Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung der Vollziehung von Grundsteuermeßbescheiden
Leitsatz (NV)
Es ist ernstlich zweifelhaft, ob die Befreiungsvorschrift des § 4 Nr. 6 Satz 2 GrStG voraussetzt, daß der Benutzer des Grundbesitzes und derjenige, dem der Grundbesitz zuzurechnen ist, personengleich sind.
Normenkette
GrStG § 4 Nr. 6 S. 2; FGO § 69 Abs. 3 S. 1, Abs. 2 S. 2
Tatbestand
Der Kläger, Revisionskläger und Antragsteller (Antragsteller) - ein Arzt - war Eigentümer von 34 im Gebiet der Gemeinde G (Baden-Württemberg) liegenden Grundstücken. Die Grundstücke benutzte er zum Betrieb einer Privatkrankenanstalt, für die ihm eine Konzession nach § 30 der Gewerbeordnung (GewO) erteilt worden war. Die Privatkrankenanstalt erfüllte - wie der Antragsteller unwidersprochen vorgetragen hat - die Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 und 3 der inzwischen außer Kraft getretenen Gemeinnützigkeitsverordnung (vgl. jetzt § 67 der Abgabenordnung - AO 1977 -). Im Jahre 1961 beteiligte er seine Ehefrau und seine drei Töchter, als ,,atypische stille Gesellschafter" am Vermögen sowie am Gewinn und Verlust des Unternehmens. Die Führung der Geschäfte stand weiterhin ausschließlich ihm zu. Im Jahre 1984 brachte er die erwähnten Grundstücke in eine von ihm, seiner Ehefrau und seinen drei Töchtern gegründete Kommanditgesellschaft ein.
Der Beklagte, Revisionsbeklagte und Antragsgegner (das Finanzamt - FA -), hielt die Grundstücke nicht für steuerfrei gemäß § 4 Nr. 6 des Grundsteuergesetzes (GrStG) i. d. F. vom 7. August 1973, weil ,,die im Gesetzestext zum Ausdruck kommende und als Voraussetzung für die Gewährung der Befreiung verlangte Personengleichheit zwischen Benutzer und demjenigen, dem der Grundbesitz zuzurechnen ist, . . . nicht gegeben" sei: Benutzt würden die Grundstücke von der atypischen stillen Gesellschaft; zuzurechnen dagegen seien sie allein dem Antragsteller. Er stellte durch Bescheide vom 4. Dezember 1979 die Einheitswerte für 33 Grundstücke auf den 1. Januar 1974 und durch Bescheid vom 3. Juli 1980 den Einheitswert für das 34. Grundstück auf den 1. Januar 1975 fest.
Mit seiner (nach erfolglos gebliebenem Vorverfahren erhobenen) Klage hat der Antragsteller begehrt, die Einspruchsentscheidung, die Einheitswertbescheide und die Grundsteuermeßbescheide aufzuheben. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Sein Urteil ist auszugsweise abgedruckt in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1984, 567 Nr. 607.
Der Antragsteller hat Revision eingelegt und gleichzeitig beantragt, die Vollziehung der 34 Grundsteuermeßbescheide bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Revision ohne Sicherheitsleistung auszusetzen. An deren Rechtmäßigkeit bestünden aus folgenden Gründen ernstliche Zweifel:
Der Satz 2 der Befreiungsvorschrift fordere weder nach seinem Wortlaut noch nach seinem Sinn und Zweck und seinem Bedeutungszusammenhang eine volle Personenidentität zwischen Grundstücksbenutzer und Grundstückseigentümer. Aber selbst wenn man annähme, daß ,,§ 4 Nr. 6 Satz 2 GrStG auf die volle Personenidentität abstellte, wäre die Grundsteuerbefreiung dennoch nicht zu versagen". Denn das GrStG stelle nicht auf die formelle Trägerschaft ab, sondern auf die wirtschaftliche Nutzung. Bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise ergebe sich, ,,daß sich das wirtschaftliche Eigentum an den Klinik-Grundstücken nicht auf den Kläger allein, sondern auf die Innengesellschaft" erstrecke. Die Rechtsfrage, wie § 4 Nr. 6 Satz 2 GrStG auszulegen sei, sei höchstrichterlich noch nicht entschieden worden. Im Schrifttum werde die Auffassung des FA und die des FG entweder abgelehnt oder begegne erheblichen Bedenken: Kühr, Die neue Grundsteuer, 1973, § 4 Rdnr. 7 b; Nolte, Kommentar zur Grundsteuer, Stand Juni 1980, § 4 Anm. 13; Troll, Kommentar zum Grundsteuergesetz, 4. Aufl., 1979, § 4 Rdnr. 18).
Das FA beantragt, den Antrag abzulehnen.
Entscheidungsgründe
Der Antrag ist begründet.
An der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Grundsteuermeßbescheide bestehen ernstliche Zweifel in dem Sinne, daß bei ihrer überschlägigen Prüfung im Aussetzungsverfahren neben für ihre Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen ihre Rechtmäßigkeit sprechende Umstände zutage treten, welche Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (vgl. § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO - in der Auslegung, welche diese Vorschrift in der ständigen Rechtsprechung des BFH gefunden hat; vgl. Beschluß vom 4. April 1979 II B 48/78, BFHE 127, 235, 236, BStBl II 1979, 344).
Für die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide spricht, daß nach dem bisher erkennbaren Sachverhalt
- an dem Vermögen sowie am Gewinn und Verlust des Unternehmens die Ehefrau des Antragstellers und seine drei Töchter als ,,atypische stille Gesellschafter" beteiligt waren und der Antragsteller ,,zur Vornahme von Handlungen, die über den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb" hinausgingen, ,,im Innenverhältnis der vorherigen Zustimmung der stillen Gesellschafterin" bedurfte,
- ab dem 1. Januar 1974 der Grundbesitz ,,ausschließlich" demjenigen, der ihn benutzt, zuzurechnen sein muß,
- im Schrifttum die Auffassung vertreten wird, es sei durch Einfügen des Wortes ,,ausschließlich" in § 4 Nr. 6 letzter Satz GrStG eine Verschärfung gegenüber der bisher geltenden Rechtslage (§ 4 Nr. 8 GrStG i. d. F. vom 10. August 1951, § 16 der Grundsteuer-Durchführungsverordnung - GrStDV - i. d. F. vom 29. Januar 1952) eingetreten mit der Folge, daß zwischen Benutzer und Eigentümer nunmehr ,,volle Personenidentität bestehen" müsse (Ostendorf, Grundsteuer, 2. Aufl., 1976, S. 47).
Gegen die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide spricht,
- daß der Grundsatz, Eigentümer und Benutzer des Grundstücks müßten völlig gleich sein, bei Beteiligungen mehrerer Personen zu Unbilligkeiten führen kann, die nicht i. S. des GrStG liegen, und daß aus diesem Grunde der Reichsfinanzhof (RFH) es für ausreichend erachtet hat, ,,wenn die Personengleichheit mindestens für den überwiegenden Anteil am Grundstück gegeben ist", z. B., ,,wenn ein Arzt, dem ein Grundstück allein gehört, an der darauf von ihm betriebenen Krankenanstalt einen anderen Arzt zu 40 v. H. beteiligt" (Urteil vom 5. März 1942 III 151/40, RFHE 51, 263, 265, RStBl 1942, 471, ergangen zu § 4 Nr. 8 GrStG 1936),
- daß der BFH sich der erwähnten Rechtsprechung des RFH angeschlossen hat (BFH-Urteil vom 13. März 1959 III 182/58 S, BFHE 68, 578, 581, BStBl II 1959, 220, ergangen zu § 4 Nr. 7 GrStG),
- daß die von RFH und BFH vertretene Rechtsauffassung auch im Schrifttum Zustimmung gefunden hat, z. B. durch Scholz (Grundsteuergesetz, Kommentar, 2. Aufl., 1954, § 4 Anm. 98); Nolte (a.a.O., § 4 Nr. 6 Anm. 13); Kühr, Die neue Grundsteuer GrStG 1974, § 4 Anm. 7 b (3),
- daß der Begründung zum Entwurf eines Zweiten Steuerreformgesetzes (BTDrucks VI/3418) zwar die Absicht des Gesetzgebers zu entnehmen ist, die Vorschriften der GrStDV i. d. F. vom 29. Januar 1952 (BGBl I, 79) in das neue GrStG einzuarbeiten (a.a.O. S. 77), nicht aber ein Grund für eine etwa beabsichtigte Einengung der Befreiungsvorschrift (vgl. a.a.O., S. 81, linke Spalte).
Fundstellen
Haufe-Index 413826 |
BFH/NV 1986, 238 |