Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufforderung des BMF zum Beitritt: Verfassungsmäßigkeit der Verpflichtung des Arbeitgebers zur Auszahlung des Kindergeldes der Arbeitnehmer
Leitsatz (redaktionell)
Der Senat regt an, daß das BMF dem Revisionsverfahren beitritt (§ 122 Abs. 2 Satz 3 FGO) und zu den angesprochenen oder sonstigen Fragen zur Rechtmäßigkeit der Kindergeldauszahlung durch die Arbeitgeber, die nach Meinung des BMF erheblich sind, Stellung nimmt. (Vgl. Beschlüsse des BFH vom 22.03.1999 VI R 43/97 und VI R 53/97 wegen Erledigung der Hauptsache nach Gesetzesänderung wegen Auszahlung des Kindergeldes durch das Steuerentlastungsgesetz 1999 vom 19.12.1998 (BGBl I S 3779).
Normenkette
EStG 1996 § 73; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1; FGO § 122 Abs. 2 S. 3
Tatbestand
I.
1. Sachverhalt
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) beschäftigt etwa 300 Arbeitnehmer. Sie beantragte beim zuständigen Arbeitsamt - Familienkasse -, von der durch § 73 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1996 eingeführten Pflicht zur Auszahlung des Kindergeldes für ihre Arbeitnehmer befreit zu werden. Der Antrag wurde mit der Begründung zurückgewiesen, daß die Voraussetzungen des § 3 der Kindergeldauszahlungs-Verordnung (KAV) nicht erfüllt seien, da mehr als 50 Arbeitnehmer auf Dauer beschäftigt würden.
Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage brachte die Klägerin vor, die Auszahlungsverpflichtung gemäß § 73 EStG sei verfassungswidrig. Ihre Grundrechte auf freie Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes ―GG―) und auf Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) sowie der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) seien verletzt. Die Neuregelung habe bei ihr zu erheblichen Mehrkosten geführt. Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hielt § 73 EStG für verfassungsgemäß. Es führte im wesentlichen aus, die Inanspruchnahme des Arbeitgebers durch den Staat bei der Auszahlung des Kindergeldes sei ―als Regelung der Berufsausübung― durch hinreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt. Das Eigentumsrecht der Arbeitgeber werde dabei nicht verletzt. Die Auszahlungspflicht belaste die Klägerin nicht übermäßig und unzumutbar. Es liege auch kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz vor.
Ihre Revision gegen das klageabweisende Urteil begründet die Klägerin damit, § 73 EStG sei wegen Verletzung der Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig und entfalte damit keine rechtliche Wirkung. Der Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit sei nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Für eine den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) entsprechende Ausgestaltung des Familienleistungsausgleichs sei die Auszahlungsverpflichtung der Arbeitgeber nicht erforderlich. Geeignet wäre die Auszahlung des Kindergeldes durch die Kindergeldkassen wie bisher oder die Auszahlung durch die Finanzämter. Die Arbeitgeber würden in erheblichem Maße finanziell belastet, ohne Entschädigungsleistungen zu erhalten. Dies stelle einen nicht gerechtfertigten Grundrechtseingriff dar. Die Arbeitgeber wiesen keine spezifische Beziehung (Sachnähe) zur Aufgabe der Kindergeldauszahlung auf.
Entscheidungsgründe
II.
2. Rechtsfragen
Die Entscheidung über das Klagebegehren ―festzustellen, daß keine Pflicht zur Auszahlung des Kindergeldes bestehe― ist davon abhängig, ob die Vorschrift des § 73 EStG mit dem GG vereinbar ist. Trifft dies zu, hat das FG die Klage zu Recht abgewiesen und die Revision ist unbegründet. Kommt der Senat zu dem entgegengesetzten Ergebnis, hat er nach Art. 100 Abs. 1 GG die Entscheidung des BVerfG einzuholen. Die Vorentscheidung hält ―ebenso wie das FG Rheinland-Pfalz in dem rechtskräftigen Urteil vom 31. Juli 1997 1 K 1686/96 (Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 1997, 367)― § 73 EStG für verfassungsgemäß. Demgegenüber werden im Schrifttum Bedenken gegen die Vereinbarkeit Vorschrift mit dem GG geäußert, z.B. von Kanzler (Finanz-Rundschau ―FR― 1996, 473), Depenheuer (Betriebs-Berater ―BB― 1996, 1218) und Pelka/Balmes (Deutsches Steuerrecht ―DStR― 1997, 1309). Dabei wird insbesondere argumentiert, daß die gegenwärtige Regelung mangels Sachnähe der Arbeitgeber zum Kindergeld ihrer Arbeitnehmer ungeeignet und im übrigen wegen anderer Lösungsmöglichkeiten nicht erforderlich sei. § 73 EStG enthalte eine unzulässige Regelung zur Berufsausübung und erfordere deshalb eine Entschädigung der Arbeitgeber.
Neben den in der Rechtsprechung der FG und im Schrifttum bereits erörterten verfassungsrechtlichen Problemen stellen sich dem Senat folgende Fragen, die bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des § 73 EStG von Bedeutung sein könnten:
a) Sind aus dem Umstand, daß "weit über eine Million der insgesamt 1,8 Millionen privaten Arbeitgeber in Deutschland" sich von der Pflicht zur Auszahlung des Kindergeldes haben befreien lassen (Mitteilung des Bayerischen Finanzministeriums, s. Handelsblatt vom 21. Januar 1998 S. 3), Anhaltspunkte dafür herzuleiten, daß § 73 EStG i.V.m. § 3 KAV mit dem allgemeine Gleichheitssatz nicht in Einklang steht?
b) Die als Reaktion auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfolgte Änderung des § 361 Abs. 2 Satz 4 der Abgabenordnung (AO 1977), § 69 Abs. 2 Satz 8 der Finanzgerichtsordnung ―FGO― (keine vorläufige Erstattung von Vorauszahlungen und Abzugsbeträgen aufgrund einer Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung von Steuerbescheiden) wurde insbesondere damit begründet, daß anderenfalls die zusätzliche Arbeitsbelastung bei den Finanzämtern einen Personalmehrbedarf von etwa 500 Arbeitskräften erfordere (BTDrucks 13/5952 S. 57). Wie ist vor diesem Hintergrund die Belastung der privaten Arbeitgeber durch die entschädigungslose Pflicht zur Auszahlung des Kindergeldes zu rechtfertigen? Wurden im Zusammenhang mit der Einführung des § 73 EStG oder mit neuesten Gesetzesinitiative Untersuchungen über die Belastung der Arbeitgeber angestellt?
c) Ist von seiten des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) beabsichtigt, die derzeitige Regelung auf Dauer beizubehalten? Gibt es Gründe, die dafür sprechen, die Inanspruchnahme des privaten Arbeitgebers jedenfalls für eine Übergangszeit als verfassungskonform anzusehen
d) Nach der Rechtsprechung verstößt zwar die sich aus §§ 38 ff. EStG ergebende Pflicht des Arbeitgebers zur Durchführung des Lohnsteuerabzugs nicht gegen Verfassungsrecht (BFH, Urteil vom 5. Juli 1963 VI 270/62 U, BFHE 77, 408, BStBl III 1963, 468; BVerfG Beschlüsse vom 18. Dezember 1963 1 BvR 514/63, Der Betrieb 1964, 204; vom 17. Februar 1977 1 BvR 33/76, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1977, 296). Auch im Hinblick auf grundsätzliche Kritik an der Indienstnahme des Arbeitgebers (vgl z.B. Trzaskalik, in: Friauf (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, VDStJG Bd. 12 S. 157; Hendel, Die Belastung der Arbeitgeber durch die Lohnsteuer, IFSt-Schrift Nr. 359) stellt sich indessen die Frage, ob jedenfalls die zusätzliche Belastung der Arbeitgeber mit den Leistungspflichten bei der Auszahlung des Kindergeldes noch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu vereinbaren ist. Diese Frage kann sich insbesondere vor dem Hintergrund stellen, daß die Familienkassen die Kindergeldbescheinigungen auszustellen haben und eine zusätzliche Auszahlung des Kindergeldes durch die Familienkasse keinen erheblichen Verwaltungsaufwand erfordern dürfte.
3. Beitritt des BMF
Der Senat regt an, daß das BMF dem Revisionsverfahren beitritt (§ 122 Abs. 2 Satz 3 FGO) und zu den angesprochenen oder sonstigen Fragen, die nach Meinung des BMF erheblich sind, Stellung nimmt.
Fundstellen