Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung offenkundiger oder gerichtsbekannter Tatsachen
Leitsatz (NV)
1. Gerichtskundig ist eine Tatsache nur, wenn zumindest die Mehrheit des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers sie aus der gegenwärtigen oder auch aus der früheren Tätigkeit sicher kennt und sich nicht erst durch Beiziehen von Akten oder die Einholung von Auskünften u.a. kundig machen muss.
2. Beantragt ein Beteiligter die Anhörung eines Zeugen unter Hinweis darauf, der gleiche Sachverhalt sei - weil im gesamten Bundesgebiet verbreitet - bereits Gegenstand mehrerer genau bezeichneter FG- und BFH-Entscheidungen gewesen, die das Vorliegen eines entscheidungserheblichen Tatbestandsmerkmals einhellig bejaht haben, muss er nicht damit rechnen, dass das FG ohne weitere substantiierte Tatsachenfeststellung von einer gegenteiligen Sachverhaltswürdigung ausgehen werde.
Normenkette
FGO § 76 Abs. 1, § 81 Abs. 1 S. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
Niedersächsisches FG (Urteil vom 27.11.2003; Aktenzeichen 5 K 55/98) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) war bis Mitte Juli 1993 als Arbeitnehmer nichtselbständig tätig. Danach wurde er arbeitslos. Ab August 1993 beteiligte er sich an dem "Unternehmensspiel Life". Der Veranstalter, X, bot als Spielleiter die Mitgliedschaft in der Spielgemeinschaft gegen Zahlung eines "Mitgliedsbeitrags" von … DM an. Die Mitglieder waren berechtigt, weitere Mitglieder zu werben. An den Beiträgen der von ihnen geworbenen Mitglieder waren sie beteiligt. Außerdem bekam der Werbende einen Anteil von den Beiträgen der geworbenen Mitglieder, die zu seinem "Stamm" gehörten. Dies waren alle neuen Mitglieder, deren Mitgliedschaft auf das (Vor-)Mitglied zurückgeführt werden konnte. Der Veranstalter unterstützte die Anwerbungen durch seine Organisation. Es fanden Informationsveranstaltungen statt, bei denen das System vorgestellt und versucht wurde, die Anwesenden für eine Teilnahme zu gewinnen. Die Veranstaltungen wurden zunächst von X, dann auch von anderen Mitarbeitern geleitet. Zwischen X und den Mitarbeitern wurden Mitarbeiterverträge geschlossen, in denen die einzelnen vertraglichen Verpflichtungen niedergelegt waren. Soweit X die Veranstaltungen nicht selbst leitete, gab er Inhalt und äußeren Verlauf dieser Veranstaltungen in allen Einzelheiten vor. Um die Einheitlichkeit der Werbeveranstaltungen sicherzustellen, führte er Schulungsveranstaltungen für Mitglieder durch, in denen Strategien für eine Werbung weiterer Mitglieder vorgestellt und trainiert wurden.
Der Kläger erhielt aufgrund der ihm unmittelbar und mittelbar zuzurechnenden Werbung neuer Mitglieder in den Streitjahren Provisionen in Höhe von 37 957 DM (1993) und 8 508 DM (1994).
Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) beurteilte die Provisionen als umsatzsteuerpflichtige Entgelte und unterwarf die Nettobeträge in den Umsatzsteuerbescheiden für 1993 und 1994 der Umsatzsteuer. Hiergegen wandte sich der Kläger nach erfolglosem Einspruch mit der Klage.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab; es vertrat die Auffassung, der Kläger sei nach dem Gesamtbild der Verhältnisse nicht Unternehmer, weil er die neuen Mitglieder ausschließlich unter den von X vorgegebenen Bedingungen werben konnte und diese nur in dem von X vorgegebenen Rahmen zu dem Spiel aufgenommen werden konnten. Die Weisungsbefugnis des X sei von solchem Gewicht, dass die für eine selbständige Tätigkeit sprechenden Umstände wie erfolgsabhängige Bezahlung, fehlende Regelung über Arbeitszeit, Krankheitsfälle und Urlaubszeit von untergeordneter Bedeutung seien. Dem Beweisantrag des FA, X zu vernehmen, sei nicht nachzukommen, weil "es sich bei der Form der Einbindung der Teilnehmer an dem Unternehmensspiel 'Life' um eine gerichtsbekannte Tatsache handelt, die dem Senat aus dem Klageverfahren X bekannt" sei. Das FG hat die Revision nicht zugelassen.
Hiergegen richtet sich die auf § 115 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gestützte Beschwerde des FA. Als Verfahrensfehler rügt das FA, es habe die Vernehmung des X als Zeugen zur Frage der Selbständigkeit beantragt unter Hinweis auf das genau bezeichnete Urteil des Amtsgerichts Z in einem Steuerstrafverfahren gegen einen Mitarbeiter, wonach X als Zeuge ausgesagt habe, die Mitarbeiter seien zwar weisungsgebunden, aber im Übrigen absolut selbständig und eigenverantwortlich gewesen. Das FG habe dessen Anhörung deswegen nicht für erforderlich gehalten, weil es sich "bei der Form der Einbindung der Teilnehmer an dem Unternehmensspiel 'Life' um eine gerichtsbekannte Tatsache handele, die dem Senat aus dem Klageverfahren X bekannt" sei. In den allein in Frage kommenden Verfahren des X XV 420/94 und XV 522/94 (Urteile vom 13. Juli 1999) und 5 K 370/95 (Urteil vom 27. Januar 2000) seien nur zwei der im vorliegenden Rechtsstreit erkennenden fünf Richter beteiligt gewesen. Des Weiteren habe der Bundesfinanzhof (BFH) --ebenso wie verschiedene FG-- zum identischen Unternehmensspiel "Life" in mehreren Entscheidungen die Tätigkeit der werbenden Mitspieler als selbständige Tätigkeit beurteilt. Insoweit sei auch die Zulassung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zur Rechtsfortbildung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich.
Entscheidungsgründe
II. 1. Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 116 Abs. 6 FGO). Der geltend gemachte erhebliche Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) der mangelhaften Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 FGO) liegt vor.
a) Das FG hat gemäß § 76 Abs. 1 FGO den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und dabei die erforderlichen Beweise (§ 81 Abs. 1 Satz 2 FGO) zu erheben. Ein ordnungsgemäß gestellter Beweisantrag darf nur unberücksichtigt bleiben, wenn das angebotene Beweismittel für die zu treffende Entscheidung untauglich ist, wenn es auf die Beweistatsache --nach Auffassung des FG-- nicht ankommt oder wenn die Beweistatsache als wahr unterstellt wird (BFH-Urteile vom 15. Mai 1996 X R 252-253/93, BFH/NV 1996, 906; vom 13. März 1996 II R 39/94, BFH/NV 1996, 757).
b) Das FG hat den nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Beweisantrag zu Inhalt und Umfang der Weisungsgebundenheit des Klägers gegenüber X zu Unrecht mit der Begründung abgelehnt, der Sachverhalt sei insoweit "aus dem Klageverfahren des X gerichtsbekannt".
Gerichtskundig ist eine Tatsache nur, wenn zumindest die Mehrheit des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers sie aus der gegenwärtigen oder auch aus der früheren Tätigkeit sicher kennt und sich nicht erst durch Beiziehen von Akten oder die Einholung von Auskünften u.a. kundig machen muss (BFH-Beschluss vom 6. April 1995 VIII B 61/94, BFH/NV 1996, 137, m.w.N.). Das ist --wie das FA zutreffend dargelegt hat-- nicht der Fall.
c) Das FA musste nicht damit rechnen, dass das FG ohne Anhörung des benannten Zeugen den Kläger als Arbeitnehmer beurteilen werde, denn das Unternehmensspiel "Life" war über das ganze Bundesgebiet verbreitet und Gegenstand mehrerer BFH-Entscheidungen, von Entscheidungen verschiedener FG sowie Entscheidungen von Amts- und Landgerichten in Steuerstrafverfahren gegen Mitspieler, in denen die Selbständigkeit der Mitspieler entweder nicht in Frage gestellt (z.B. BFH-Beschlüsse vom 28. Juni 1996 X B 15/96, BFH/NV 1996, 743; vom 14. Mai 1997 XI B 145/96, BFH/NV 1997, 658) oder ausdrücklich bejaht worden war (z.B. FG Münster, Urteil vom 19. Juni 1997 5 K 405/97 U, und Beschluss vom 18. September 1995 5 V 3118/95 U, Entscheidungen der Finanzgerichte 1996, 507); auf diese Entscheidungen und deren Inhalt sowie weiter darauf, dass X als Zeuge in einem Steuerstrafverfahren gegen einen Mitarbeiter die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter bestätigt habe, hatte das FA im Schriftsatz vom 16. August 2000 ausdrücklich hingewiesen und zunächst vorsorglich, dann nochmals ausdrücklich mit Schriftsatz vom 31. Mai 2001 die Vernehmung des X beantragt für den Fall, dass das FG dennoch insoweit Zweifel habe. Es hat des Weiteren unter Hinweis auf den BFH-Beschluss vom 1. Februar 2001 V B 199/00 (BFHE 194, 23, BStBl II 2001, 418) die Beiladung des Spielleiters X beantragt. Unter diesen Umständen musste das FA nicht damit rechnen, dass das FG ohne weitere substantiierte Tatsachenfeststellungen durch Anhörung des benannten Zeugen davon ausgehen werde, der Kläger sei Arbeitnehmer des X.
2. Die Aufhebung des FG-Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung beruht auf § 116 Abs. 6 FGO.
Fundstellen