Entscheidungsstichwort (Thema)
Befangenheit des Richters wegen Stellungnahme zum materiell-rechtlichen Streitstand
Leitsatz (NV)
1. Ein Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters kann nicht daraus hergeleitet werden, daß sich dieser eine Meinung über die Rechtslage und den Verfahrensausgang gebildet hat und diese Meinung äußert (vgl. BFH-Beschluß vom 5. März 1971 VI B 64/70, BFHE 102, 10, BStBl II 1971, 527).
2. Aus der Pflicht des Gerichts zur Prozeßförderung ergibt sich ein Recht des Richters, gegenüber den Beteiligten eine vorläufige Meinung über den zu erwartenden Prozeßausgang zu äußern.
3. Eine parteiische vorzeitige Festlegung des Richters kann im Regelfall nicht angenommen werden, wenn der Richter vorsorglich eine Frist für weiteres Vorbringen setzt (vgl. BFH-Beschluß vom 27. September 1994 VIII B 64--76/94, BFH/NV 1995, 526).
4. Den richterlichen Meinungsbekundungen müssen nicht stets und ausnahmslos ausdrückliche salvatorische Klauseln etwa des Inhalts beigefügt werden, die Entscheidung des Spruchkörpers oder eine eigene bessere Rechtserkenntnis bleibe vorbehalten.
5. Die Äußerung des Richters, die Rechtsauffassung des FA "dürfte zweifelsfrei zutreffen", rechtfertigt für sich allein nicht die Richterablehnung.
Normenkette
FGO § 51; ZPO §§ 43, 279 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) an eine gemeinnützige Stiftung Spenden (§ 10 b des Einkommensteuergesetzes) dadurch geleistet hat, daß seine Forderungen aus einer Vereinbarung über die gelegentliche Nutzung eines oder zweier Räume in seiner Wohnung für Zwecke der Stiftung und auf Auslagenersatz wegen Benutzung eines PKW und Verauslagung von Telefonkosten gegen ein Spendenversprechen aufgerechnet worden sind. Der Kläger war in den Streitjahren als ehrenamtliches Vorstandsmitglied dieser Stiftung tätig. Die Vorstandsmitglieder haben nach der Satzung Anspruch auf "Ersatz ihrer baren Auslagen".
Im Klageverfahren hat der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) die Auffassung vertreten, die von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs -- BFH -- (Urteil vom 29. November 1989 X R 154/88, BFHE 159, 327, BStBl II 1990, 570) geforderten Voraussetzungen für die Abziehbarkeit von Sachspenden lägen hier nicht vor. Soweit dem Grunde nach Spenden in Betracht kämen, sei die Höhe der Aufwendungen nicht nachgewiesen. Mangels hinreichender konkreter Anhaltspunkte sei eine Schätzung der abziehbaren Beträge nicht möglich.
Unter dem 9. Februar 1995 forderte die Berichterstatterin des Finanzgerichts (FG) den Prozeßbevollmächtigten der Kläger auf, dieser möge insbesondere dazu Stellung nehmen,
"daß steuerlich berücksichtigungsfähig nur solche Beträge sind, die -- unabhängig vom Verzicht des Klägers auf ihre Geltendmachung -- nach der Stiftungssatzung erstattungsfähig sind. Da die Satzung nur bare Auslagen zur Erstattung zuläßt, dürfte die Rechtsauffassung des Beklagten zweifelsfrei zutreffen."
Daraufhin lehnten die Kläger die Berichterstatterin als befangen ab. Es sei zu befürchten, daß diese die Ausführungen der Kläger nicht mehr unbefangen prüfen werde, weil sie sich bereits eine abschließende Meinung gebildet habe. Die Verwendung des Wortes "zweifelsfrei" deute darauf hin, daß die Berichterstatterin eine andere Rechtsauffassung nicht mehr für diskutabel halte.
Das FG hat den Befangenheitsantrag als unbegründet abgelehnt. Mit der Beschwerde verfolgen die Kläger ihr Ziel einer Richterablehnung weiter. Sie tragen u. a. vor: Die Endgültigkeit der hier beanstandeten Aussage der Berichterstatterin werde -- insbesondere in Anbetracht der Satzstellung -- weder durch die Verwendung des Wortes "dürfte" noch dadurch ausgeräumt, daß die Richterin zu einer Stellungnahme aufgefordert habe. Erschwerend komme hinzu, daß es sich bei den geltend gemachten Fahrt- und Telefonkosten um bare Auslagen handele. In der Verfügung der Berichterstatterin werde noch nicht einmal angedeutet, warum die Rechtsauffassung des FA auch insoweit "zweifelsfrei zutreffen dürfte". Überdies hätten sie, die Kläger, sich bereits in der Klagebegründung zu allen Fragen geäußert, zu denen sie nach der Verfügung Stellung nehmen sollten. Es dränge sich nunmehr der Eindruck auf, daß die Berichterstatterin in ihrer Meinungsbildung so festgelegt sei, daß sie eine ihrer Meinung entgegenstehende Äußerung nicht mehr wertend zur Kenntnis nehme. Im gerichtlichen Hinweis fehle die rechtlich gebotene Einschränkung, eine anderweitige Entscheidung des Gerichts sei nicht ausgeschlossen.
Entscheidungsgründe
Der Beschwerde bleibt der Erfolg versagt, weil das FG das Ablehnungsgesuch im Ergebnis zutreffend als unbegründet zurückgewiesen hat.
1. Das FG hat die Frage unerörtert gelassen, ob die Kläger das Recht zur Befangenheitsrüge gemäß § 51 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i. V. m. § 43 der Zivilprozeßordnung (ZPO) deshalb verloren haben könnten, weil sie sich mit dem nach dem Akteninhalt zuerst beim FG eingegangenen Schriftsatz vom 14. März 1995 auf das Schreiben der Berichterstatterin zur Sache eingelassen haben, ohne die Befangenheit zu rügen. Da jedoch die Kläger Einwände dagegen erheben, daß die Aktenführung durch die Vorinstanz den Eingang und die Bearbeitung der Schriftsätze zuverlässig wiedergibt, bedürfte es insoweit weiterer Ermittlungen, die auch der erkennende Senat nicht für entscheidungserheblich hält.
2. Ein Richter kann wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen (§ 42 Abs. 1 und 2 ZPO i. V. m. § 51 Abs. 1 FGO). Dabei kommt es nach ständiger Rechtsprechung darauf an, ob der betroffene Beteiligte von seinem Standpunkt aus bei vernünftiger objektiver Betrachtung Anlaß hat, Voreingenommenheit zu befürchten (BFH-Beschluß vom 4. Juli 1985 V B 3/85, BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555). Das Verfahren der Richterablehnung soll die Verfahrensbeteiligten nicht gegen unrichtige Rechtsansichten des Richters schützen.
Zweifel an der Unparteilichkeit der Berichterstatterin sind hier nicht begründet, weil diese von den ihr kraft Gesetzes zustehenden Befugnissen in noch vertretbarer Weise und in einem dem Gesetzeszweck entsprechenden Maße Gebrauch gemacht hat (vgl. BFH-Beschluß vom 27. September 1994 VIII B 64--76/94, BFH/NV 1995, 526, m. w. N. der Rechtsprechung).
a) Ein Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters kann insbesondere nicht daraus hergeleitet werden, daß sich dieser eine Meinung über die Rechtslage und den Verfahrensausgang gebildet hat (vgl. dazu auch Senatsbeschluß vom 17. Mai 1995 X R 55/94, BFHE 177, 344, BStBl II 1995, 604) und diese Meinung äußert (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Januar 1955 1 BvR 522/53, BVerfGE 4, 143, 144; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Februar 1982 1 D 2/81, BVerwGE 73, 339, 346 f.; BFH-Beschluß vom 5. März 1971 VI B 64/70, BFHE 102, 10, BStBl II 1971, 527, seither ständige Rechtsprechung).
Aus der Pflicht des Gerichts zur Prozeßförderung ergibt sich ein Recht des Richters, gegenüber den Beteiligten eine vorläufige Meinung über den zu erwartenden Prozeßausgang zu äußern (vgl. BFH-Beschlüsse in BFHE 102, 10, BStBl II 1971, 527; in BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555, unter II. 3. c; vom 24. Mai 1993 V B 121/92, BFH/NV 1994, 482; vom 19. April 1994 IV B 33/94, BFH/NV 1995, 123; Vollkommer in Zöller, Zivilprozeßordnung, 19. Aufl. 1995, § 42 Rdnr. 26). Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In jedem Stadium des Verfahrens wird das prozessuale Geschehen aufgrund einer -- zumindest vorläufig gebildeten -- Rechtsauffassung des Richters gesteuert. Der Richter muß sich bereits in einem früheren Verfahrensstadium ein vorläufiges Bild vom Sach- und Streitstand machen, um z. B. der Amtsermittlungspflicht (§ 76 FGO) zu genügen und prozeßleitende Anordnungen treffen zu können. Er hat in jedem Stadium des Verfahrens darauf hinzuwirken, daß der Rechtsstreit gütlich beigelegt wird (§ 155 FGO i. V. m. § 279 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Hierbei ist vorauszusetzen, daß die von ihm vorgeschlagene Erledigung inhaltlich seiner Auffassung zur Sach- und Rechtslage zumindest annäherungsweise entspricht. Die Anordnung einer Beweisaufnahme hängt davon ab, ob diese nach Auffassung des Richters zum bisherigen Prozeßstoff erheblich ist (vgl. BFH-Beschluß vom 20. Dezember 1988 III B 103/88, BFH/NV 1989, 591). Aus dem Erlaß eines Beweisbeschlusses können die Beteiligten mithin erkennen, daß sich "die Waage in eine bestimmte Richtung geneigt" hat. Die Streitsache ist mit den Beteiligten zu erörtern (§ 93 Abs. 1 FGO). Zum Zwecke einer sachdienlichen Diskussion im Spruchkörper fertigt der Berichterstatter im Regelfall ein Votum an, in welchem er seine -- vorläufige -- Auffassung zum Sach- und Streitstand darstellt (erkennender Senat in BFHE 177, 344, BStBl II 1995, 604; vgl. auch BFH-Beschluß vom 25. April 1991 IV S 14--21/90, IV S 1/91, BFH/NV 1992, 394, sowie § 78 Abs. 2 FGO).
b) Die Hinweise eines Richters auf seine vorläufige Meinung über den voraussichtlichen Ausgang des Verfahrens liegen im allgemeinen im wohlverstandenen Interesse der Beteiligten. Diesen ist gewöhnlich daran gelegen, die Einstellung des Richters zu den für den Prozeßausgang maßgeblichen rechtlichen Problemen zu erfahren (vgl. BFH-Beschluß vom 30. Juni 1989 VIII B 86/88, BFH/NV 1990, 175). Auf diese Weise erhalten sie Gelegenheit, ihre eigene, von der des Richters abweichende Ansicht näher zu erläutern und dabei zusätzliche entscheidungserhebliche Gesichtspunkte stärker hervorzuheben. Eine verständige Partei wird diesem Verfahren den Vorzug geben vor einer eher passiven richterlichen Prozeßleitung, welche die Beteiligten auf sich allein gestellt läßt. Auch ist zu bedenken, daß gerade der tatsächlich voreingenommene Richter sowohl um ein "äußerlich einwandfreies Verhalten bemüht sein" (vgl. BFH-Beschluß vom 24. August 1989 IV B 59/89, BFH/NV 1990, 308) als auch weniger geneigt sein dürfte, einen Beteiligten auf vermeintliche oder wirkliche Mängel und Lücken in dessen Vortrag hinzuweisen.
c) Eine parteiische vorzeitige Festlegung des Richters kann im Regelfall nicht angenommen werden, wenn der Richter vorsorglich eine Frist für weiteres Vorbringen setzt (vgl. Beschluß in BFH/NV 1995, 526, 528). Eine Bitte um eine Stellungnahme läßt erkennen, daß der Richter Gegenargumenten aufgeschlossen gegenübersteht (Beschluß vom 9. Dezember 1987 III B 40/86, BFH/NV 1988, 251). Die Meinungsäußerung eines Richters gegenüber einer Partei über die Erfolgsaussichten der Klage kann die Besorgnis der Befangenheit erst dann rechtfertigen, wenn zu befürchten ist, daß er sich eine abschließende Meinung gebildet hat und Gegengründen nicht mehr aufgeschlossen gegenübersteht (Beschlüsse in BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555, und in BFH/NV 1988, 251).
d) Zwar muß "erkennbar bleiben, daß der Richter seine Anregung oder Empfehlung vorbehaltlich neuer Erkenntnisse und neuen entscheidungserheblichen Vortrags ausgesprochen hat" (BFH-Beschluß vom 30. Oktober 1987 VIII B 172/86, BFH/NV 1989, 638). Den richterlichen Meinungsbekundungen müssen indes nicht stets und ausnahmslos ausdrückliche salvatorische Klauseln etwa des Inhalts beigefügt werden, es bleibe nicht nur die Entscheidung des Spruchkörpers vorbehalten, sondern auch die eigene Auffassung stehe unter dem Vorbehalt besserer Rechtserkenntnis (vgl. BFH-Beschlüsse vom 1. September 1992 VII B 138/92, BFH/NV 1993, 256; in BFH/NV 1995, 526, 528; vom 28. September 1995 XI B 54/95, BFH/NV 1996, 235). Denn es kommt allein darauf an, ob "bei vernünftiger und objektiver Betrachtung" die endgültige Festlegung auf eine Rechtsmeinung zu befürchten ist.
e) Im vorliegenden Fall ist der Äußerung der Berichterstatterin nicht hinreichend zu entnehmen, daß sie sich verfrüht auf einen den Klägern nachteiligen Rechtsstandpunkt festgelegt hätte. Das ergibt sich schon aus der von ihr gewählten Formulierung, wonach die Rechtsauffassung des FA "zweifelsfrei zutreffen dürfte". Denn diese Wortwahl ist in sich widersprüchlich, jedenfalls nicht eindeutig, weil, was "zutreffen dürfte" nach dem Wortsinn gerade nicht "zweifelsfrei" erscheint. Wer keine Zweifel hegt, hätte statt "zutreffen dürfte" Bezeichnungen wie "ist zutreffend" oder "trifft zu" verwendet. Im Grunde ist die mit dem Befangenheitsgesuch beanstandete Aufforderung lediglich im Ausdruck mißglückt.
f) Allerdings ist im Streitfall nicht zu verkennen, daß die Meinungsäußerung der Berichterstatterin wegen der Verwendung des Wortes "zweifelsfrei" deutlich, pointiert und freimütig ist. Auch dies rechtfertigt jedoch für sich allein nicht die Richterablehnung. Dieser Sprachgebrauch ist weder evident unsachlich noch unangemessen oder gar beleidigend (vgl. Beschluß in BFH/NV 1995, 526, 528).
3. Eine mögliche Rechtsfehlerhaftigkeit der vom Richter geäußerten Auffassung kann nur ausnahmsweise, und zwar dann eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen, wenn sie auf einer unsachlichen Einstellung des Richters gegen die ablehnende Partei oder auf Willkür beruht. Dies hat die Rechtsprechung bei gravierenden Verstößen oder einer Häufung von Verfahrensfehlern angenommen (Beschlüsse vom 29. Oktober 1993 XI B 91/92, BFH/NV 1994, 489; in BFH/NV 1995, 526, 528, m. w. N.).
Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Im übrigen soll das Verfahren der Richterablehnung nicht gegen unrichtige Rechtsauffassungen des Richters schützen; diese sind in der Verhandlung mit Sachargumenten zu bekämpfen -- hierzu hatten die Kläger aufgrund der Verfügung vom 9. Februar 1995 Gelegenheit -- und ggf. im Rechtsmittelverfahren zu korrigieren (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 51 Tz. 40 m. w. N.).
Fundstellen
Haufe-Index 421255 |
BFH/NV 1996, 561 |