Entscheidungsstichwort (Thema)
Akteneinsicht in den Räumen des bevollmächtigten Rechtsanwalts
Leitsatz (NV)
1. Die Beteiligten haben einen Anspruch darauf, die Akten in der Geschäftsstelle des mit der Streitsache befassten Senats einzusehen. Die Entscheidung, die Akten einem Prozessbevollmächtigten zur Akteineinsicht in dessen Geschäftsräume zu überlassen, ist dagegen eine Ermessensentscheidung.
2. Die Ermessensentscheidung hat die gesetzliche Grundentscheidung zu beachten, nach der die Einsichtnahme der Akten bei Gericht die Regel ist. Die Übersendung ist die Ausnahme und daher auf eng begrenzte Sonderfälle zu beschränken. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer durch einen Rechtsanwalt und nicht durch einen Steuerberater vertreten ist, begründet keinen Sonderfall.
Normenkette
FGO § 78 Abs. 1 S. 1; VwGO § 100 Abs. 2 S. 2
Verfahrensgang
Niedersächsisches FG (Beschluss vom 12.10.2005; Aktenzeichen 11 K 261/05) |
Tatbestand
I. Streitig ist, ob Akteneinsicht an Amtsstelle oder in den Büroräumen des Bevollmächtigten des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) zu gewähren ist.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragte mit seiner Klageschrift zugleich Akteneinsicht. Auf Hinweis, dass die Akteneinsicht nur an Amtsstelle erfolgen könne, beantragte er, ihm die Steuerakten für drei Tage in seine Amtsräume zu übersenden. Das Gericht dürfe die anwaltliche Tätigkeit mit der Weigerung, ihm die Akten in sein Büro zu schicken, nicht behindern. Es könne nicht erwartet werden, dass der Prozessbevollmächtigte persönlich die Akten einsehen müsse. Ihm müsse die Möglichkeit gegeben werden, die Akten insgesamt zu kopieren.
Das Finanzgericht (FG) wies mit Beschluss vom 12. Oktober 2005 den Antrag auf Aktenübersendung als unbegründet zurück. Über den Antrag auf Aktenübersendung sei nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden und dabei die gesetzliche Grundentscheidung zu beachten, die Akten regelmäßig beim FG einzusehen. Es sei grundsätzlich zumutbar, sich zur Akteneinsicht in das FG zu begeben. Dies schließe zwar Ausnahmen nicht aus, beschränke sich aber auf eng begrenzte Sonderfälle. Daher müsse die Mitnahme oder Übersendung der Gerichtsakten durch besondere Gründe geboten sein. Es reiche nicht aus, dass die Akteneinsicht außerhalb der Geschäftsräume für ihn zeit- und kostenaufwendiger oder unbequemer sei. Der Prozessbevollmächtigte habe keine Umstände vorgetragen, die einen Ausnahmefall begründen könnten.
Gegen diesen Beschluss wendet sich der Kläger mit Beschwerde. Rechtsanwälte seien der Gruppe der steuerberatenden Berufe nicht gleichzusetzen. Es sei für den Prozessbevollmächtigten nicht vertretbar, die Akteneinsicht außerhalb seiner Geschäftsräume vornehmen zu müssen. Dies sei weder prozessökonomisch noch sachgerecht.
Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung seinem Prozessbevollmächtigten Akteneinsicht durch Überlassen der Gerichtsakten und der Steuerakten für drei Tage in den Büroräumen des Prozessbevollmächtigten zu gewähren.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
1. Die Beteiligten können nach § 78 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstellen auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen lassen. Danach haben die Beteiligten einen Anspruch darauf, die Akten in der Geschäftsstelle des mit der Streitsache befassten Senats einzusehen.
Die Entscheidung, die Akten einem Prozessbevollmächtigten zur Akteneinsicht in dessen Geschäftsräumen zu überlassen, ist dagegen eine Ermessensentscheidung. Dabei sind die für und gegen eine Aktenversendung sprechenden Interessen gegeneinander abzuwägen, also insbesondere die Vermeidung von Aktenverlusten, die Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber Dritten, die jederzeitige Verfügbarkeit der Akten der möglichen Kosten- und Zeitersparnis für den Prozessbevollmächtigten gegenüberzustellen (ständige Rechtsprechung, vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 11. Juni 2002 V B 5/02, BFH/NV 2002, 1464; vom 19. November 2002 V B 166/01, BFH/NV 2003, 484; vom 26. Januar 2006 III B 166/05, BFH/NV 2006, 963, jeweils m.w.N.). Die Abwägung hat dabei allerdings die gesetzliche Grundentscheidung zu beachten. Danach ist die Einsichtnahme der Akten bei Gericht die Regel. Die Übersendung ist die Ausnahme und daher auf eng begrenzte Sonderfälle zu beschränken.
2. Das FG ist in seiner mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung von diesen Grundsätzen ausgegangen und hat dabei die maßgeblichen Ermessenserwägungen angestellt.
Die Erwägung, dass die Steuerakte nur geringen Umfang habe, paginiert sei und daher der Bevollmächtigte die Seiten, die er als Kopie benötige, leicht angeben könnte, ist nicht zu beanstanden. Die vom Bevollmächtigten vorgebrachten Bedenken, dass es ihm nicht zugemutet werden könne, die Akte selbst durchzusehen, hat das FG zu Recht nicht als Ausnahme angesehen, die ausnahmsweise eine Aktenübersendung an den Bevollmächtigten rechtfertigen könne, sondern als eine mit der Akteneinsicht verbundene übliche Unbequemlichkeit. Auch fehlende Kopiermöglichkeiten und sonstige Unbequemlichkeiten, die regelmäßig mit der Akteneinsicht außerhalb der Kanzleiräume verbunden sind, rechtfertigen keine Ausnahme von der Regel, Akteneinsicht grundsätzlich bei dem FG, bei einem anderen Gericht oder einer anderen Behörde zu nehmen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 1. August 2002 VII B 65/02, BFH/NV 2002, 59; vom 12. Januar 2000 VI B 418/98, BFH/NV 2000, 855).
3. Der BFH ist als Beschwerdegericht und Tatsacheninstanz gehalten, eigenes Ermessen auszuüben (vgl. BFH-Beschlüsse vom 15. November 2004 V B 182/04, BFH/NV 2005, 569, und in BFH/NV 2000, 855). Allerdings sieht der Senat im Streitfall keine die Aktenübersendung ausnahmsweise rechtfertigenden Besonderheiten.
a) Der Umstand, dass der Beschwerdeführer durch einen Rechtsanwalt und nicht durch einen Steuerberater vertreten ist, begründet keinen Sonderfall. Denn insoweit bedient er sich eines Bevollmächtigten, der den nach § 3 des Steuerberatungsgesetzes zur unbeschränkten Hilfeleistung in Steuersachen genannten anderen Berufsträgern gleichgestellt ist. Diese Gleichstellung entspricht, worauf schon das FG in seiner Entscheidung hingewiesen hat, auch der Intention des Gesetzgebers. Denn er hat die in § 100 Abs. 2 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung enthaltenen Regelungen ausdrücklich nicht in die FGO übernommen, um eine Bevorzugung der Rechtsanwälte gegenüber den anderen als Bevollmächtigte in Betracht kommenden Berufsträgern auszuschließen (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 963 mit Hinweis auf BTDrucks IV/1446, 53).
b) Auch soweit sich der Beschwerdeführer darauf beruft, dass ihm dasselbe Informationsmaterial wie dem FG und der Finanzverwaltung zur Verfügung stehen müsse, begründet dies keinen Sonderfall. Denn das Informationsmaterial steht ihm unabhängig von dem Ort, an dem es eingesehen oder kopiert wird, zur Verfügung.
c) Der Beschwerdeführer kann schließlich auch nicht mit Erfolg auf die Regelungen in anderen Gerichtszweigen hinweisen. Denn für die Auslegung des § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO geben diese keine zwingenden inhaltlichen Vorgaben, da die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen ist (vgl. BFH in BFH/NV 2006, 963).
Fundstellen
Haufe-Index 1626745 |
BFH/NV 2007, 86 |