Entscheidungsstichwort (Thema)
Fehlen von Entscheidungsgründen bei (teilweisem) Erlöschen des vollstreckbaren Anspruchs durch Tilgung
Leitsatz (NV)
- Es spricht nicht für die für den Bürger wünschenswerte Rechtsklarheit, wenn die seit nunmehr über 20 Jahren suspendierte Streitwertrevision immer noch Bestandteil der einschlägigen Gesetzesvorschrift ist und allein durch den Blick in diese Vorschrift das geltende Recht nicht erkannt werden kann. Ein rechtskundiger Prozessvertreter kann daraus jedoch nichts herleiten.
- Wird im Streit um die Rechtmäßigkeit der Aufforderung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung das (teilweise) Erlöschen des vollstreckbaren Anspruchs durch Tilgung bis zum Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung eingewandt, wird ein selbständiges Verteidigungsmittel geltend gemacht, welches das FG grundsätzlich nicht übergehen darf, will es nicht Gefahr laufen, dass sein Urteil wegen Fehlens der Entscheidungsgründe aufgehoben wird.
- Der Streitwert im Verfahren nach § 284 AO 1977 darf den Höchstbetrag von 1 Mio. DM nicht übersteigen (Bestätigung des BFH-Beschlusses vom 29. Juli 1999 VII E 6/99, BStBl II 1999, 756).
Normenkette
AO 1977 § 284 Abs. 1; BFHEntlG Art. 1 Nr. 5; FGO § 115 Abs. 1, § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nrn. 3, 6; GKG § 25 Abs. 2 S. 1, § 13 Abs. 1 S. 1, § 14 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Mit Amtshilfeersuchen vom … hat die Vollstreckungsstelle des Hauptzollamts B die Vollstreckungsstelle des Beklagten und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt ―HZA―) ersucht, einen rückständigen und vollstreckbaren Betrag in Höhe von über 5 Mio. DM gegen den neben mehreren anderen als Gesamtschuldner in Anspruch genommenen Kläger und Revisionskläger (Kläger) zu vollstrecken. Nach einer fruchtlosen Pfändung ordnete das HZA die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung durch den Kläger an. Nach erfolglosem Vorverfahren erhob der Kläger Klage beim Finanzgericht (FG), mit der er geltend machte, dass der vollstreckbare Titel hätte vorgelegt werden müssen und dass die Höhe der Forderung zweifelhaft sei.
Das FG wies die Klage ab. Es hielt die Aufforderung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung für rechtmäßig, da ihr ein bestandskräftiger Steuerbescheid zugrunde liege, dem Kläger die Aufforderung zur Zahlung sowie der Stand der Restschuld nach Teilzahlung durch Gesamtschuldner mitgeteilt worden sei und Vollstreckungsmaßnahmen nicht zu einer vollständigen Befriedigung des Vollstreckungsgläubigers geführt hätten.
Hiergegen wendet sich der Kläger sowohl mit der vorliegenden Revision als auch mit der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision (Az. VII B 140/99). Er hält die Revision sowohl als Streitwertrevision gemäß § 115 Abs. 1 erste Alt. der Finanzgerichtsordnung (FGO) als auch als zulassungsfreie Verfahrensrevision gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO für zulässig. Er hält den Ausschluss der Streitwertrevision durch Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) bei der nun schon seit 1975 andauernden Übergangszeit für nicht mehr nachvollziehbar, so dass zu Gunsten des rechtsuchenden Bürgers bei zwei sich widersprechenden Vorschriften das Meistbegünstigungsprinzip zur Anwendung kommen müsse. Zudem sei im Streitfall die zulassungsfreie Verfahrensrevision gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6 FGO gegeben. Das FG habe sich in seinem Urteil auf die lakonische Behauptung beschränkt, die Zwangsvollstreckung habe nicht vollständig zum Erfolg geführt, sei aber nicht einmal ansatzweise auf die substantiierten Rügen des Klägers eingegangen, dass mehrere Positionen in der Abrechnung offensichtlich fehlten, insbesondere erhebliche Bargeldbeträge sowie gepfändete und längst versteigerte Gegenstände von erheblichem Wert, nämlich ein Sportflugzeug sowie ein PKW. Für den Kläger sei daher nicht nachvollziehbar, ob er überhaupt noch etwas schulde. Dies stelle nicht nur eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar, sondern das Urteil sei deswegen auch unter grober Verletzung des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO im Wesentlichen nicht begründet. Das FG habe die Höhe der Restforderung nicht im Dunkeln lassen dürfen.
Der Kläger beantragt, das vorinstanzliche Urteil und (sinngemäß) die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen aufzuheben.
Das HZA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Es ist der Ansicht, nach den gesamten Umständen liege kein Fall des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO vor.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig.
1. Gemäß Art. 1 Nr. 5 BFHEntlG findet abweichend von § 115 Abs. 1 FGO die Revision nur statt, wenn das FG oder auf die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision der Bundesfinanzhof (BFH) sie zugelassen hat oder wenn ein Fall der zulassungsfreien Revision gemäß § 116 FGO gegeben ist. Keiner dieser Fälle liegt vor.
a) Das FG hat im Streitfall die Revision nicht zugelassen; die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wurde durch Beschluss des Senats vom heutigen Tage als unbegründet zurückgewiesen. Auf die Möglichkeit der Streitwertrevision, die immer noch im Gesetzestext des § 115 Abs. 1 erste Alt. FGO enthalten ist, obwohl sie seit 1975 durch das BFHEntlG suspendiert ist, kann sich der Kläger nicht berufen. Es ist ihm zwar einzuräumen, dass es nicht gerade für die für den Bürger wünschenswerte Rechtsklarheit spricht, wenn die nunmehr seit über 20 Jahren durch Art. 1 Nr. 5 BFHEntlG suspendierte Streitwertrevision immer noch Bestandteil des Gesetzestextes der finanzgerichtlichen Verfahrensordnung ist, der Bürger also durch einen Blick in das einschlägige Gesetz (FGO) nicht das geltende Recht erkennen kann. Der fachkundig vertretene Kläger kann hieraus jedoch nichts herleiten, denn jedenfalls muss sein rechtskundiger Prozessvertreter ―hier ein Rechtsanwalt― wissen, dass zur Zeit die Streitwertrevision des § 115 Abs. 1 FGO durch Art. 1 Nr. 5 BFHEntlG suspendiert ist. Da ein Rechtsirrtum hierüber nicht entschuldigt (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Dezember 1997 VII R 132/97, BFH/NV 1998, 735, a.E.) und zudem die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils zutreffend ist, führt die vom Kläger angerufene Meistbegünstigungsregel hier nicht weiter.
b) Gründe, die eine zulassungsfreie Revision nach § 116 FGO gerechtfertigt erscheinen lassen, liegen nicht vor.
Zwar hat sich der Kläger auf das Fehlen von Entscheidungsgründen berufen und damit einen wesentlichen Verfahrensmangel nach § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6 FGO geltend gemacht. Verfahrensmängel i.S. des § 116 Abs. 1 FGO sind jedoch nur dann ordnungsgemäß gerügt, wenn die zur Begründung vorgetragenen Tatsachen, ihre Richtigkeit unterstellt, den betreffenden Mangel ergeben, d.h. wenn sie schlüssig vorgetragen sind (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 19. Januar 1993 VII R 121/92, BFH/NV 1994, 40, ständige Rechtspr. des BFH). Das ist vorliegend nicht der Fall.
Die Verfahrensrüge des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO betrifft das Fehlen der rechtlichen Begründung des Urteils. Die Wiedergabe der Entscheidungsgründe (s. § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO) dient der Mitteilung der wesentlichen rechtlichen Erwägungen, die aus der Sicht des Gerichts für die getroffene Entscheidung maßgebend waren. Ein Fehlen von Entscheidungsgründen liegt deshalb nur vor, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung zu überprüfen. Das ist nur dann der Fall, wenn das FG seine Entscheidung überhaupt nicht begründet oder einen eigenständigen Klagegrund oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat, mithin das Urteil bezüglich eines wesentlichen Streitpunktes nicht mit Gründen versehen ist (BFH/NV 1994, 40, m.w.N.).
Der Kläger macht nicht das völlige Fehlen der Urteilsgründe geltend; seinem Vortrag ist aber die Rüge zu entnehmen, dass das FG nicht auf seine in der Klageschrift und den weiteren Schriftsätzen vorgebrachten Einwendungen eingegangen ist, die vollstreckbare Forderung sei durch eine größere Bargeldleistung sowie durch die Verwertung eines PKW und eines Sportflugzeugs in ihrem Bestand derart ungewiss, dass es für ihn, den Kläger, nicht nachvollziehbar sei, ob er überhaupt noch etwas schulde.
Aufgrund dieses Vortrags geht der Senat zugunsten des Klägers davon aus, dass der Kläger das Erlöschen oder teilweise Erlöschen des vollstreckbaren Anspruchs durch Tilgung und damit ein selbständiges Verteidigungsmittel geltend machen will, das, hätte es das FG nicht übergangen, der Klage gegen die Aufforderung des HZA zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung zum Erfolg hätte verhelfen müssen. In der Tat führt die vollständige Befriedigung des Vollstreckungsgläubigers (bis zum Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung) zu einer den Anspruch des hoheitlichen Vollstreckungsgläubigers auf Abgabe der eidesstattlichen Versicherung vernichtenden Einwendung i.S. des § 284 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977); damit handelt es sich um ein selbständiges Verteidigungsmittel i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO. Der Einwand der teilweisen Befriedigung wäre hingegen nur dann in gleicher Weise zu beurteilen, wenn aufgrund der gesamten Umstände der Teiltilgungen das Ermessen des HZA, den Kläger zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung vorzuladen, auf Null reduziert wäre, es also fehlerfrei nur dahingehend ausgeübt werden könnte, dass von einer Vorladung abzusehen sein würde (vgl. zu den Einwendungen gegenüber der Anordnung der Abgabe der eidesstattlichen Versicherung Müller-Eiselt in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 284 AO 1977 Rz. 66).
Der Kläger hat in seiner Revisionsschrift weder das Vorliegen des einen noch das des anderen dieser beiden Verteidigungsmittel schlüssig dargelegt. Es fehlt insbesondere an der Bezifferung der Verwertungserlöse des PKW sowie des Sportflugzeugs und damit letztlich an der schlüssigen Behauptung, die vollstreckbare Forderung des HZA in Höhe von über 5 Mio. DM sei durch den Zufluss des Bargeldbetrags sowie die Verwertungserlöse des PKW und des Sportflugzeugs entweder vollständig getilgt (1. Fall) oder doch wenigstens in einer solch beträchtlichen Höhe getilgt worden (2. Fall), dass die Aufforderung des HZA zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung als rechtswidrig (1. Fall) oder wenigstens zwingend als ermessensfehlerhaft (2.) angesehen werden müsste. Angesichts der beträchtlichen Höhe der der Vorladung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung zugrunde liegenden Forderung des Vollstreckungsgläubigers waren solche Wertangaben unerlässlich. Für den Senat ist es jedenfalls weder glaubhaft noch nachvollziehbar, dass die Verwertung der genannten Beförderungsmittel einen so hohen Erlös eingebracht hätte, dass unter Hinzurechnung des Bargeldbetrags von … DM die zu vollstreckende Forderung entweder vollständig oder doch in einer solchen beträchtlichen Höhe abgedeckt worden sein könnte, dass das HZA von der Aufforderung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung hätte Abstand nehmen müssen. Ferner fehlt es schließlich an der Darlegung des genauen Zeitpunkts der Tilgungen, da der Senat bei der Beurteilung der Ermessensentscheidung nach § 284 Abs. 1 AO 1977 nur solche tatsächlichen Verhältnisse berücksichtigen darf, die bis zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (hier: der Einspruchsentscheidung vom 2. April 1996) eingetreten sind (Senatsurteil vom 26. März 1991 VII R 66/90, BFHE 164, 7, BStBl II 1991, 545). Aus alldem folgt, dass das Vorbringen des Klägers im Klageverfahren, dessen Übergehung durch das FG er rügt, an der vom FG getroffenen Entscheidung der Klageabweisung im Ergebnis nichts hätte ändern können. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Entscheidung des FG i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO (teilweise) nicht mit Gründen versehen war.
Die vom Kläger ferner gerügte Verletzung des rechtlichen Gehörs ist zwar ein absoluter Revisionsgrund (§ 119 Nr. 3 FGO), aber kein Grund für eine zulassungsfreie Revision nach § 116 Abs. 1 FGO (ständige Rechtspr., vgl. Senatsbeschluss vom 6. März 1997 VII R 121/96, BFH/NV 1997, 430). Schließlich begründet die Rüge, die Ladungsfrist des § 91 Abs. 1 Satz 1 FGO von mindestens zwei Wochen sei nicht gewahrt worden ―sollte die Rüge nicht nur zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde, sondern auch im Rahmen der vorliegenden Revision erhoben sein―, keinen schlüssigen Vortrag eines Verfahrensfehlers nach § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO (vgl. BFH-Beschluss vom 21. September 1994 VIII R 80-82/93, BFH/NV 1995, 416).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
3. Der Senat setzt aufgrund des ausdrücklichen Antrags des Klägers den Streitwert auf 1 000 000 DM fest (§ 25 Abs. 2 Satz 1 zweiter Halbsatz, § 13 Abs. 1 Satz 1, § 14 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes). Zur Begründung bezieht er sich auf seinen Beschluss vom 29. Juli 1999 VII E 6/99 (BStBl II 1999, 756), durch den er seine bisherige Rechtsprechung, wonach der Streitwert im Verfahren nach § 284 AO 1977 im Regelfall auf 50 % der rückständigen Steuerbeträge, aus denen vollstreckt wird, zu bemessen ist, dahingehend eingeschränkt hat, dass der Streitwert den Höchstbetrag von 1 000 000 DM nicht übersteigen dar. Diese Einschränkung greift im Streitfall.
Fundstellen
Haufe-Index 424854 |
BFH/NV 2000, 591 |