrag zubilligte, für unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG erklärt, soweit in ehelicher Gemeinschaft lebende, unbeschränkt steuerpflichtige Eltern vom Abzug der Kinderbetreuungskosten und von der Gewährung des Haushaltsfreibetrages ausgeschlossen seien. Es hat den Gesetzgeber verpflichtet, spätestens bis zum 1. Januar 2000 den Abzug der Kinderbetreuungskosten und spätestens bis zum 1. Januar 2002 die Vorschriften über den Haushaltsfreibetrag neu zu regeln. Bis zu diesen Zeitpunkten blieben die bisherigen gesetzlichen Regelungen weiter anwendbar.
An diese Entscheidung des BVerfG ist der beschließende Senat nach § 31 BVerfGG in vollem Umfang gebunden.
2. Gegen die vom BVerfG angeordnete, befristete Weitergeltung der für unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG erklärten Vorschriften bestehen auch keine Bedenken im Hinblick auf die in Art. 8 und 14 EMRK verankerten Menschenrechte.
Die EMRK hat als völkerrechtlicher Vertrag, der durch das Zustimmungsgesetz nach Art. 59 GG in deutsches Recht transformiert wurde, den Rang eines einfachen Bundesgesetzes und ist insofern für Gerichte und Behörden der Vertragsstaaten gleichermaßen verbindlich wie eine Entscheidung des BVerfG nach § 31 BVerfGG (vgl. März in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl., Art. 31 Rdnr. 33).
Die in der EMRK enthaltenen Menschenrechte verkörpern einen sog. Mindeststandard, den die in der Verfassung verankerten Grundrechte in Umfang und inhaltlicher Reichweite teilweise weit übertreffen (vgl. Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, 3. Aufl. 1989, S. 29, 30, und Sommermann in v. Mangoldt/Klein/Starck, a.a.O., Art. 20 Abs. 1 Rdnr. 94, m.w.N.). Bei der Auslegung der in der Verfassung garantierten Grundrechte zieht das BVerfG die in der EMRK enthaltenen Menschenrechte zudem mit heran (vgl. Sommermann in v. Mangoldt/ Klein/Starck, a.a.O., Art. 20 Abs. 1 Rdnr. 136, und Bleckmann, a.a.O., S. 44, m.w.N.).
Jedoch verpflichtet die EMRK die Vertragsstaaten nicht zu einer bestimmten Gesetzgebung (vgl. Bleckmann, a.a.O., S. 42), sondern dient in erster Linie zur Abwehr und zum Schutz gegen Eingriffe des Staates. Ansprüche auf Leistungen des Staates werden durch die Menschenrechte der EMRK nicht begründet (vgl. Wildhaber in Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 8 Rz. 136, kein Anspruch auf "Familienzulagen"). Die Kläger könnten bei der von ihnen angenommenen Verletzung der EMRK somit von vorneherein ihr eigentliches Klageziel --nämlich die im EStG in den Streitjahren nicht vorgesehene steuermindernde Berücksichtigung von kindbedingten Betreuungskosten und Haushaltsfreibeträgen für Ehepaare-- nicht erreichen.
3. Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EuGHMR) führt zu keinem abweichenden Ergebnis.
a) Zwar hat der EuGHMR auf eine Individualbeschwerde in der Rechtssache Okpisz gegen Deutschland Nr. 59140/00 in seinem Urteil vom 25. Oktober 2005 den Klägern, denen Kindergeld unter Verletzung von Art. 8 und Art. 14 EMRK versagt worden war, Schadensersatz in Höhe des nicht ausbezahlten Kindergeldes nebst Zinsen zugesprochen. Hintergrund war die Entscheidung des BVerfG vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97 (BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114), nach der § 1 Abs. 3 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in der von Januar 1994 bis Dezember 1995 geltenden Fassung gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Das BVerfG hatte den Gesetzgeber aufgefordert, bis zum 1. Januar 2006 eine verfassungskonforme gesetzliche Neuregelung zu treffen. Sollte der Gesetzgeber dieser Aufforderung nicht nachkommen, sei die verfassungsrechtlich unbedenkliche bis 1993 geltende Regelung auch für die noch offenen Fälle betreffend die Jahre 1994 und 1995 anzuwenden. Der EuGHMR nahm unter Berufung auf diese Entscheidung des BVerfG an, § 1 Abs. 3 BKGG verletze auch Art. 8 und Art. 14 EMRK.
b) Der dem Streitfall zugrunde liegende Sachverhalt ist aber insofern nicht vergleichbar, als hier die vom BVerfG ausgesprochene befristete Weitergeltungsanordnung für die Streitjahre endgültig war, und dem Gesetzgeber nur aufgegeben wurde, ab dem Jahr 2000 bzw. 2002 eine verfassungskonforme Regelung zu treffen. Dagegen hat das BVerfG in seiner Entscheidung in BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114 den Gesetzgeber aufgefordert, den verfassungswidrigen § 1 Abs. 3 BKGG durch eine für alle noch offenen Fälle rückwirkende Neuregelung zu ersetzen. Die vom EuGHMR aufgestellten Rechtsgrundsätze zu der Verletzung von Art. 8 und Art. 14 EMRK sind daher nicht auf den Streitfall übertragbar.
Fundstellen
Haufe-Index 1503736 |
BFH/NV 2006, 1297 |